Wie wir lernten, mit der Bombe zu leben

Atomkriegsszenarien im Film als Affirmation und Kritik

Werner C. Barg

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Prof. Dr. Werner C. Barg ist Autor, Produzent und Dramaturg für Film und Fernsehen sowie Honorarprofessor im Bereich Medienwissenschaft der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF. An der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg leitet er in der Abteilung Medien- und Kommunikationswissenschaft den Ergänzungsstudiengang „Medienbildung“ des Zentrums für Lehrer*innenbildung (ZLB)

Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine geht sie wieder um in Europa: die Angst vor einem Atomkrieg. Der Film als kulturelles Brennglas gesellschaftlicher Zeitstimmungen hat diese Angst, die besonders in den Zeiten des „Kalten Krieges“ latent immer vorhanden war, in unterschiedlichen Szenarien thematisiert. Der folgende Beitrag analysiert realistische Darstellungen des Atomkriegs im Film und ist damit vielleicht hilfreich, mit der aktuellen Kriegsangst besser umgehen zu können.

Online seit 16.06.2022: https://mediendiskurs.online/beitrag/wie-wir-lernten-mit-der-bombe-zu-leben-beitrag-772/

 

 

Das Spiel mit dem atomaren Weltuntergang ist ein beliebtes Sujet actionreicher Filmfiktion. Von James Bond bis Terminator im Kino, von Serien wie 24 bis Homeland im Fernsehen und im Streamingdienst bildet die Bedrohung durch einen terroristischen oder kriegerischen Atomanschlag ein immer aufs Neue bemühtes Hintergrundszenario für spannende Thrillerunterhaltung.

Im Bereich des Arthouse-Kinos reflektieren Filme wie Alain Resnais’ Hiroshima, mon amour (F/J 1959), Opfer (S/GB/F 1986) von Andrei Tarkowski oder Briefe eines Toten (UdSSR 1986) in der Regie Konstantin Lopuschanskis in zumeist melodramatischer, oft in philosophischer und historischer Form die Liebe, das Leben und den Tod im Atomzeitalter.

Zahlreiche Filme setzen sich zudem ernsthaft mit der Thematik militärischer Atomtechnik und deren Auswirkungen im Kriegsfall auseinander. Wichtige Schlüsselfilme, die Atomkriegsszenarien darstellen, sollen nachfolgend unter der Fragestellung betrachtet werden, ob sie das Publikum eher zu einer kritischen Anti-Atom-Haltung anregen oder es schon einmal an ein Geschehen gewöhnen, das hoffentlich niemals eintritt, aber gerade angesichts der aktuellen Weltlage auch wieder in die Nähe des Möglichen rückt – wie schon in den Zeiten des „Kalten Krieges“, aus denen die meisten der vorgestellten Filme stammen.
 

Atomkriegsszenarien im Kontext des „Kalten Krieges“

Filmische Atomkriegsszenarien dürfen als Reflex zugespitzter Ost-West-Konflikte in der Ära des „Kalten Krieges“ gesehen werden. Schon ab 1950, mit dem Beginn des Korea-Krieges, wurde die Welt von Krisen erschüttert, in denen sich die Interessen um Einflusssphären der kommunistischen, planwirtschaftlichen Staatengemeinschaft mit der UdSSR und China an ihrer Spitze den freiheitlich-kapitalistischen Ländern mit den USA als Führungsmacht gegenüberstanden: Suez-Krise 1956, Berlin-Krise 1958, schließlich der Bau der Berliner Mauer 1961 und – als bislang höchste Eskalationsstufe – die Gefahr eines direkten militärischen, auch atomaren Schlagabtausches in der Kuba-Krise 1962.

Nach der Phase der Entspannungspolitik in den 1970er-Jahren wurde am Beginn der 1980er-Jahre die Angst vor einem Atomkrieg besonders in Deutschland wieder akut. Eine starke Anti-Atom- und Friedensbewegung entstand, die sich dem Plan entgegenstellte, in der Bundesrepublik und in der DDR Mittelstreckenraketen der Militärblöcke aus West und Ost gegeneinander zu stationieren. Im Kriegsfall würde – so die Befürchtung der Protestierenden – Deutschland als atomares Schlachtfeld komplett verwüstet werden.
 

Wege in den Atomkrieg

Genau dieses Schreckensszenario bildet den Hintergrund für The Day After (USA 1983), ein Spielfilm, der zunächst im Kino lief und später – in abgeschwächter Form – auch vom produzierenden Sender ABC ausgestrahlt wurde. Nicholas Meyers Film, der einen Atombombenangriff auf die USA und seine Folgen schildert, folgt zunächst der konventionellen Dramaturgie üblicher Katastrophenfilme: Eine Reihe von Zentralfiguren werden in ihrem Alltag in Kansas City und Umgebung sowie in dem Universitätsstädtchen Lawrence vorgestellt: ein älterer Chefarzt, der mental seine Eheprobleme und den Fortgang seiner erwachsenen Tochter nach Boston zu bewältigen hat; eine Farmerfamilie und der Freund der Tochter, die in wenigen Stunden heiraten wollen; ein Student, der nach Hause trampt, sowie ein Soldat, der in einem der unterirdischen Kernwaffensilos stationiert ist, von denen einige im Umkreis von Kansas City verborgen sind. Europa und Deutschland sind weit weg. Und so zeigt sich zunächst nur Dr. Oates (Jason Robards) von den Nachrichten beunruhigt, dass Berlin erneut von den Sowjets blockiert wird und es zu ersten Scharmützeln an der Berliner Mauer zwischen Ost und West kommt. Als NATO-Truppen bei Helmstedt die Blockade durchbrechen wollen, eskalieren die kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem Warschauer Pakt. Die Rote Armee marschiert in kurzer Zeit durch Westdeutschland bis zum Rhein. Um eine Besetzung Frankreichs zu verhindern, setzt die NATO taktische Atomwaffen ein. Als das NATO-Hauptquartier bombardiert wird, erhalten die Soldaten in den Silos bei Kansas City den Befehl zum Raketenabschuss.

Auch im militärischen Hintergrundszenario von Peter Watkins The War Game (GB 1966), einer BBC-Dokumentation, die in Reenactments den Atombombenangriff auf Großbritannien durchspielt, wird Deutschland schnell zum Schlachtfeld einer Ost-West-Auseinandersetzung: Nachdem die chinesische Armee in Südvietnam einmarschiert, kommt es zu einem sowjetischen Überfall auf Berlin, was wiederum eine atomare Auseinandersetzung zwischen Ost und West heraufbeschwört. Das fiktive Kriegsszenario in The War Game verdeutlicht gleichfalls, dass Filmemacher als Katalysatoren gesellschaftlicher Stimmungen und politischer Zeitläufte bei der Behandlung des Atomkriegsthemas in ihren Produktionen nicht nur generell auf die angespannte Lage zwischen den Blöcken des „Kalten Krieges“ Bezug nahmen, sondern sich jeweils auf die aktuellen Ost-West-Konflikte ihrer Zeit bezogen.

So ebenfalls in Threads – Stunde Null, einem BBC-Film aus dem Jahre 1984, der ähnlich wie The Day After mit den dramaturgischen Mitteln eines Katastrophenfilms, aber in der Tradition britischer Arbeiterfilme noch realistischer, den Atombombenabwurf auf Raketensilos nahe Sheffield in Nordengland erzählt. Fünf Jahre nach der „Iranischen Revolution“ 1979 bildet hier der Einmarsch sowjetischer Truppen in den Nordiran den Ausgang für eine kriegerische Auseinandersetzung mit der NATO, die glaubt, eine sowjetische Kontrolle der iranischen Ölquellen verhindern zu müssen, um die ökonomischen Interessen ihrer Staatengemeinschaft sichern zu können. In diesem Szenario folgen gleichfalls Auseinandersetzungen an der innerdeutschen Grenze. Auch dieser Konflikt endet atomar.
 

Trailer Threads (HD Retro Trailers, 10.04.2018)



Fiktive Szenarien auf der Grundlage realer militärischer Planspiele

Bemerkenswert ist, dass alle skizzierten fiktiven Filmszenarien in den 1960er- wie in den 1980er-Jahren von den immer gleichen drei Prämissen ausgehen: Unabhängig vom Auslöser des regionalen militärischen Konflikts wird die Auseinandersetzung zwischen Ost und West schnell auf deutschem Boden geführt. Es wird weiterhin davon ausgegangen, dass die Bundeswehr das eigene Land kaum wird verteidigen können und die eigentliche Entscheidungsschlacht, dann möglicherweise auch atomar, erst beginnt, wenn die feindlichen Truppen am Rhein stehen und Frankreich und weitere westeuropäische Länder bedroht sind.

Interessant ist, dass die filmischen Szenarien keineswegs aus der Luft gegriffen sind, sondern sich in zeitgenössischen Studien etwa des Internationalen Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI wiederfinden lassen (Barnaby 1981) und zudem durch militärische Strategiepapiere und Einschätzungen gestützt werden, die mittlerweile auch Gegenstand zeitgeschichtlicher Forschung geworden sind (Krüger 2008).

Auf der Grundlage der realen strategischen Planungen gehen die Filmszenarien ebenfalls davon aus, dass sich im Kriegsfall NATO und Ostblock im geteilten Deutschland bzw. Europa direkt gegenüberstehen würden. Mit der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Pakts in der postkommunistischen Ära nach 1990 hat sich diese Situation verändert. Und so stehen sich ja aktuell im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine NATO und Russische Föderation auch nicht direkt gegenüber. Dennoch gilt, was SIPRI-Direktor Barnaby schon 1981 in seiner Analyse der Möglichkeiten eines Atomkrieges in Europa hervorhob: „Die wahrscheinlichste … ist … die Eskalation eines regionalen Konflikts.“ (Barnaby 1981, S. 527) Und: „Ein europäischer Krieg könnte als konventioneller Krieg beginnen, und dann zu einem taktischen Atomkrieg eskalieren. Nach meiner Auffassung würde sich dieser dann wahrscheinlich zu einem allumfassenden Atomkrieg ausweiten.“ (ebd., S. 527)

In solch eine atomare Auseinandersetzung in Europa wäre die Bundeswehr im Rahmen ihrer NATO-Bündnisverpflichtungen heutzutage unmittelbar verstrickt. Die deutsche Luftwaffe hätte im Rahmen der NATO-Strategie der „nuklearen Teilhabe“ (Rudolf 2020) die mittlerweile in Deutschland stationierten Atomwaffen (Bezold 2022) auf feindliche Ziele abzuwerfen, wodurch Deutschland unmittelbar zum Kriegsziel würde.
 

Besonnenheit statt Größenwahn

Dass angesichts dieses Realszenarios europäische Regierungschefs trotz der berechtigten Forderungen ukrainischer Politiker nach mehr militärischer Unterstützung zugleich um Besonnenheit, Diplomatie und Deeskalationsstrategien bemüht sind, ist nur zu verständlich. Denn: In satirisch zugespitzter Form hat US-Regisseur Stanley Kubrick in Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben schon 1964 geradewegs vom Gegenteil und deren Konsequenzen erzählt: Nachdem ein verrückt gewordener Luftwaffenoffizier (Sterling Hayden) sein Atombombengeschwader auf Ziele in der UdSSR loslässt, entwickeln sich bei den Beteiligten im War-Room des US-Präsidenten (Peter Sellers) zunehmender Größenwahn und Weltmachtfantasien, die besonders durch einen antikommunistischen General (George C. Scott) und den deutschstämmigen Ex-Nazi-Atomwissenschaftler Dr. Seltsam (Peter Sellers in einer weiteren Rolle) angefacht werden. Selbst bei dem anfangs verhalten-besonnen agierenden Kommandanten (Slim Pickens) der einzigen „fliegenden Festung“, die mit der tödlichen Fracht ihr sowjetischen Ziel erreicht, kommt im Moment des Bombenabwurfs eine Wildwest-Mentalität zum Vorschein, die ihn dazu bringt, wie ein Rodeo-Cowboy auf der stürzenden Bombe der atomaren Apokalypse entgegenzureiten.

In der Schlussmontage steigen zahlreiche Atompilze in den Himmel, Signum des Weltuntergangs, untermalt von We’ll meet again, einem britischen Schlager, der im Zweiten Weltkrieg sehr populär wurde. Spendete er dort Trost und Hoffnung auf ein Wiedersehen zwischen den Soldaten und ihren Angehörigen nach dem Krieg, darf er in Kubricks Film getrost als zynischer Schlussgag gesehen werden, ist aber – worauf Paul Virilio hingewiesen hat – durchaus noch mehr: „Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges war die luftdrucksichere Kabine der amerikanischen Superfestungen … zu einem Synthesizer geworden, der gegen alles Leben ringsumher vollkommen abgeschottet war. Die technische Isolierung wirkte so traumatisierend, daß das Strategic Air Command beschloß, die gefahrvollen Wege seiner Armadas heiterer zu gestalten. … Sprecherinnen mit melodiösen Stimmen nahmen sich über Sprechfunk der Besatzung an; … munterten sie … während ihrer Flüge auf und überzogen das Bild der Zerstörung mit Witzen, Klatsch und gefühlvollen Liedern.“ (Virilio 1991, S. 43)

Virilio zeigt auf, dass in Stanley Kubricks Groteske mehr Realismus steckt als die schwarzhumorige Oberfläche des Films vermuten lässt. So ist die dargestellte Befehlskette als durchaus realistisch anzusehen. Angeprangert wird, dass die gezeigte Hermetik der militärischen Todesmaschinerie selbst dann nicht mehr zu stoppen ist, wenn ein Verrückter mit Wahnvorstellungen sie in Gang gesetzt hat.

Von dieser menschheitsbedrohenden Hermetik eines möglichen Atomwaffenangriffs erzählt ebenfalls Sydney Lumets Angriffsziel Moskau (USA 1964). In einer der Anfangsszenen des Films beklagen sich einige Bomberpiloten in ihrer Freizeit beim Billardspiel im Stützpunkt noch darüber, dass sie kaum mehr eine Handhabe über ihre Flugzeuge hätten, weil vieles von Elektronenhirnen gesteuert würde. Wenig später löst ein Computerfehler den Angriffsplan der US-Atombomber gegen sowjetische Ziele aus. Zu stoppen ist der verhängnisvolle Ablauf des Atomangriffs auch in Lumets Film nicht. Der US-Präsident (Henry Fonda) und sein Übersetzer (Larry Hagman) bemühen sich im Gespräch mit dem sowjetischen Premier zwar um Deeskalation und Schadensbegrenzung. Doch in Lumets Szenario kommt ebenfalls ein Bomber durch und wirft seine Bombenlast über Moskau ab. Während ein antikommunistisch eingestellter Militärberater (Walter Matthau) in den Lagebesprechungen die anwesenden Generäle zu weiteren Atomschlägen ermutigt und von einem atomaren Erstschlag-Sieg über die Sowjetunion träumt, fällt der Präsident angesichts der atomaren Verwüstung Moskaus eine ganz andere, durchaus besonnene, mutige, wenngleich moralisch zweifelhafte Entscheidung: Er lässt mit eigenen Atomwaffen New York City angreifen. Er gibt damit der Gegenseite ein für sein eigenes Land sehr schmerzhaftes Signal, dass der US-Angriff tatsächlich ein Versehen war. Das besonnene Handeln des Präsidenten nimmt den Tod der eigenen Ehefrau, die sich zur Zeit des Angriffs in New York aufhält, in Kauf, um die Menschheit vor einem weltweiten Atomkrieg zu bewahren.
 

Trailer Safe-Fale (USA 1964), deutscher Verleihtitel Angriffsziel Moskau (Media Graveyard, 20.05.2017)



Maschinerie des Todes

In Lumets Film wird die atomare Todesspirale durch einen Computerfehler ausgelöst. In John Badhams Wargames: Kriegsspiele (USA 1983) geht der Abschuss von US-Atomraketen auf sowjetische Ziele gleichfalls auf die Fehleinschätzung des Elektronengehirns zurück, das das Atomwaffenprogramm steuert und von Menschenhand nicht zu stoppen ist. Viele Film-Dystopien gründen sich seither auf Atomkriegsszenarien, die durch die eigenständig agierende Künstliche Intelligenz von Maschinen ausgelöst werden (Barg 2022, S. 40). SIPRI-Chef Barnaby wies schon 1981 darauf hin, dass ein Atomkrieg „wegen eines menschlichen Irrtums oder dem eines Computers, der etwa die Atomalarm bzw. -abschlußanlagen überwacht“ (Barnaby 1981, S. 527), beginnen könnte.

Schon zwei Jahre später belegte der authentische Fall des sowjetischen Oberstleutnant Stanislaw Petrow, dass Barnabys Warnung keineswegs unberechtigt war. Petrow, der in einer Satellitenüberwachungsstation nahe Moskau seinen Dienst versah, entdeckte am Abend des 25. September 1983 einen Fehlalarm: Das Satellitensystem, das das Territorium der USA nach möglichen Raketenstarts abscannt, hatte aufgrund eines Softwarefehlers die Reflexionen der Sonnenstrahlen in den Wolken über einer US-Raketenbasis für startende Atomraketen gehalten und den Gegenangriff empfohlen. Petrow konnte glücklicherweise seine Vorgesetzten davon überzeugen, dass es sich um eine Falschmeldung handelte und so eine Atomkatastrophe verhindern (vgl. WDR 2018).
 

Die Apokalypse

Wie diese Katastrophe dann realistischerweise aussehen könnte, spielte Peter Watkins in The Wargame schon 1966 durch. Seine 45-minütige Dokumentation orientiert sich an den behördlichen Notfallplänen für einen Atomangriff auf Großbritannien, nimmt die Analysen der Folgen des US-Atombombenabwurfs auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki am Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 sowie die Studien der US-Militärs zu den Atom- und Wasserstoffbombentests in der Wüste Nevadas in seine szenische Darstellungen mit auf.

Nüchtern kommentiert ein Sprecher das apokalyptische Geschehen nach der Atombombenexplosion. Schnell bewegte Handkameraaufnahmen unterstreichen die Dramatik des Gezeigten. Die Verwendung von Negativbildern kommentiert die Darstellungen zusätzlich visuell: Starke Winde schaffen zunächst erste Zerstörungen, während sich die Menschen in Bunkern und Kellern verstecken. Feuerstürme brechen los, gewaltiger und verheerender, als sie Militärforschern von den massiven Bombenangriffen auf Coventry, Hamburg, Dresden und Tokyo im Zweiten Weltkrieg bereits bekannt sind. Im Radius von 27 Meilen (ca. 40 km) zum Einschlagsort der Bombe verbrennen Menschen und Tiere bei lebendigem Leibe, werden alle Gebäude verwüstet, die Zivilisation komplett zerstört. Mit dem Atomeinschlag verändert sich die Atmosphäre schlagartig. Noch im Umkreis von 40 Meilen (64 km) steigt die Kohlenmonoxid-Konzentration der Luft sofort stark an. Die Menschen befällt Atemnot. Sie werden bewegungsunfähig, fallen ins Koma und – so zeigt es Watkins Film eindringlich – sterben in nur drei Minuten. Mit den enormen Winden kommt die radioaktive Verstrahlung, durch die noch Monate und Jahre nach dem Einschlag Hunderttausende sterben.

In Hiroshima und Nagasaki waren es innerhalb von vier Monaten nach dem Atombombenangriff fast 100.000 Menschen, während an den Angriffstagen selbst fast 70.000 Einwohner getötet wurden (vgl. Weidenbach 2022).

Die BBC hat The Wargame nie ausgestrahlt. Die Programmverantwortlichen mochten wohl die Drastik der dokumentarisch anmutenden Darstellung ihrem Publikum seinerzeit nicht zumuten. Der Spielfilm Threads, der ein ähnliches Geschehen wie The Wargame, aber angebunden an fiktive Figuren erzählt, wurde dann aber 1984 von der BBC produziert und ausgestrahlt. Der Film von Mick Jackson wurde mehrfach preisgekrönt.
 

Atomangriff als Katastrophenfilm

In Threads wie in The Day After, der im Jahr zuvor im Kino lief, wird der Atombombenangriff als bildgewaltige Katastrophe inszeniert. Die Filmemacher nutzen hierbei zum größten Teil Bilder aus dem Footage des US-Militärs, das diese zur Dokumentation sowohl des Atomangriffs auf Japan als auch diverser Atomtests in der Wüste Nevadas wie auf Südseeinseln wie dem Bikini-Atoll in den 1950er-Jahren gedreht hatten. In dem dokumentarischen Essay The Atomic Café (USA 1982) haben die Filmemacher Pierce und Kevin Rafferty gemeinsam mit Jayne Loader dieses Material, ergänzt durch Propagandafilme der US-Army und Sequenzen aus zeitgenössischen Wochenschauen, in durchaus satirischer Absicht zu einer grotesken Horrorshow der Verharmlosung des Krieges im Atomzeitalter kompiliert. The Day After wie auch Threads verbinden nun diese Dokumentaraufnahmen, die in beiden Filmen um wenige selbst produzierte Visual-Effect-Bilder ergänzt werden, mit den Leidenswegen einzelner Figuren in der Atomkatastrophe. Dadurch schaffen sie starke emotionale Momente, die eine deutliche Warnung vor dem Einsatz der „explodierenden Sonne“ zum Ausdruck bringen wie die Atomexplosion in The Day After genannt wird.

Zu beobachten wie in Nicholas Meyers Film Chefarzt Dr. Oates, der durch die Atomexplosion verstrahlt wurde, seine Lebensenergie mehr und mehr verliert und zunehmend physisch vergreist, ist eine ebenso erschütternde filmische Erfahrung wie dem einst so glücklich liebenden, kurz vor der Hochzeit stehenden Paar bei ihrer Wiederbegegnung als todgeweihte, von Verbrennungen und dem nahenden Strahlentod gezeichnete Menschen zuzuschauen. „Die Konstruktion des Atomkriegs“ im Film „konfrontiert den Zuschauer mit einem menschengemachten Schrecken, den er in der Fiktion beherrschen kann und der doch sein Fassungsvermögen übersteigt, und belässt ihn zugleich in der sicheren Distanz desjenigen, der die Katastrophe nur als Außenstehender erlebt. Die Atomkriegsfilme befriedigen die Angstlust des Menschen, jene gemischte und paradoxale Emotionslage, die die Lust an negativen Gefühlen beschreibt und mit den Schrecken des Todes und der Vernichtung spielt.“ (Nanz/Pause 2013, S. 14 f.) Als die beiden Autoren 2013 ihr Buch Das Undenkbare filmen herausbrachten, mag diese Einschätzung noch zugetroffen haben. Angesichts eines Krieges am Rande Europas, dessen Ausgang ungewiss ist, dürften die Zuschauer heute beim Betrachten etwa von Szenen in Threads, in denen die wenigen überlebenden Protagonisten nach der Katastrophe im „nuklearen Winter“ hungernd und frierend nur noch dahinvegetieren können, starke Beklommenheit und tiefe Trauer ergreifen.
 

Re-Release Trailer The Atomic Cafe (1982) (kinolorber, 16.07.2018)



Fazit

Wer mit den apokalyptischen Bildern der Atomkriegsfilme aufgewachsen ist oder wer die realistischen nachgezeichneten Filmszenarien von Feuerstürmen und Strahlentod nach einem Atombombenabwurf nun zum ersten Mal sieht, wird jede Eskalation militärischer Konflikte, die mit einem Atomwaffeneinsatz enden könnten, ablehnen und für eine diplomatische Lösung plädieren so wie es selbst in den gefährlichsten Krisen des „Kalten Krieges“ gelungen ist.1 Das „Genre des Atomkriegskinos“ (ebd., S. 16) führt jede propagandistische Verharmlosung des Atomkrieges nach dem Motto „Duck and cover“, wie dies in Atomic Café gezeigt wird, ad absurdum. Militärische Strategien von der Beherrschbarkeit eines „begrenzten“ Atomkriegs werden Lügen gestraft. Wer den roten Knopf drücken lässt, löscht durch akute Feuerstürme und mittelfristige Verstrahlung einen Großteil der Menschheit und deren Zivilisation vollständig aus. Doch trotz der bekannten Gefahren und der massiven Ängste in der Weltbevölkerung ist eine vollständige Abrüstung der Atomwaffen nicht gelungen. Und indem uns die Filme mit den verheerenden Gefahren vertraut machten, gewöhnten sie uns auch an diese. Doch die Angst ist geblieben, war latent immer da. Und kann nun vom Regime Putin auf perfide Weise als Propagandawaffe im Ukraine-Krieg eingesetzt werden.
 

Anmerkung:

1) Die ZDF-History-Dokumentation Der große Knall. Deutschland und der Atomkrieg von Michael Kloft und Andreas Hancke hat im Juni 2022 die historischen Fakten zur Atomkriegsgefahr und der Krisenbewältigung während des „Kalten Krieges“ genauer beleuchtet.
 

Literatur:

Barnaby, C. F. : Europa – Schlachtfeld der Supermächte? In: Gewerkschaftliche Monatshefte, 9/1981, S. 521–529. Abrufbar unter: http://library.fes.de

Barg, W. : Die Maschine als Feind und Helfer. In: mediendiskurs, Ausgabe 100, 2/2022, S. 38 – 43. Abrufbar unter: mediendiskurs.online

Bezold, S.: Putin droht mit Atomwaffen: Warum Deutschland trotzdem nuklear abrüsten muss. In: Frankfurter Rundschau online, 13.03.2022. Abrufbar unter: www.fr.de

Krüger, D.: Schlachtfeld Bundesrepublik? Europa, die deutsche Luftwaffe und der Strategiewechsel der Nato 1958 bis 1968. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 56, Heft 2/2008, S. 171 – 225. Abrufbar unter: www.ifz-muenchen.de

Nanz, T./Pause, J. (Hrsg.): Das Undenkbare filmen. Atomkrieg im Kino. Bielefeld 2013

Rudolf, P.: Deutschland, NATO und die nukleare Abschreckung. ISWP-Studie 11. In: Stiftung für Wissenschaft und Politik, Berlin 2020. Abrufbar unter: www.swp-berlin.org

Virilio, P.: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung. Frankfurt a. M. 1991

WDR: 26. September 1983 – Stanislaw Petrow verhindert Atomkrieg. In: WDR 2 Stichtag, 26.09.2018. Abrufbar unter: www1.wdr.de

Weidenbach, B.: Geschätzte Zivile Todesopfer und Verletzte in Hiroshima und Nagasaki 1945. In: Statista, 03.05.2021. Abrufbar unter: https://de.statista.com