Wenn der Traumberuf zum Albtraum wird

Warum man für die Schauspielerei große Nehmerqualitäten mitbringen muss

Tilmann P. Gangloff

Tilmann P. Gangloff ist freiberuflicher Medienfachjournalist.

Die Ausbildung ist beendet, der Traum zum Greifen nah, und dann heißt es warten – auf eine Chance, die womöglich nie kommt. Es gibt rund 26.000 Schauspielerinnen und Schauspieler in Deutschland; nicht mal jede/-r Zehnte kann von dem Beruf leben. Trotzdem werden es von Jahr zu Jahr mehr, weil der Berufseinstieg längst nicht mehr nur über eine Schauspielschule erfolgt. Selbst eine klassische Ausbildung ist jedoch keine Garantie für Arbeit.

Online seit 02.12.2020: https://mediendiskurs.online/beitrag/wenn-der-traumberuf-zum-albtraum-wird/

 

 

 

Hans-Werner Meyer, Hauptdarsteller der ZDF-Serie Letzte Spur Berlin, ist Vorstandsmitglied beim Bundesverband Schauspiel (BBFS) und kritisiert seit Jahren, dass seine Kolleginnen und Kollegen regelmäßig durchs soziale Netz fielen, denn die wenigsten könnten einen Anspruch auf Arbeitslosengeld erwirtschaften. Der Hintergrund ist kompliziert: Weil Schauspielende bei Kino- oder Fernsehproduktionen oft nur tageweise engagiert werden, gelten sie als „unständig Beschäftigte“ und haben daher keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Der BFFS habe zwar erreicht, „dass kurz befristet beschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer anders behandelt werden als unbefristet beschäftigte, aber der Gesetzgeber hat umgehend neue Hürden eingebaut, um zu verhindern, dass die Bedingungen für das Arbeitslosengeld I erfüllt werden.“

Meyer kennt viele Kolleginnen und Kollegen, „auch erfolgreiche“, die sich mit Zweitjobs über Wasser hielten, um nicht in Hartz IV abzurutschen. Zusätzlich zu den Lebenshaltungskosten hätten Schauspieler weitere ständige Ausgaben: „Man muss regelmäßig Fotos und Videos anfertigen lassen, denn im Gegensatz zum normalen Arbeitnehmer muss man sich als Schauspieler permanent bewerben. Die Kosten für die Anreise zum Casting werden auch nicht mehr erstattet.“ An Altersvorsorge sei unter solchen Umständen kaum zu denken:

Die staatliche Rente ist selbst bei vielbeschäftigten Film- und Fernsehschauspielern wegen der befristeten Beschäftigungen sehr niedrig. Wer im Alter halbwegs gut leben möchte, muss privat vorsorgen.“

Das wiederum sei vielen während des ersten Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020, als sämtliche Dreharbeiten für mehrere Wochen unterbrochen wurden, zum Verhängnis geworden: „Schauspieler ohne Festanstellung konnten eine vereinfachte Grundsicherung beantragen, aber die wird nur gewährt, wenn kein ‚erhebliches Vermögen’ vorhanden ist.“ Der Richtwert beträgt 60.000 Euro.
 

„Können Sie schreiben?“

Kein Wunder, dass Oliver Wnuk jungen Schauspielerinnen und Schauspielern rät, unbedingt noch nach anderen künstlerischen Talenten zu schürfen: „Können Sie schreiben, malen oder Musik machen? Das ist zwar im Zweifelsfall ebenfalls alles brotlos, wie mein Vater zu sagen pflegte, aber man kann ja auch von mehreren kleinen Brötchen satt werden.“ Der spätestens durch die ProSieben-Serie Stromberg bekannt gewordene Schauspieler gehört dank regelmäßiger Hauptrollen unter anderem in der ZDF-Krimireihe Nord Nord Mord seit zwei Jahrzehnten zu den eingangs erwähnten glücklichen zehn Prozent. Trotzdem hat auch er nach anderen Talenten gesucht. Bei ihm ist es vor allem das Schreiben: Nach zwei Romanen sowie mehreren Hörspielen und Bühnenstücken ist mittlerweile auch sein erstes Drehbuch verfilmt worden (Das Leben ist kein Kindergarten, ARD).

Einen zweiten Rat für Berufsanfängerinnen und ‑anfänger hat er gleichfalls selbst beherzigt:

Junge Schauspieler sollten von Anfang an sparen. Daran denkt man mit Anfang oder Mitte zwanzig noch nicht, aber es ist ganz wichtig, sich einen finanziellen Schutz zu schaffen.“

In der Praxis heiße das: „Ausrechnen, was man mindestens im Monat braucht, und diese Summe mal zwölf nehmen. Diesen Betrag sollte man immer verfügbar haben, aber nur im absoluten Notfall nutzen. Wenn man sich den angespart hat, lebt es sich wesentlich freier.“

Bleibt der Notgroschen unangetastet, kann er als zusätzliche Altersvorsorge dienen; kaum ein Berufsstand ist so sehr von Altersarmut bedroht. Schauspielende können zwar theoretisch bis zum letzten Atemzug vor der Kamera stehen, aber es gibt viel mehr Rollen für Jüngere; das gilt vor allem für Schauspielerinnen. Deshalb empfiehlt Meyer dringend, so früh wie möglich Mitglied der Pensionskasse des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu werden („ein sehr gutes Alterssicherungsinstrument“). Arbeitnehmer/-innen und Arbeitgeber/-innen zahlen pro Engagement einen bestimmten Prozentsatz der Gage ein; vorausgesetzt, der Sender oder die Produktionsfirma sind ebenfalls Mitglied der Pensionskasse.

Für viele Berufsanfänger/-innen sind solche Gedanken allerdings erst mal zweitrangig; sie wollen vor allem spielen und fragen sich, wie sie an Rollen kommen. Nützliche Tipps finden sich in einem Buch mit dem treffenden Titel Überleben im Darsteller-Dschungel (Schüren-Verlag). Autor Mathias Kopetzki ist seit zwanzig Jahren Schauspieler und weiß daher, wovon er schreibt. Sein Ratgeber besteht unter anderem aus einigen Dutzend Interviews, die er mit Vertreterinnen und Vertretern aller möglichen Filmsparten geführt hat. Zu Wort kommt auch ein Mitarbeiter der Künstlervermittlung der Agentur für Arbeit, der jungen Schauspielerinnen und Schauspielern ähnlich wie Wnuk zu einem Plan B rät. Er denkt dabei an „artverwandte Berufsfelder“, etwa die Computerspielbranche, die dauernd Darsteller für ihre anschließend digitalisierten Spielfiguren sucht.
 

Braucht man eine Agentur?

Kopetzki befasst sich unter anderem mit der Frage, ob Schauspielende eine Agentur brauchen. Agentinnen und Agenten sorgen dafür, dass man Rollen bekommt; im besten Fall solche, die die Schauspielenden fordern und fördern. Wnuk berichtet von einem ständigen Streitpunkt zwischen ihm und seiner Agentin Andrea Lambsdorff, die ihn seit über zwanzig Jahren vertritt. Sie lege großen Wert auf Inhalt und Anspruch „und fragt sich bei einem Projekt als Erstes, ob es mich künstlerisch weiterbringt. Das ist mir natürlich ebenfalls sehr wichtig. Ich sehe mich aber auch als kreativen Unternehmer, denn ich muss von meinem Beruf leben. Ich kann nicht einen Low-Budget-Film nach dem anderen drehen, selbst wenn die künstlerische Herausforderung vielleicht größer ist als bei manch einer TV-Produktion. Ich stelle mich gern für Projekte zur Verfügung, die großen Aufwand erfordern und wenig Ertrag bringen, aber anschließend muss ich natürlich auch wieder was arbeiten, was mir den Lebensunterhalt sichert.“

Wnuk betrachtet das als „gesunde Mischkalkulation: Das Verhältnis muss stimmen.“ Deshalb findet er es nicht verkehrt, wenn man sich schon früh einen Business-Plan aufstellt, selbst wenn er einräumt, dass der Begriff im Zusammenhang mit einem künstlerischen Beruf deplatziert wirke: „Was möchte ich sein, wo möchte ich arbeiten, wofür möchte ich stehen, wie soll meine Zukunft aussehen? Im Grunde also all das, was man einem jeder Erfolgs-Coach rät. In unserem Beruf macht man früh die Erfahrung, dass zum Erfolg auch das Scheitern gehört, aber ich habe ebenso früh gelernt, dass es sich lohnt, sich ein Ziel zu setzen und seine Energien auf diese Weise in eine bestimmte Richtung zu lenken. Das ist auf jeden Fall erfolgversprechender, als darauf zu warten, dass die Agentur anruft.“

Natürlich weiß Wnuk, dass diese Haltung berechnend klingt, und manche mögen ihm vielleicht vorhalten, er brenne nicht für den Beruf, aber er versichert, das wäre ein völlig falscher Eindruck:

Ich liebe meinen Beruf und bin dankbar dafür, dieses Privileg überhaupt in dieser Form ausleben zu dürfen.“

Wer nur einen kleinen Einblick in die Branche habe, werde ohnehin nicht Schauspieler, um in erster Linie viel Geld zu verdienen.

Kennt man die Hintergründe, ist auch klar, warum prominente Schauspielerinnen und Schauspieler regelmäßig in Quiz- und Spielshows mitwirken: Für diese Auftritte gibt es eine Aufwandsentschädigung. Die künstlerische Herausforderung ist überschaubar, aber das Geld ist leicht verdient.
 

Wenn Angebote ausbleiben

Ähnlich wie der Fußball ist die Schauspielerei ein Talentberuf, auch wenn Wnuk anmerkt, dass der Vergleich hinke:

Im Fußball lässt sich nicht so leicht kaschieren, wenn jemand weniger Talent hat.“

Zugeben wolle das natürlich niemand; eine beliebte Erklärung sei der Hinweis, die Angebote hätten nicht den Ansprüchen genügt.

Wie im Fußball entscheidet allerdings auch in der Schauspielerei nicht allein das Talent über Erfolg und Misserfolg; in beiden Bereichen gibt es eine Vielzahl hochtalentierter Akteure, die sich nicht durchsetzen können. Bleiben gut bezahlte Rollen in Kino- oder Fernsehfilmen aus, stellen sich viele gern für Low-Budget-Produktionen zur Verfügung. Von diesen ambitionierten Nachwuchsfilmen, die oft nur auf Festivals und irgendwann spätabends im Fernsehen laufen, kann man zwar nicht leben, aber zum Ausgleich winken im besten Fall Filmpreise und gute Kritiken.

Im Gegensatz zum Profisport, wo zum Beispiel Kraft oder Ausdauer trainiert werden können, ist in der Schauspielbranche der Einfluss auf die eigene Karriere nur bedingt. „Erfolg“, sagt Wnuk, „ist oft eine Frage des Glücks, weil man den richtigen Film zur richtigen Zeit gedreht hat oder einem Phänotyp entspricht, der gerade gefragt ist; Schauspieler sind ja auch Projektionsfläche.“

Kopetzki empfiehlt in seinem Buch unter anderem gut vorbereitete Besuche von Filmevents wie etwa Premieren oder Festivals, um dort gezielt Regisseure oder Redakteurinnen anzusprechen. Auch Meyer hält das für eine Möglichkeit – „neben den üblichen Investitionen wie neue Fotos und Demobänder, neben dem regelmäßigen Schauspieltraining und dem Erlernen neuer Fertigkeiten, um vielseitiger einsetzbar zu sein.“ Eine Erfolgsgarantie biete das jedoch nicht, wie er einräumt und wie Wnuk bestätigt:

Wenn ich all die Abende auf Filmpartys oder Preisverleihungen in Relation zu den daraus resultierenden Jobangeboten setze, hätte ich die Zeit anders verbringen sollen.“

Immerhin habe er dabei „jede Menge Spaß“ gehabt. Trotzdem resümiert Meyer: „Diesen Beruf sollte man nur ergreifen, wenn man so verrückt ist, sich auf die Bedingungen einzulassen. Dafür braucht man viel Leidenschaft und große Nehmerqualitäten.“


Literatur:

Mathias Kopetzki: Überleben im Darsteller-Dschungel. Wegweiser für freischaffende SchauspielerInnen. Marburg 2020: Schüren. 368 Seiten, 24,90 Euro.