Werte, Ängste, Hoffnungen
Das Erleben der Digitalisierung in der erzählten Alltagswelt
Baden-Baden 2021: Academia
Rezensent/-in:
Lothar Mikos
Erlebnis Digitalisierung
Ohne Frage dringt die Digitalisierung in immer mehr Arbeits- und Lebensbereiche vor. Das Berufsleben, die Ausbildung in Schule, Berufsschule und Universität sind ebenso davon betroffen wie das Privatleben der Menschen. Die Forschergruppe um die Autor:innen gingen in ihrem Projekt der Frage nach: „Wie erleben also diejenigen Digitalisierung, die im beruflichen und privaten Alltag jeden Tag mit digitalen Prozessen und Anwendungen zu tun haben, wie gehen sie damit um und wie beeinflusst dies ihre Haltung?“ (S. 15).
Dazu haben sie narrative Interviews mit 19 Personen aus vier verschiedenen sozialen Milieus („berufliche Performer“, „akademisch-liberal“, „bürgerlich-etabliert“ und „traditionelle Arbeiter“) geführt. Diese Milieus, die sich in gewisser Weise an die Milieus des Markt- und Sozialforschungsunternehmen SINUS anlehnen, wurden nicht vorher festgelegt, sondern sind aus den Interviews entstanden. Zudem wurden fünf Gruppengespräche mit insgesamt 18 Personen geführt, wobei die Gruppen nach bestimmten Kriterien zusammengestellt waren. Es gab je eine Gruppe aus dem ländlichen Raum, eine mit Medien-Studierenden, eine mit Schüler:innen einer gymnasialen Oberstufe, eine mit Schüler:innen eines kaufmännischen Berufskollegs sowie eine mit Handwerker:innen. Die Personen und Gruppen sind ausführlich beschrieben, sodass die Leser:innen einen Eindruck von dem sozialen Status und durch die Ausschnitte aus den Interviews auch teilweise von der Persönlichkeit der Interviewten bekommen.
Im vorliegenden Buch werden die Ergebnisse der Studie vorgestellt und mit zahlreichen Textbeispielen aus den Interviews und den Gruppengesprächen illustriert.
Es gibt bei allen Interviewten und Gesprächsteilnehmer:innen zahlreiche Gemeinsamkeiten und wenige Unterschiede in der Bewertung der Digitalisierung. Dabei zeigt sich, dass mit der Digitalisierung ambivalente Haltungen und Bewertungen verbunden sind. Die Autor:innen machen zwei Meganarrative im Erleben der Digitalisierung aus: 1) Digitalisierung als Segen und 2) Digitalisierung als Fluch.
Während der Segen in der Arbeits- und Berufswelt verortet wird, weil sie die Arbeit „effizienter, nützlicher und funktionaler“ macht (S. 142) – mit Ausnahme des Friseurberufes –, stellt sich die Digitalisierung im Privatleben als Fluch dar. Denn hier geht sie mit „einem erhöhten Stressgefühl, psychischem Druck, Kontrollverlust, Automatismus, unpersönlichen/oberflächlichen Beziehungen und einer gefühlten Entmächtigung“ einher (S. 142 f.).
Interessanterweise werden die gleichen Eigenschaften und Funktionen der Digitalisierung jeweils unterschiedlich bewertet, je nachdem, ob sie in der Arbeitswelt oder im Privatleben greifen. In privaten Kontexten wird z. B. die Beschleunigung negativ bewertet. „In beruflichen Kontexten werden dieselben Wirkungen der Digitalisierung, etwa die Beschleunigung, die durch digitale Endgeräte wie das Smartphone oder das Tablet evoziert werden, als etwas Positives entworfen“ (S. 62). Das führt die Autor:innen zu dem Schluss:
Die Digitalisierung des beruflichen Alltags und die Digitalisierung der privaten Lebenswelt stehen sich in den Weltentwürfen der Personen typischerweise als oppositionell angeordnete semantische Räume gegenüber“ (S. 64 f.).
Dabei geht die Bewertung der Digitalisierung gerade im Privatleben häufig mit einer nostalgischen Sicht auf die analoge Vergangenheit einher.
Zwar wird Digitalisierung mit Beschleunigung des gefühlten Lebenstempos, psychischem Druck, systematischer Ausgrenzung (z. B. durch die Zunahme an Komplexität), dem Verlust von Wahrheit und Schönheit sowie Zwischenmenschlichkeit verbunden, doch wird in ihr auch die Möglichkeit von Individuation und Freiheit gesehen. Letzteres allerdings nur bei den beiden Geflüchteten aus Afghanistan, denn sie sehen darin die Chance, Wissen zu erwerben und soziale Kommunikation zu erleichtern:
Der Digitalisierung kommt so die Funktion persönlicher Ermächtigung im Sinne eine soziokulturellen Befähigung zu“ (S. 87).
Gerade dem Verlust der Zwischenmenschlichkeit wird bei persönlichen Treffen mit Regeln für die Nutzung von Smartphones und anderen digitalen Medien begegnet. Ein „Industriemechaniker hat zusammen mit seiner Frau und seinen drei Kindern einen ‚Computer- und Handy-Knigge‘ entwickelt, der zehn Regeln zur Mediennutzung umfasst, die sowohl von den Eltern wie von den Kindern eingehalten werden müssen“ (S. 136 f.) – und auch werden.
Am Schluss des Buches diskutieren die Autor:innen aus ethischer Perspektive Fähigkeiten, die ein gutes Leben in der digitalen Alltagswelt ermöglichen sollen. Sie arbeiten acht zentrale Fähigkeiten heraus (vgl. S. 156 f.):
1) Fähigkeit eine Werthaltung in digitalen Erlebnisräumen zu entwickeln,
2) Reflexionsfähigkeit,
3) Widerstandsfähigkeit (Resilienz),
4) Privatheitskompetenz,
5) Informations- und Meinungsbildungskompetenz,
6) Gestaltungsfähigkeit,
7) technische Handlungskompetenz und
8) Fähigkeit zur sinnhaften Gratifikation.
Diese Fähigkeiten sind eingebunden in eine allgemeine Digitalkompetenz, sind aber nicht grundverschieden von den Fähigkeiten einer sozialen Handlungskompetenz der Menschen in der analogen Welt.
Digitalkompetenz ist so gesehen ein integratives Konzept, das kognitives Wissen mit einer Haltung verbindet und diese als integralen Bestandteil einer Persönlichkeitsbildung versteht“ (S. 157).
Das Buch bietet zahlreiche erhellende Einblicke in das Leben mit der Digitalisierung. Gerade in den Interviews und Gesprächen kommen die Ambivalenzen, die mit ihr verbunden sind, sehr deutlich zum Ausdruck. Natürlich lassen sich die Ergebnisse nicht unbedingt verallgemeinern. Wenn sich z. B. die befragten Schüler:innen für ein Handyverbot an Schulen aussprechen, mag dies für sie selbst zutreffen. Ob allerdings die Mehrheit der Schüler:innen in Deutschland so denkt, darf bis zum Beweis der Gegenteils bezweifelt werden. Nichtsdestotrotz werden sich die Leser:innen in vielen der Aussagen der Befragten wiedererkennen.
Es ist das große Verdienst der Studie, die Widersprüchlichkeiten der Digitalisierung im Erleben herausgearbeitet zu haben. Die Darstellung der Ergebnisse ist erstens sehr differenziert und zweitens sehr strukturiert.
Auf einen kleinen Mangel und eine Peinlichkeit soll dennoch hingewiesen werden. Es ist immer schade, wenn im Anspruch der Forschenden von Inter- oder Transdisziplinarität die Rede ist, aber in der Darstellung des aktuellen Forschungstandes dann doch Studien der Kommunikationswissenschaft und der Soziologie nicht berücksichtigt werden – mit anderen Worten: der eigene Anspruch nicht eingelöst wird. Die Peinlichkeit: Es entspricht den ethischen Forschungsregeln, die Befragten und Gesprächsteilnehmer:innen zu anonymisieren – was hier auch geschehen ist. Nur, dass dann ausgerechnet die Klarnamen der beiden afghanischen Geflüchteten in einer Fußnote auftauchen, kann man wohlwollend als Flüchtigkeitsfehler sehen oder aber auch als ausgesprochen peinlich. Trotz dieser Mängel sei das Buch allen Interessierten zur Lektüre empfohlen.