Wir müssen jetzt ins Internet
Neue Formate braucht das (Fernseh‑)Land
Angefangen hat alles mit SKAM (dt.: Scham), der norwegischen Teenserien-Sensation, die ab 2015 im Web und Fernsehen ausgestrahlt wurde und sich maßgeblich durch die innovative virale Verbreitung auszeichnete. Clips wurden in Echtzeit online hochgeladen, Chatnachrichten veröffentlicht, Fotos auf den zahlreichen Instagram-Accounts der Serienfiguren gepostet – gefühlt waren die Zuschauenden immer live dabei. Im Vorfeld schaltete der norwegische Sender NRK keine klassische Werbung für die Serie, Clips tauchten urplötzlich online auf, man vertraute auf die Verbreitung via sozialer Medien innerhalb der Zielgruppe. Die Staffeln widmen sich alltäglichen Konflikten unter Teenagern, bis hin zu sexuellem Missbrauch, Religion und Homosexualität. Die Serie wurde weltweit zum Erfolg und wird aktuell in zahlreichen Ländern (u.a. Italien, Frankreich, Belgien, Spanien, den USA und Deutschland) adaptiert. Die deutsche funk-Adaption trägt den Titel DRUCK, ist seit vergangenem Jahr sowohl auf YouTube, als auch auf ZDFneo zu sehen und startet aktuell mit der vierten Staffel durch.
Das Leben der Protagonistinnen und Protagonisten dort fortzuführen, wo die Zielgruppe einen Großteil ihrer Zeit verbringt, ist naheliegend: Bei SKAM und DRUCK hat jeder Charakter ein Instagram-Konto, es gibt Screenshots von WhatsApp-Nachrichten und fortlaufend Clips, aus denen die Episode der Woche besteht. Diese Clips werden in Echtzeit veröffentlicht. Wenn die Szene am späten Dienstagnachmittag stattfindet, wird der Clip auch dann online veröffentlicht – per WhatsApp-Bot werden die Fans zeitgleich informiert. Das Stichwort lautet stets: Authentizität.
Die (vorerst) vierteilige Miniserie Wir sind jetzt zeigt nicht nur in der Onlinepräsenz zahlreiche Parallelen zu SKAM. Protagonistin Laura und ihre Freunde kämpfen mit den täglichen Herausforderungen des Erwachsenwerdens, bevor ein Schicksalsschlag ihr Leben verändert. Bereits einen Monat vor TV-Start stellte RTL II, exklusiv online, wöchentlich je eine neue Folge zur Verfügung. Die Serie hat einen formateigenen Instagram-Account, der auf den ersten Blick eher ein klassischer Werbekanal mit Material aus den Folgen, Presse- und Premierenfotos ist. Darüber hinaus gibt es jedoch kurze, auch exklusiv für Instagram produzierte Videos, in denen Laura zu ihren Freunden/Followern spricht. Insgesamt erzeugen die Videoclips, Fotos und Kommentare für die Charaktere der Formate eine Tiefe, die nicht einmal Rückblenden im herkömmlichen Fernsehen bieten.
Vor allem ist die Nutzung der sozialen Medien in den Formaten äußerst innovativ. Die Notwendigkeit ergibt sich aus den veränderten Nutzungsgewohnheiten. Herkömmliches Fernsehen ist eine Einbahnstraße: Das Modell hat sich zwar seit mehr als 50 Jahren als stabil erwiesen, bricht jedoch im Zeitalter von YouTube, Facebook und Twitter zunehmend zusammen.
Social TV, so wird sie genannt, die Verbindung von Social Media und Fernsehen. Das Phänomen umfasst Apps, Hashtags und Social-Media-Kanäle. Multimedialität, die die Zuschauenden zu Interaktivität und Austausch im Internet animiert, sie an Sender und Format bindet. In den vergangenen Jahren stieg auch die Verbreitung und Beliebtheit von Social TV in Deutschland, zahlreiche Formate von Tatort bis Germany’s Next Topmodel nutzen beispielsweise formateigene Hashtags. Studien zeigen, dass Nutzende von Social TV durchschnittlich eher jünger sind und sich auch außerhalb der Sendezeit mit den Onlineangeboten beschäftigen. Besonders Reality- und Scripted-Reality-Formate wissen dies bereits für sich zu nutzen. SKAM, DRUCK und Wir sind jetzt bieten Jugendlichen durch eine konsequente Umsetzung von Social TV die Möglichkeit, sich auszutauschen, auf Gleichgesinnte zu treffen, gemeinschaftlich mitzufiebern, wie es mit ihren Lieblingsfiguren weitergeht.
Fernsehen wird sozialer, authentischer, interaktiver – Social TV bietet eine klare kreative Chance. Was wäre, wenn all diese scheinbar unterschiedlichen Aktivitäten und digitalen Plattformen in einer einzigen Erzählung zusammengefasst werden könnten – wie ein Gesamtkunstwerk für das Internetzeitalter? Würde es die altmodische Fernsehserie so antik erscheinen lassen wie das Schwarz-Weiß-Fernsehen nach dem Erscheinen des Farbfernsehens? Die Zeit scheint richtig für Experimente und das Fernsehen der Zukunft.
Weiterführende Literatur:
Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs): JIM-Studie 2018. Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19‑Jähriger. Stuttgart 2018. Abrufbar unter: https://www.mpfs.de
Goldhammer, K./Kerkau, F./Matejka, M./Schlüter, J.: Social TV: Aktuelle Nutzung, Prognosen, Konsequenzen. Leipzig 2015. Abrufbar unter: https://www.medienanstalt-nrw.de