Wir im Ukrainekrieg

Parasoziale Beziehungen zu Augenzeugen, Selenskyj & Co.

Marlis Prinzing

Dr. Marlis Prinzing arbeitet als freie Journalistin, Moderatorin und Journalismusforscherin. Sie ist Professorin an der Hochschule Macromedia in Köln.

Auf Du und Du mit Quizmastern, Sportlern, Schauspielerinnen, Realitystars – und jetzt auch mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und seinem Land: Das „Wir“ mit der Ukraine beschreibt eine klassische, in dieser Art jedoch neue parasoziale Beziehung. Sie kann Mitgefühl und Solidarität stärken, aber auch plagen. Journalismus ist gefordert, auch als Instanz für Krisen- und Medienkompetenz.

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 3/2022 (Ausgabe 101), S. 24-29

Vollständiger Beitrag als:

Wohl noch nie seit Ende des Zweiten Weltkrieges wurden wir so tief in einen Krieg gezogen wie in den Ukrainekrieg, so, als sei das tatsächlich unser Krieg. Das hat politische Gründe: die deutsche Ostpolitik; die starke Stellung Deutschlands in der EU, der die Ukraine nun mit hoher Geschwindigkeit beitreten will; die Dauer, mit der sich die Ukraine gegen den völkerrechtswidrigen russischen Angriff zur Wehr setzen kann, hängt auch davon ab, ob sie von anderen Ländern Waffen erhält. Entscheidend jedoch für die Entfaltung dieser Wirkungsmacht sind die medialen Möglichkeiten, Beziehungen aufzubauen und Gefühle zu teilen. Ausgangspunkt der Analyse ist der Blick auf die „Wir“-Solidarität auf der Ebene von Politik und öffentlicher Diplomatie. Sie entfaltet große Wirkung auch durch die Funktionslogik sozialer Medien. Deren Geschäftsmodell basiert auf Emotionen, engmaschigen kommunikativen Netzen mit zahllosen, auch parasozialen Beziehungen und Interaktionen sowie auf Affordanz, also der impliziten Aufforderung, zu reagieren. Bei Themen wie Kriegsgräueln und menschlichem Leid funktionieren solche Mechanismen besonders nachhaltig. Das hat Vor- und Nachteile.
 

Auge in Auge – parasoziale Medienbeziehungen

Selenskyj wendet sich auf seinem Instagram-Account mit Videobotschaften direkt an sein Volk, an die Welt, an uns. Was er sagt, wird weder journalistisch eingeordnet, noch muss er sich Nachfragen stellen – wir sitzen ihm direkt gegenüber an seinem Schreibtisch. Er blickt uns in die Augen, etabliert eine parasoziale Beziehung: Wir „kennen“ ihn, gehen mit ihm durch die Gänge seines Präsidentenpalastes, er erzählt uns, was er in der Region Odessa gesehen hat und vieles mehr.
 

Videostatement des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj am 04.04.22 (phoenix, 04.04.2022)



Auf TikTok lernen wir Valeria Shashenok kennen, eine 20-jährige ukrainische Fotografin. Ebenfalls Auge in Auge erzählt sie uns sarkastisch, was man in einem Bombenschutzkeller so braucht und wie es sich anfühlt, plötzlich im Krieg aufzuwachen. Vorher erreichte sie Menschen in fünfstelliger Zahl, jetzt, mit ihren Filmen aus dem Krieg, bis zu 50 Mio. Sie führt uns durch ihre zerstörte Heimatstadt und nimmt uns mit auf die Flucht nach Italien, zeigt uns, dass es dort viel Pasta gibt und eine Kunstgalerie auf der Toilette. Auch dies ist eine parasoziale Beziehung. So nennt man eine enge Bindung zu jemandem, zu dem man keinen direkten persönlichen Kontakt hat. Das Unterhaltungsfernsehen setzt seit Langem dieses Instrument zur Publikumsbindung ein, Talksendungen machen dies ebenfalls: Dem Publikum wird das Gefühl vermittelt, direkt angesprochen, ja (fast) mittendrin zu sein in einer Quizsendung, einer Tanzshow, einer Gesprächsrunde, obwohl es tatsächlich in keinerlei Hinsicht Einfluss nehmen kann. Ein Studiopublikum kann durch den Kameraschwenk auf genau diese Zuschauerinnen und Zuschauer, der ja (fast) durch das eigene Wohnzimmer geht, das Gefühl, mittendrin zu sein, verstärken – und erst recht ein Moderator oder eine Moderatorin, die direkt in die Kamera sieht, einem also vermeintlich in die Augen blickt. Rituale wie die immer gleiche Verabschiedung oder typische Sprüche verstärken den Effekt, ähnlich wie bei Bekannten und bei Freunden, deren Vorlieben, Macken etc. man ja ebenfalls kennt – und erwartet. Mitmachelemente wie z. B. Telefonhotlines oder Chats verstärken die Beziehung, indem man sich direkt einschalten, ein bisschen mitmachen, abstimmen, beitragen kann.

Über Medien erfahren Menschen, was prominente Sportler, Schauspielerinnen etc. tun und was sie (offenbar) privat umtreibt. Das verleitet dazu, zu glauben, man kenne diese Menschen, obwohl man eigentlich nur das medial oder durch sie selbst öffentlich erzeugte Bild kennt, man dürfe sich auch in ihr Leben einmischen, sie belehren. Olivia Marei (die Schauspielerin der „Toni“ im seit 1992 auf RTL laufenden Dailyformat Gute Zeiten, schlechte Zeiten) wurde kürzlich von Fans gemaßregelt, weil sie, die doch ein Vorbild sein müsse, hochschwanger nach Tansania reiste. Marei hat sich daraufhin in ihrer Instagram-Story gerechtfertigt, der Trip sei mit der Ärztin abgesprochen gewesen. Mitunter verschwimmen auch die Grenzen zwischen Fiktion und Nonfiktion. Es soll Leute gegeben haben, die ernsthaft in die „Lindenstraße“ einziehen wollten, den Schauplatz der Langzeitserie (ARD, 1985 – 2020).

Soziale Medien haben parasoziale Interaktionen zum zentralen Instrument der Publikumsbeziehung gemacht und einerseits den Kreis der Akteure und Akteurinnen auf im Prinzip jeden ausgeweitet sowie andererseits den Interaktionsdruck massiv erhöht.

Man kann sich anfreunden, folgen, entfolgen, liken, teilen, kommentieren, sofort und in Echtzeit reagieren – bzw. hat man den Eindruck, man müsse das tun, die Gegenüber erwarteten dies geradezu, man fühlt sich selbst „gesehen“, beobachtet. Diese sogenannte Affordanz, die Wahrnehmung einer erwarteten Aktivität, gehört zu den Erfolgskategorien sozialer Medien – und zwar in doppelter Weise: Erfolgreiche Influencer und Influencerinnen beispielsweise wollen nicht nur viele, sondern auch aktive Abonnenten und Follower haben, die liken, teilen, kommentieren, bei Ratings und Umfragen antworten. Dieses Engagement steigert die Aufmerksamkeit und Bekanntheit des Influencers und spült Geld in seine Kasse – und in die der Betreiber der Plattformen sozialer Medien. Die „Engagement-Rate“ (Interaktionen wie Like-Rate und Comment-Rate geteilt durch die Reichweite) misst die Qualität eines Instagram-Posts. Engagement setzt eine Beziehung voraus, einen persönlichen Kontakt. Man duzt sich, erhält dosierte Einblicke ins Private, meint, sich zu kennen. Tatsächlich bleibt es eine parasoziale Beziehung, und gerade prominente YouTuber oder Influencer inszenieren ihre Onlineauftritte vergleichbar perfekt wie Fernsehshows.
 

Millionenerfolg mit sarkastischen TikToks zum Ukrainekrieg: „Danke, Putin!“ (DER SPIEGEL, 30.05.2022)



Die Kommunikationswissenschaft (vor allem als Medienpsychologie und Rezipientenforschung) beobachtet seit den 1950er-Jahren solche Illusionen von Face-to-Face-Kontakten quasi im eigenen Wohnzimmer zu Medienakteuren, die es tatsächlich gibt oder – etwa bei Avataren – noch nicht einmal das. Eine Lücke, auf die z. B. die Forscherinnen Margreth Lünenborg, Tanja Maier und Claudia Töpper (2018) hinweisen, sind Analysen z. B. der affektiven Konstituierung von Gemeinschaft, etwa in Form tausendfacher Anteilnahmebekundungen nach einem Terroranschlag, oder kommunikativer Prozesse zwischen Regierungschefs und ihren Followern, für die nun Selenskyj einen weiteren Showcase bietet.

Im Ukrainekrieg werden soziale und kommunikative Beziehungsgefüge politisch außerordentlich effektiv genutzt. Selenskyjs Videobotschaften sind professionell inszeniert, oft cineastisch anmutend, transportieren wiederkehrende Narrative (wir sind da; wir kämpfen für Euch; wir brauchen von Euch schwere Waffen, um uns wehren zu können; wir werden gewinnen etc.). Sie werden von der Politprominenz seines Landes aufgegriffen, aber auch von vielen Akteuren und Akteurinnen auf sozialen Medien mit großen und kleinen Followergruppen, von journalistischen Medien, von der Politik. Das „Wir“ ist ein parasoziales und ein diplomatisches.
 

„Wir“ im Ukrainekrieg

Die Ukraine ist moralisch und faktisch im Recht. Das erzeugt Solidarität. Ein völkerrechtswidrig angegriffenes Land hat ein Recht, sich selbst zu verteidigen, und einen Anspruch darauf, dass ihm geholfen wird. Das „Wir“ legitimiert sich aus menschlichen Gründen und aus prinzipiellen, weil der Aggressor Russland die Menschenrechte mit Füßen tritt, weil die Säulen des demokratischen Grundverständnisses unter Beschuss sind. „Wir verteidigen nicht nur uns, wir verteidigen Euch“, erklärte Vitali Klitschko, „wir schützen unsere gemeinsamen Werte und Prinzipien“. Solche Sätze sagt der Bürgermeister von Kiew in einem Interview mit den Sendern n-tv und RTL – ein Beispiel für öffentliche Diplomatie. Narrative, wie hier das „Wir“ als europäische Wertegemeinschaft, der Bevölkerung anderer Länder – hier der deutschen – plausibel zu machen sowie strategisch so zu kommunizieren, dass sie auf der dortigen politischen Agenda möglichst weit oben stehen, sind wichtige Instrumente der öffentlichen Diplomatie. Anders als bei der klassischen, weiterhin ebenfalls wichtigen Form diplomatischen Handelns hinter verschlossenen Türen, ist hier die Öffentlichkeit, die öffentliche und die veröffentlichte Meinung der Hauptadressat. Die ukrainische Politikprominenz – Klitschko, Selenskyj, der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk etc. – bespielt alle möglichen Kanäle und Bühnen. Sie vergegenwärtigt das „Wir“-Narrativ über journalistische wie soziale Medien immer wieder aufs Neue und vertieft revitalisierte Dichotomien: auf der einen Seite die über soziale Medien vernetzte westliche Welt, in der alle gemeinsam Seite an Seite stehen, auf der anderen die autokratische Propagandawelt Putins.
 

Das „Leiden anderer“ teilen

Zum „Wir“ gehört auch, die humanitäre Katastrophe zu zeigen, das Leiden. Es rückt zwar durch soziale Medien näher und intensiver an einen heran als in vorherigen Kriegen, bleibt aber – selbst wenn die deutsche Außenministerin in Butscha bemerkte: „diese Opfer könnten wir sein“ – in Wirklichkeit das Leiden anderer. Regarding the Pain of Others (Das Leiden anderer betrachten) überschrieb die US-amerikanische Autorin Susan Sontag einen 2003 erschienenen, viel diskutierten Essay über Fotos und Fernsehbilder aus Kriegen. Die Phänomene, die sie analysierte, bestehen und gelten im Grundsatz auch heute in einer durch die digitale Technik massiv veränderten Medienlandschaft: Bilder sind wichtige Kriegsdokumente, können aber auch irreführend oder falsch oder manipulativ eingesetzt oder als Propaganda umgedeutet werden. Entscheidend ist daher, wie sie geprüft, eingeordnet und kontextualisiert werden. Bilder machen ihre Betrachter zu Augenzeugen, wirken aber unterschiedlich auf Menschen, können betroffen machen, kaltlassen, abstoßen, triggern.

Der im Februar 2022 in der Ukraine ausgebrochene Angriffskrieg wird sowohl militärisch geführt als auch von Anfang an als Informationskrieg. Was unterscheidet diesen Krieg noch von anderen? Vor allem die deutlich erhöhte Vielfalt, Intensität, Menge und die potenzielle Wirkkraft des Bild- und Textmaterials über eigenes Leiden und das Leiden anderer, das unentwegt geteilt und betrachtet wird. Zudem hat die technische Entwicklung der Kameras von teuren Profi-Apparaten bis hin zu fast jedem zur Verfügung stehenden, leicht handhabbaren Smartphones die Gruppe der Akteure und Akteurinnen enorm erweitert.

Lange Zeit dominierten Bilder professioneller Kriegsfotografen und Kriegsfotografinnen bei der Dokumentation von Kriegen. Sie haben entschieden, was sie überhaupt abbilden wollten und welche dieser Bilder sie den sie beauftragenden Redaktionen schickten, die wiederum auswählten, was sie veröffentlichten, und dabei neuerlich ebenfalls bestimmten berufsethischen Gründen folgten (Ist es ein Dokument der Zeitgeschichte? Ist das Motiv so relevant, dass es zugemutet werden muss? Wie verhält es sich in dieser Abwägung mit der Würde der Toten und dem Schutz der Angehörigen? Soll man Verwundete erkennbar abbilden oder verpixelt? Bietet es sich an, das Publikum vor möglicherweise verstörend wirkendem Inhalt zu warnen?). Das ist heute im Grunde weiterhin so und wird – zu Recht – dem Publikum oft auch genau so erklärt; ein Beispiel hierfür sind die Reflexionen rund um die Bilder der Leichen von Zivilisten aus Irpin bei Kiew, die Lynsey Addario im März 2022 für die „New York Times“ gemacht hat. Hinzu kamen Bilder von Armeefotografen, internationalen Organisationen und Strafverfolgungsbehörden. Neu bei diesem Krieg ist die Vielzahl der Betroffenen, die abbilden und posten, was um sie herum geschieht, sowie die parajournalistischen Akteure wie Valeria Shashenok, die Augenzeugenschaft, Recherche und Unterhaltungselemente (Sarkasmus, Ironisierung etc.) verknüpfen, Influencer, die ihren Followerscharen aus Vorkriegszeiten nun als „Warfluencer“ das garstige Gesicht dieses Krieges zeigen. Manche ertragen so wohl ihr Leid besser, andere haben eine politische Botschaft, etliche beides.

Die Fluten von Bildern und Videos, von Augenzeugenschilderungen und Medienberichten aus dem Ukrainekrieg, die seit dem 24. Februar 2022 abermillionenfach über soziale Medienkanäle in die Timelines der Menschen in vielen Ländern strömen, machen diesen Krieg zum bislang wohl am intensivsten dokumentierten Krieg. Sie zeigen Leichen am Straßenrand in Butscha, zerstörte Häuser in Mariupol, Kinder in U-Bahnschächten, Frauen am Grab ihres gefallenen Mannes, eine Verletzte im Klinikbett mit einem frisch verbundenen amputierten Bein, Panzer, Rauchwolken, Memes und Spezielles wie einen ukrainischen Traktor, der einen russischen Panzer abschleppt; dies ist mittlerweile zum Briefmarkenmotiv geworden.

Auch die Intensität der möglichen Zeugenschaft und der Beteiligung ist immens. Verifizierungsinitiativen sowie, ebenfalls dank digitaler Technik, extrem ausgefeilte zivilgesellschaftliche sowie journalistische Aufbereitungen ermöglichen jenen, die dies interessiert, sich ein weit präziseres eigenes Bild zu machen, als dies zuvor möglich war.
 

Beispiele:
International Fact-checking Network: #UkraineFacts
The Washington Post: Database of 235 videos exposes the horrors of war in Ukraine
Forensic Architecture
Bellingcat
360war.in.ua


Andererseits kann man sich, ebenfalls der Mechanik sozialer Medien geschuldet, mitunter auch nicht so einfach entziehen. Zur bereits beschriebenen Affordanz, auf Bilder und Berichte auch zu reagieren, während man im Fernsehzeitalter noch ganz leicht passiv bleiben konnte, kommt eine visuell stimulierte Erregungsspirale bis hin zum Doomscrolling: Dann kann man kaum noch loslassen, ist gefangen vom „Untergang“ („doom“), scrollt von Schockvideo zu Schockbild. Der Algorithmus von TikTok etabliert eine Eskalationslogik, die einen vom Leichenfoto zum Schminktipp, vom Bombenhagel zum Soldatentänzchen treibt, durch immer wieder neue Reize in den Bann ziehen und dazu verleiten will, dass man möglichst lange auf der Seite verweilt, zunehmend gleichgültig, ob man Ausschnitte aus der Wirklichkeit sieht, Echtes, Gefälschtes oder Manipuliertes. Die Grundlogik ist Kern des Geschäftsmodells aller sozialen Medien: Emotion bewegt uns zur Reaktion, Empörendes lässt uns besonders rasch und häufig reagieren. Mit solchen Reaktionen und dabei produzierten Daten verdienen die Plattformbetreiber sehr viel Geld. Schon allein, dies zu wissen, kann wiederum die eigene Resilienz stärken.
 

Nachrichtenjournalismus mit Wir-Orientierung, Gefühl und Verstand

Aufmerksamkeit erhält also, wer eine soziale Beziehung zu seinem Publikum aufbaut. Bilder und empathische Geschichten wecken das Bedürfnis, mit anderen über sie zu reden, sie zu teilen. Gefühle wie Solidarität, Hass, Wut etc. erzeugen Meinungen, bewegen Menschen, treiben sie zum Handeln an, auch zum kommunikativen Handeln z. B. in sozialen Medien. Nachrichtenmedien müssen sich das endlich zunutze machen. Gerade in Krisenzeiten können sie so ihre Relevanz und Wirkung stärken. Im Nachrichtenjournalismus galten Gefühle lange Zeit als unseriös und unprofessionell, obschon sie menschlich und realitätsprägend sind. Etliche zogen mittlerweile bereits nach, auch unter dem Eindruck des Erfolgs von Social-Media-Plattformen sowie um jüngere Zielgruppen wieder besser zu erreichen; Formate wie STRG_F oder Y-Kollektiv, die im ARD/ZDF-Contentnetzwerk FUNK produziert werden, veranschaulichen z. B., wie das aussehen kann; neu auch eine von Jule und Sascha Lobo gestartete Podcastserie Feel the News – Was Deutschland bewegt, in der sie Nachrichtliches, Emotionales und Interaktives thematisieren – u. a. auch „Kriegfluencer“. Die beiden wollen Informationsinhalten hohe Resonanz verschaffen, indem sie ihr Publikum emotional ansprechen und einladen, sich über Sprachnachrichten zu beteiligen, also eine soziale Beziehung zu ihm aufbauen.
 

Ohnmachtsgefühl im Krieg in der Ukraine: Können wir überhaupt etwas tun? (Y-Kollektiv, 05.03.2022)



Das führt ins Grundsätzliche:

  • Es ist höchste Zeit, das großteils auf Jürgen Habermas gestützte Konzept des auf die Kraft des rationalen Arguments vertrauenden, Emotionen ausschließenden, herrschaftsfreien Diskurses, das vor allen Dingen den Nachrichtenjournalismus prägte, zu erweitern. Die Kommunikationswissenschaftlerinnen Barbara Pfetsch, Maria Löblich und Christiane Eilders (2018) fordern dies für die Dissonanz und damit für das Training, mit Streit und Attacken konstruktiv umzugehen.
  • Als zweite Erweiterung muss der Ratio die Emotio an die Seite gestellt werden. Es gilt, das Beste aus beiden Welten zu schöpfen: Korrektiv ist der im Nachrichtenjournalismus ebenfalls etablierte Status der professionellen Distanz. Emotionen Raum zu geben, heißt auch, Raum zu lassen für Reflexion und hinreichend Abstand, um das journalistische Kerngeschäft zu betreiben: informieren, einordnen, kritisieren, frühzeitig warnen, Diskussionen anstoßen. Das bewahrt auch vor gegenwärtig in vielen Kommentaren und Talkrunden zutage tretenden Schieflagen durch eine Art von Journalismus, die bis hin zum Distanzverlust solidarisch und als Sprachrohr der ukrainischen Politik agiert und dabei vernachlässigt, was Studien (jüngst eine des Reuters Institute for the Study of Journalism in Oxford [Eddy/Fletcher 2022]) immer wieder belegen: Menschen schätzen es, wenn ihnen ein möglichst vollständiges Bild vermittelt wird zu Hintergründen und Sichtweisen zum Krieg in der Ukraine; notabene: Russische Propagandalügen sind keine „anderen Sichtweisen“.
  • Und wichtig auch als Beitrag zur Beziehungspflege zum Publikum ist es, dass Journalisten und Journalistinnen es just in Krisenzeiten als ihre Aufgabe begreifen, die Krisen- und Medienkompetenz der Menschen zu stärken, z. B., indem sie ihnen Wissen über Funktionslogiken sozialer Medien vermitteln und sie zur Selbstreflexion anregen – über ihr Nutzungsverhalten vom Doomscrolling bis hin zum Teilen von Inhalten, deren Quellen sich nicht zuordnen lassen.
     
Literatur:

Eddy, K./Fletcher, R.: Perceptions of media coverage of the war in Ukraine. Reuters Institute for the Study of Journalism der Universität Oxford, 15.06.2022. Abrufbar unter: https://reutersinstitute.politics.ox.ac.uk (letzter Zugriff: 15.06.2022)

Lünenborg, M./Maier, T./Töpper, C.: Affekte als sozial- relationales Phänomen medialer Kommunikation: Affekttheorien für die Medienforschung nutzbar machen. In: Studies in Communication and Media, 3/2018, S. 423–457

Pfetsch, B./Löblich, M./Eilders, C.: Dissonante Öffentlichkeiten als Perspektive kommunikationswissenschaftlicher Theoriebildung. In: Publizistik, 4/2018, S. 477–495

Sontag, S.: Regarding the Pain of Others. New York 2003
 

Weiterführende Literatur:

Prinzing, M.: Emotion. In: Communicatio Socialis, 4/2020, S. 494–501

Prinzing, M.: Bilder vom Krieg: Die Grenzen des Zumutbaren. In: Medienwoche, 16.03.2022. Abrufbar unter: https://medienwoche.ch