„Wenn man weiterkommen will, muss man zulassen und nicht rumheulen“

Zuschauerinnen von Germany’s Next Topmodel und Einschreibungen neoliberaler Leistungsethik

Lena Schurzmann-Leder

Lena Schurzmann-Leder arbeitet als akademische Mitarbeiterin an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF

2019 lief die inzwischen 14. Staffel von Germany’s Next Topmodel. Die öffentliche Auseinandersetzung mit der Sendung bewegt sich in der Regel in den immer gleichen Bahnen von Kritik an Heidi Klum, Medienschelte und Diskussionen um Magermodels und falsche Schönheitsideale. Die hier vorgestellte Arbeit versucht, diese Perspektiven zu erweitern, sie fokussiert das Zusammenspiel von Aneignung der Sendung und lebensweltlichen Wissensordnungen der jugendlichen Zuschauerinnen. Als hochbedeutsam für die Jugendlichen erweisen sich in der Auswertung Inszenierungen gelungener Selbstführung.

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 3/2019 (Ausgabe 89), S. 60-64

Vollständiger Beitrag als:

Allen Abgesängen im öffentlichen Diskurs zum Trotz ist Germany’s Next Topmodel nach wie vor präsent: seit 2006 jedes Jahr aufs Neue in einer weiteren Staffel ebenso wie in der Medienberichterstattung und Wissenschaft. In der Auseinandersetzung mit Germany’s Next Topmodel dominiert ein negativer Tenor. Kritisiert wird die Sendung beispielsweise für ihre Sexualisierung der Kandidatinnen, die Propagierung spezifischer Schlankheitsideale oder ihr Leistungsdiktat. Daran anschließende Befürchtungen beziehen sich vor allem auf potenzielle Einflüsse der Sendung auf die Lebenswirklichkeiten der primär jugendlichen Zuschauerinnen.

An dieser Stelle setzt die hier vorgestellte Dissertation an. Problematisieren will sie an der „bewahrpädagogischen Einmütigkeit“ des öffentlichen Diskurses nicht die Kritik per se; sondern vielmehr, dass dabei in der Regel dethematisiert wird, dass die kritisierten Erscheinungen gesellschaftlicher Normalität entsprechen. Der Ansatz dieser Arbeit ist daher die Beforschung der Anrufungen des Medientextes in der Wahrnehmung der Zuschauerinnen hin auf deren Entsprechungen in Alltag und Lebenswelten der Jugendlichen, konturiert als strukturelle Machtverhältnisse. Der besondere Schwerpunkt dieser Arbeit gilt dabei der (verkörperten) Selbstführung der Zuschauerinnen und der Frage, wie diese sich in der Medienaneignung und im Alltagshandeln abbildet.
 


Medien- und Schönheitshandeln in der neoliberalen Normalisierungsgesellschaft

Im Zentrum der Arbeit steht die Medienaneignung jugendlicher Mädchen. Untersucht wird diese anhand der Castingshow Germany’s Next Topmodel mit dem Fokus auf gesellschaftlichen Normalisierungen im Bereich der aussehensgebundenen Selbsthervorbringung. Die Forschungsperspektive verortet Jugendlichen kaum evidente Änderungen auf. Insgesamt erweisen sich Medienaneignung und (aussehensbezogene) Selbstführung/Schönheitshandeln als hochgradig komplexe Bereiche, was sich beispielsweise in der diskursiven Ausdifferenzierung verschiedener Räume, Erfahrungsbezüge und relevanter anderer abbildet.
 

Sehvergnügen im Modus der Unterhaltungssuche

Die Befunde verweisen darauf, dass die Zuschauerinnen in der Rezeption von Germany’s Next Topmodel zwischen unterschiedlichen Modi changieren: Die Mädchen nutzen die Sendung einerseits zur Unterhaltung und andererseits zur Orientierung. Dabei scheint die unterhaltungsbezogene Rezeption eine marginalere Rolle zu spielen. Die Unterhaltungssuche ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die Jugendlichen die Sendung lustvoll und spaßorientiert aneignen. Sichtbar werden hier Freude, Faszination und Sehvergnügen an starken Stimuli, wie „schönen Bildern“ und emotional aufgeladenen Narrativen mit Bezug zu Personal-Interest-Themen. Die häufigsten Aussagen der Mädchen auf die Frage, was ihnen an Germany’s Next Topmodel am besten gefällt, beziehen sich auf die ästhetisierten Inszenierungen von Reisen der Kandidatinnen, Shoppingtouren, Hotels und Modelvillen, Castings und Fotoshootings. Vor dem Hintergrund der Erfahrungsbezüge der Jugendlichen aus dem eigenen Alltag lässt sich das Sehvergnügen am Schauwert der schönen Bilder so verstehen, dass die anziehenden visuellen Reize als Glücksversprechen fungieren, die symbolische Anerkennung verheißen. Diese rufen offensichtlich starke Affekte hervor, auch noch in der Postrezeptionsphase der Anschlusskommunikation mit anderen.
 

Aushandlungen angemessener Selbstführung im Modus der Orientierungssuche

Ein zentraler Befund bezüglich der Aneignung im Modus der Orientierungssuche erlangt seine Relevanz vor dem Hintergrund der primären Narration, durch die Germany’s Next Topmodel im Mediendiskurs und in der öffentlichen Wahrnehmung gekennzeichnet ist. Der Fokus hierbei liegt stets im Radius von Schönheit, Körper, Aussehen, Äußerlichkeiten. In der Auswertung dieser Arbeit dagegen zeigt sich die Nachrangigkeit dieses Bereichs in der Aneignung der Zuschauerinnen. Inhalte und Quantität der Thematisierungen und Positionierungen der Mädchen bilden ab, dass das Äußere der weiblichen Medienfiguren nur sekundäre Bedeutung für sie besitzt. Verstehbar wird dies vor dem Hintergrund der Aushandlungen sich theoretisch in einer Synthese von Ansätzen: von Foucaults Gouvernementalitätskonzept (vgl. Foucault 2006), sozialisations-, identitätstheoretischen und körpersoziologischen Konzepten auf der einen Seite sowie handlungsorientierten und konstruktivistischen Ansätzen zur Medienaneignung und Cultural Studies auf der anderen Seite. Kontemporäre Identitätsarbeit wird damit konzeptualisiert als Selbstführung. Spezifisch für Subjekte in der Gegenwartsgesellschaft ist demnach eine Verinnerlichung vormals äußerlicher Fremdzwänge und damit einhergehend die Normalisierung und Essentialisierung dieser als scheinbar subjektiv-individuell gewählten, freiwilligen Modi und Rationalitäten. Dies manifestiert sich in zunehmender Selbstüberwachung und Selbstdisziplinierung, gepaart mit einem Machbarkeitsimperativ. Im gesellschaftlichen Diskurs ist dieses Phänomen seit den 2000er-Jahren omnipräsent unter dem Begriff der Selbstoptimierung. Vor diesem Hintergrund wird evident, warum dem Äußeren – bzw. vielmehr den Praxen der Herstellung dessen – in der Gegenwartsgesellschaft eine so zentrale Rolle zukommt: Das Schönheitshandeln (vgl. Degele 2004) stellt ein stark identitätsrelevantes Mittel der Selbstführung dar, da es als sichtbar gewordene Selbstsorge lesbar für andere ist. Medien und deren Aneignung stehen in dieser Perspektive in engen Zusammenhängen mit hegemonialen Wissensordnungen, Subjektivierung und gesellschaftlichen Strukturen als Momente eines Beziehungsgeflechts, die sich wechselseitig stimulieren und hervorbringen. Als Konstitutionsrahmen entfalten Medien demnach gerade und erst dadurch Wirkungsmacht, dass sie (Re‑)Produzenten strukturell vorhandener, von Subjekten erlebt-internalisierter Normalisierungen darstellen.
 

Methode

Insgesamt wurden im Rahmen der Arbeit in Berlin 104 jugendliche Mädchen in 21 Gruppendiskussionen zu zwei Erhebungszeitpunkten – 2011 und 2017 – befragt. Die Bildungshintergründe und Lebenswelten der Teilnehmerinnen waren heterogen: Es nahmen sowohl Gymnasiastinnen aus gutbürgerlichen Berliner Bezirken teil als auch Sekundarschülerinnen aus sogenannten Brennpunktkiezen. Mit Gruppendiskussion und Grounded Theory wurden für die Empirie Verfahren gewählt, mit denen qualitativ und induktiv gearbeitet werden kann und die die Entstehung von Selbstreferenzialität zulassen, über die Relevanzstrukturen, aber genauso Auslassungen und Leerstellen und darüber Selbstverständlichkeiten und Normalisierungen ans Licht treten können.

Der Vergleich zweier Erhebungszeitpunkte bietet vor dem Hintergrund der theoretischen Verortung einen besonderen Untersuchungsrahmen: Da gesellschaftlich-strukturelle Norm(‑alis‑)ierungen im historischen Verlauf Stabilität besitzen, stellt ein Jahrzehnt eine aufschlussreiche Untersuchungsperiode dar, um zu prüfen, ob und inwieweit sich Diskurse und Einschreibungen ändern – insbesondere, da in dieses Jahrzehnt gravierende Entwicklungen wie die wachsende Relevanz der Onlinemedien fallen.
 

Ergebnisse

Bemerkenswert ist, dass die Auswertung zeigt: Im Vergleich der zwei Erhebungszeitpunkte weisen die Aushandlungen der der Befragten zum Alltag in eigenen Erfahrungsbezügen: Der Komplex von Schönheit, Körper, Aussehen entwickelt für die Zuschauerinnen nur nachrangige Relevanz, da Wissen und Erfahrungen der Mädchen aus eigenen handlungsleitenden Themen und Lebenswelten die Sendung für sie als professionell-öffentlichen Raum situieren. Die Befragten nehmen das Aussehen der Kandidatinnen in Germany’s Next Topmodel größtenteils als spezielles wahr, das den eigenen Alltagsbezügen entzogen ist. Die daran gekoppelten Praxen werden dementsprechend kaum in Beziehung zu den eigenen Erfahrungsbezügen und Relevanzsystemen assoziiert, stehen für die Jugendlichen quasi losgelöst vom eigenen Alltag und den bedeutsamen Räumen. Hinzu kommt – und das ist offenbar noch gewichtiger –, dass das Aussehen der weiblichen Medienfiguren in der Sendung so gut wie ausschließlich bearbeitet durch Fachpersonal inszeniert wahrgenommen wird. Es wird damit als nicht selbst hergestellt gelesen und entfaltet für die Zuschauerinnen wenig Aussagekraft im Hinblick auf die für sie lesbaren Verkörperungen von Identität. Das, was anschlussfähig ist für die Mädchen in ihren eigenen Lebenswelten – Wettkampf, Selbstführung, Intelligibilität als weibliches Subjekt sichtbar zu machen in der neoliberalen Matrix –, findet in Bezug auf Germany’s Next Topmodel nicht über Zuschreibungen von Kompetenzen des Sich-schön-Machens statt. Um ihre Ziele zu erreichen, so die Decodierung der Befragten, sind die Kandidatinnen nicht gefordert in besonders erfolgreich ausgeführten Schönheitspraxen; der Wettbewerb besteht nicht im Sich-schön-Machen, wie die Mädchen es aus dem eigenen Alltag kennen. Bedeutung qua Handlungsmacht wird den Kandidatinnen in logischer Konsequenz nicht über Bearbeitung und Herstellung ihres Aussehens zugeschrieben. Mag für das Lesen anderer im eigenen Alltag das Aussehen höchst relevant sein – für die Medienfiguren in Germany’s Next Topmodel ist es das für die Befragten offenbar kaum.

Evident wird stattdessen, wie stark die Jugendlichen auf neoliberale Imperative im Radius von Selbstherstellung fokussieren. Die Themen „Leistung“ und „kompetitiv-konkurrenzielle Eigenschaften und Werte“ spielen eine zentrale Rolle in den Aushandlungen der Mädchen zur Sendung und anscheinend auch in den korrespondierenden Erfahrungsbezügen. Deutlich wird dies in der Quantität und Qualität der Aushandlungen zu den Kandidatinnen – die sich eben primär mit Eigenschaften im kompetitiven Spektrum beschäftigen. Die Mädchen thematisieren die Medienfiguren in Germany’s Next Topmodel gruppenübergreifend über spezifische Verhaltensweisen bzw. Eigenschaften, z.B. jammern, schüchtern sein, sich gehen lassen, keine Anstrengung zeigen, undiszipliniert sein, künstliches/unechtes Verhalten zeigen, Auseinandersetzungen suchen, Anweisungen nicht befolgen. Es kristallisiert sich heraus, dass hier offenbar Wertepole normativen Verhaltens verhandelt werden, die ganz im Sinne von „fitting in and sticking out“ Imperative neoliberaler Leistungsethik darstellen. Gekoppelt an bestimmte Situationen, die die Mädchen gruppenübergreifend erstaunlich homogen verhandeln, gilt es offenbar, sich anzupassen auf einem schmalen Grat im Wertekanon zwischen

  • selbstbewusst sein, aber nicht anmaßend/überheblich,
  • anpassungsfähig sein, aber nicht fremdbestimmt,
  • authentisch sein, aber nicht emotional,
  • sich an Anforderungen anpassen, aber auch Grenzen ziehen,
  • sozialen Umgang zeigen, aber dennoch kompetitiv handeln,
  • feminin sein, aber nicht vulgär.

Es besitzt enorme Bedeutung für die Jugendlichen, sich den jeweilig situativen Anforderungen der verschiedenen Räume entsprechend zu verhalten. Darüber findet die für die Mädchen offenbar hochbedeutsame Wahrnehmung und Zuschreibung von Kompetenz, Anerkennung, Erfolg, Leistung statt. Die Antwort eines Mädchens auf die Frage, was ihr an Germany’s Next Topmodel gefällt, lässt sich dementsprechend paradigmatisch für die kursierenden Einschreibungen lesen:

Ja, wenn man weiterkommen will, dann muss man auch äh – zulassen […] und nicht so rumheulen.“

 

Literatur:

Degele, N.: Sich schön machen. Zur Soziologie von Geschlecht und Schönheitshandeln. Wiesbaden 2004

Foucault, M.: Geschichte der Gouvernementalität. Band I und II. Frankfurt am Main 2006