Wer hat Angst vor Winnetou?
Karl May im Spannungsfeld postkolonialer Diskurse
München 2024: kopaed
Rezensent/-in:
Lothar Mikos
Winnetou in der Diskussion
Man mag es kaum glauben, aber es ist bereit zwei Jahre her, dass im August 2022 über dem Ravensburger Verlag ein Shitstorm hereinbrach. Aufgrund öffentlicher Kritik an dem Kinder- und Jugendfilm Der junge Häuptling Winnetou (D 2022, Mike Marzuk), der rassistische Stereotypen verbreite, hatte der Verlag Begleitmaterialien zum Film zurückgezogen. Daraufhin sahen sich von Prominenten bis zu Politikern viele bemüßigt, die Figur „Winnetou“, eine Schöpfung von Karl May, zu verteidigen. Eine Figur, die für viele Männer, die in den 1960er- und 1970er-Jahren, als die Winnetou-Filme in den Kinos liefen jung waren, sollte nun der „Cancel Culture“ zum Opfer fallen. Das durfte nicht sein, zumal Winnetou und sein Erfinder Karl May zum deutschen Kulturgut gehörten.
In der Aufgeregtheit der Debatte gingen leider viele Aspekte unter. Daher veranstalteten die Karl-May-Gesellschaft, die Karl-May-Stiftung und die Universität Potsdam im März 2023 ein Symposium, bei dem viele Stimmen zu Wort kamen, die in dem Buch Wer hat Angst vor Winnetou? versammelt sind.
Andreas Brenne, Kunstpädagoge an der Universität Potsdam, stellt zu Beginn fest, dass es bei dem „Skandal“ um den Film und die Bücher „nicht allein um Karl May und sein Werk, sondern um den grundsätzlichen Umgang mit kulturellem Erbe“ ging (S. 41). Er unterscheidet drei Positionen: 1) eine aktivistische Position vor allem linker, progressiver Kritik, 2) eine affirmative Position, die das kulturelle Erbe grundsätzlich vor Kritik schützen und bewahren möchte, und 3) eine normative Position, die sich aus Angst vor sozialer Exklusion am sozial Erwünschten orientiert. Sowohl in der öffentlichen Diskussion um Der junge Häuptling Winnetou als auch in manchen Beiträgen des Buches finden sich diese Positionen wieder. Allerdings gibt es noch eine vierte Position, die einen kritischen Blick pflegt, ohne jedoch aktivistisch zu sein, und das Phänomen „Winnetou und Karl May“, ganz im Sinne der Cultural Studies kontextualisiert.
Die Diskussion machte sich vor allem am Begriff „Indianer“ fest, der kolonialistisch sei. Vertreter von Indigenen in Deutschland fanden den Film nicht zeitgemäß, denn er trivialisiere ihre Kultur. Im Symposium kamen eher Menschen aus den USA zu Wort, Allison Aldridge-Saur von der Chickasaw Nation in Oklahoma und Shoshana Wasserman von der Muscogee Nation und stellvertretende Direktorin des First Americans Museums. Sie verstehen die Kritik, setzen sich aber eher für eine stärkere Inklusion von Native Americans ein. Dabei geht es ihnen weniger um Begriffe als um konkrete Aktionen. Karl Mays Winnetou erzähle nur eine „single story“, die für viele Indigene problematisch sei, denn diese eine Geschichte gebe es nicht, da sie die Verschiedenheit der 575 Stämme ignoriere. In der Diskussion in Deutschland sollte es nicht um die indigene Identität von Winnetou gehen, sondern darum, ihn als 100 % deutsch zu sehen (vgl. S. 320).
Karl Mays Winnetou steht in der Tradition der Figur des „Edlen Wilden“, die seit Rousseau populär war und unter anderem in dem Wunsch Kafkas resultierte, „Indianer zu werden“ (zitiert bei Balzer, S. 53). Im Prozess der Zivilisation geht das vermeintlich Natürliche und Authentische verloren, auch wenn man es bewusst ausgerottet oder kolonisiert hat.
Woraufhin sich die weißen Menschen in der von ihnen zivilisierten Welt nach irgendetwas zurücksehnen, was sie im Prozess der Zivilisierung verloren haben: nach der Natur, nach dem Echten, dem Authentischen. Dafür brauchen sie dann Figuren wie ‚den Indianer‘ als Projektionsfläche“ (S. 69 f.).
So bezeichnet Junkerjürgen in seinem Buch Warum Winnetou wichtig war denn auch Winnetou und Old Shatterhand als „zwei Sehnsuchtshelden“, die für das moralische Aufrichten in der Nachkriegszeit wichtig waren (S. 18). Der Kern der Winnetou-Geschichte war für ihn „die Sehnsucht nach Freundschaft und Güte, nach interkultureller Verbrüderung“ (S. 133). Für den Autor waren es die besonderen Umstände der Bundesrepublik in den 1960er- und 1970er-Jahren, als die Winnetou-Filme im Kino und im Fernsehen liefen. Die Filme machten die Karl-May-Figur zu einem Mythos, weil sie die emotionale Wirklichkeit ihrer Zeit widerspiegelten (vgl. S. 135). In seinem Buch verquickt Junkerjürgen eine Reise zu den Schauplätzen der Winnetou-Filme in Kroatien mit seinen filmischen Erinnerungen und versucht die Faszination in seiner Jugend zu kontextualisieren. Zugleich versucht er seinen eher naiven Blick aus der eigenen Jugend zu legitimieren.
Die beiden Bücher zeigen die Spannweite der Positionen zum Komplex „Winnetou“. Dabei kommen viele Stimmen zu Wort. Am Ende bleibt der Eindruck, dass ein nüchterner, analytischer Blick die ganze Aufregung überflüssig gemacht hätte. Denn es ist eine Binsenweisheit, dass literarische Werke, Filme und Serien in veränderten historischen und gesellschaftlichen Zeiten anders rezipiert und interpretiert werden.
Prof. i. R. Dr. Lothar Mikos
Bitte beachten Sie auch das Interview mit dem Autor Ralf Junkerjürgen: Ein Mythos stirbt nie