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Worüber man reden kann

Jan Bojaryn

Jan Bojaryn schreibt als freier Autor über Videospiele und vergleichbar wichtige Themen. Seine Artikel erscheinen in Tageszeitungen, Fach- und Kulturzeitschriften, zuletzt bei Zeit Online, „Süddeutsche Zeitung“, „GEE“, „Kreuzer“ und „Mare“.

Viele Games haben nichts zu sagen, auch wenn Krieg gespielt wird. Gerade der Nationalsozialismus geisterte über Jahrzehnte hinweg als unaussprechliches Phantom über die Bildschirme. Seit einigen Jahren ist der Blick auf problematische Realitäten frei.

Printausgabe mediendiskurs: 29. Jg., 1/2025 (Ausgabe 111), S. 35-41

Vollständiger Beitrag als:

Videospiele können unterhaltsam sein. Viele bieten oberflächliche Unterhaltung. Können sie komplexe Themen überhaupt angemessen darstellen? Über Jahrzehnte hinweg wurde diese Frage in Deutschland verneint. 2018 erfolgte ein grundlegender Richtungswechsel. Seitdem gelten Videospiele in Deutschland als adäquates Medium für eine kritische Auseinandersetzung auch mit Themen wie dem Nationalsozialismus. Seine Symbole, seine Propaganda und seine Schrecken dürfen dargestellt werden – wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Hat sich nach diesem Paukenschlag etwas geändert? – Durchaus. Allerdings nicht so viel, wie manche erhofft oder befürchtet haben. Dieser Beitrag wirft einen kurzen Blick auf die langwierige Debatte über die Möglichkeit von Games, die NS-Zeit darzustellen. Vor allem will er zeigen, was sich geändert hat und was in Zukunft zu erwarten ist. Wer die jetzt geltende Regelung beurteilen will, der muss auch wissen, was Videospiele überhaupt mit komplexen und kontroversen Themen anfangen können. Ein gutes Beispiel ist in diesen Tagen erschienen: The Darkest Files, ein Adventure des Berliner Spielestudios Paintbucket Games. Für diesen Artikel konnten wir es ausführlich begutachten.
 


Licht in dunkle Aktenschränke

Esther Katz steht unter Druck. Die junge Anwältin tritt im Frankfurt der 1950er-Jahre ihre neue Stelle bei Generalstaatsanwalt Fritz Bauer an. Sie soll Verbrechen aufklären, von denen viele Zeitgenossen nichts mehr hören wollen. In der Tageszeitung wird Esthers Chef angegriffen, die Arbeitsstelle ist schlecht ausgestattet und die Eltern machen sich Sorgen um den guten Ruf ihrer Tochter. Doch Esther Katz geht unbeirrt ans Werk – solange die Spielenden das tun. Der erste Fall wartet schon: War die Tötung eines Mannes in der Endphase der NS-Herrschaft Mord oder eine Hinrichtung nach damals geltendem Recht?

Die Prämisse von The Darkest Files klingt nicht nur nach einem genreüblichen Prozesskrimi – formal ist das Spiel einer. Das Genre ist auch im Gaming populär, doch dieses besondere historische Setting ist unerhört. In mehreren Interviews vorab hat das Studio seine Intentionen deutlich gemacht. Ganz bewusst haben die Entwicklerinnen und Entwickler von Paintbucket Games sich mit der juristischen Aufarbeitung des Dritten Reiches ein Thema gesucht, das laut Lead Game Designerin Mona Brandt „bei vielen gar nicht so präsent“ ist (Bojaryn 2022).

Die Aufarbeitung berührt Traumata von Menschen, die wirklich in diese Fälle involviert waren. Und das Team von Paintbucket Games erhebt einen Anspruch auf historische Genauigkeit: Die Verbrechen „sind wahr und wurden vor deutschen Gerichten verhandelt“, so Brandt 2022. Das nun fertige Spiel erscheint nicht als Serious Game, sondern als kommerziell erhältlicher Titel auf der beliebten Plattform Steam.

In der Egoperspektive wird Esther Katz durch Büros, Hinterzimmer und Gerichtssäle gesteuert, um Spuren zu sammeln. Sie liest Dokumente, gleicht Informationen ab, bittet Leute zum Verhör. Was am Ende vor Gericht gebracht wird, wer angeklagt und wer verurteilt wird, das ist durchaus offen. Im Nachhinein kennzeichnet das Spiel aber auch den tatsächlichen Ausgang der historischen Fälle.
 

Studio mit Mission

Für viele Spielestudios mag eine so explizite Beschäftigung mit einem komplexen politischen Thema ungewöhnlich sein, bei Paintbucket Games ist sie Teil der Gründungsidee: Sie wollen Games entwickeln, „die relevante Themen fesselnd behandeln“, schreiben sie auf der eigenen Homepage, und „ein Statement setzen gegen Rassismus, Antisemitismus und jede andere Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ (Paintbucket 2024). Das ist bemerkenswert in einer Szene, in der viele Studios und Einzelpersonen jede politische Position bewusst leugnen (vgl. King 2021); und in der Teile des Publikums recht wahllos Spiele attackieren, die sich als progressiv zu erkennen geben (vgl. Bojaryn 2024).

Trotzdem: Spiele, die sich explizit mit dem Nationalsozialismus beschäftigen, gibt es schon lange. Und im Bereich der Serious Games, die zumeist mit einer klar erkennbaren pädagogischen Intention und vergleichsweise kleinen Budgets entwickelt werden, beschäftigen sich „besonders viele“ mit „Facetten der NS-Terrorherrschaft“ (Nolden 2023). Bei großen Studios taucht das Thema mitunter in aufwendig produzierten Action- und Strategiespielen auf. Hier steht eher die Unterhaltung im Vordergrund; die politische Dimension des Konflikts wird manchmal eher verdrängt, manchmal aber auch „verzerrt“ (Nolden 2022). Nur selten stellt sich ein Titel wie The Darkest Files deutlich gegen diesen Status quo.
 


Starkes Spiel mit klarer Botschaft

Trotz einiger Abstrahierungen und Abkürzungen ist The Darkest Files ein technisch aufwendiges 3D-Spiel. Die Fälle sind komplex und beinhalten eine Vielzahl zu sichtender Quellen. The Darkest Files präsentiert eine frei begehbare Anwaltskanzlei, fallbezogen weitere Schauplätze, und fährt ein beachtliches Charakterensemble auf. Durch seine stilisierte und farbarme Optik behält es eine gewisse Distanz zum Thema. Spätestens in den Verhören erweist sich das als hilfreich, denn die nur leicht fiktionalisierten Tatsachenberichte erzählen traumatische Erlebnisse realistisch nach. Eine gewisse Distanz brauchen die Spielenden, um den Überblick zu behalten – und mitunter auch, um das Gehörte zu ertragen.

Die Geschichte spielt sich wie eine Anstiftung zur Zivilcourage. Mit Esther durch die oft verworrenen und kleinteiligen Akten zu steigen und unwiderlegbare Schlüsse herauszuarbeiten, wirkt im Spiel wie echte Ermittlungsarbeit. Wenn es gelingt, Recht gegen juristische und gesellschaftliche Widerstände durchzusetzen, fühlt sich das im Spiel wie ein Triumph an. Und wenn dann die fehlende Wertschätzung deutlich wird, erscheint die fiktive Anwältin als Vorbild – und indirekt auch ihr Chef.

The Darkest Files ist eine informationsreiche historische Fiktion mit einer klaren Botschaft. Das Spiel hat eine pädagogische Dimension, die aber nicht im Vordergrund steht. „Wir können kein Schulbuch ersetzen“, hat Brandt im Interview gesagt. Doch vielleicht könne man einen Anreiz geben, „Dinge im Schulbuch noch einmal nachzulesen.“
 

II 

Der lange Weg zur Erinnerung

So offen wie in The Darkest Files sind die Verbrechen der NS-Zeit in Videospielen nur selten sichtbar. Noch vor wenigen Jahren war es sogar geboten, sie zu verstecken und zu verschleiern. Selbst wenn Nazis in internationalen Titeln als Gegner auftauchten, verschwanden sie aus den Spielversionen für den deutschen Markt wieder – aus Sorge vor einer Verherrlichung. Wie Spiele dieses Tabu überwunden haben, wurde schon oft erzählt; beispielhaft ist etwa der Aufsatz der Historiker Eugen Pfister und André Postert für die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) (Pfister/Postert 2022).

Ein besonderer Knackpunkt der geltenden Regelung war die Auslegung des § 86 StGB (vgl. dazu Stark 2018). Die Darstellung eines Hakenkreuzes, ob auf einem Spielzeug oder in einem Videospiel, ist streng genommen die Verbreitung solcher Propagandamittel. Auch schon vor dem Aufkommen des Heim-Marktes für Videospiele herrschte Unsicherheit, ob etwa „das kleine Hakenkreuz am Seitenruder eines Modellflugzeugs“ schon als Verherrlichung gelten und das Spielzeug polizeilich beschlagnahmt werden müsste (Pfister/Postert 2022).
 

Kein Hakenkreuz, kein Problem?

Als vermeintliche Lösung des Problems etablierte sich ein schlichter Symboltausch: Reichsadler oder Fantasielogos anstelle des Hakenkreuzes erlaubten es, internationale Spiele zu veröffentlichen, in denen der Zweite Weltkrieg Thema war. Die Lösung wurde zuerst im Brettspielbereich angewendet, später auch in Videospielen. Doch die Regel wurde durchaus hinterfragt und getestet. Gleich zweimal spielte die Actionserie Wolfenstein eine prägende Rolle dabei.

Das Spiel Wolfenstein 3D wurde 1992 von id Software veröffentlicht und erregte mit seiner „exzellenten First-Person-Grafik und weichem Scrolling“ international Aufsehen (Computer Game Review 1992). Spielheld B. J. Blazkowicz schießt sich in der Feigenblatt-Story durch Levels, die nur mit etwas Fantasie als Nazifestung oder ‑labor erkennbar sind. Endgegner des Spiels ist Adolf Hitler persönlich in einem Robo-Kampfanzug. Eine „solide Idee“, urteilte etwa das zeitgenössische Magazin „Computer Game Review“ (ebd.). Nazis sind in dem Spiel Bösewichte, die nicht mehr erklärt werden müssen, auf die sich alle einigen können – diese implizite Annahme lässt sich aus dem Spiel herauslesen. Nazis eignen sich als unhinterfragte Zielscheibe. In diesen Spielen geht es vordergründig nur um Ausweichen und Schießen, nicht um die Identität des Gegners.

Dass Wolfenstein 3D von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) indiziert wurde, lag nicht an den weithin sichtbaren Wandteppichen mit Hakenkreuz – es lag vor allem an der „blutrünstige[n]“ Darstellung von Gewalt und der „Verherrlichung von Selbstjustiz“ (Pfister/Postert 2022). Erst in einem späteren Prozess anlässlich der Verbreitung des Spiels fiel das in der Branche berüchtigte „Wolfenstein-Urteil“. Es legte fest, dass in Games pauschal „keine Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen gezeigt werden“ dürfen (Stark 2018).

Mit diesem Urteil wurde eine Praxis der deutschen Spielebranche bestätigt, die Pfister und Postert in ihrem Artikel als „vorauseilende Zensur“ charakterisieren. Was möglicherweise hätte beanstandet werden können, wurde vorsorglich entfernt. Dem Offensichtlichen haftete etwas Unaussprechliches an – wenn etwa in den genannten Call of Duty-Egoshootern Fraktionen in Mehrspielermodi wertfrei nebeneinanderstehen. Wenn sich Spielerinnen oder Spieler in diesem Setting dafür entscheiden, die „deutsche“ Fraktion zu spielen, was sagt das dann aus? Entwickler Glen Schofield vom Call of Duty-Publisher Activision flüchtete sich auf die Position, „das deutsche Militär“ sei nicht gleichbedeutend mit „Nazis“ (Nolden 2022). Vor dem Hintergrund der viel beachteten Wehrmachtsausstellungen in Deutschland wirkt diese Aussage geschichtsvergessen. Für den Historiker Nico Nolden ist sie „apologetisch und revisionistisch“.
 


Unsichtbare Nazis

Paintbucket-Gründer Jörg Friedrich hat in einem Interview mit Historiker Felix Zimmermann den beschämenden Effekt der damals geltenden Regelungen auf den Punkt gebracht: Wer nur von Computerspielen über das Dritte Reich lerne, der begegne nie dem Holocaust, „und Nazis wären die Fraktion, die zwar niemand mag, die aber die schicksten Uniformen und die besten Panzer hat“ (Zimmermann 2017). Auch Pfister und Postert urteilen, dass der Nationalsozialismus nicht zum Verschwinden gebracht werden konnte; „nur seine Symbole tauchten ins Halbdunkel ab“ (Pfister/Postert 2022).

Auch wenn die hiesige Szene immer wieder über die Selbstzensur witzelte und meckerte, blieb die Praxis unangetastet. Ein neues Wolfenstein-Spiel aber brachte Bewegung in die Sache – indem es die gängige Praxis auf eine absurde Spitze trieb.

Der Egoshooter Wolfenstein II: The New Colossus traf 2017 einen Nerv. Das Actionspiel erzählte eine schrille, abwechslungsreiche Geschichte wie aus einem B-Movie. Gerade in den USA wurde aber auch der sehr deutlich antifaschistische Ton des Spiels wahrgenommen und als Botschaft gelesen – zu der Zeit war Donald Trump erstmals US-Präsident und hatte sich angesichts des White-Power-Marsches in Charlottesville über „very fine people, on both sides“ ausgelassen (Holan 2019). Kurz darauf wurde Werbung für Wolfenstein II mit einer klaren antifaschistischen Botschaft ausgestrahlt – der Herausgeber des Spiels sah „eine Gelegenheit, uns gegen diese Ereignisse zu stellen“ (MCV Staff 2017).

Das neuere Wolfenstein gibt mit einer immer noch trashigen, aber ausführlichen und aufwendig inszenierten Geschichte Anlass, es ernster zu nehmen und auf seine intendierte Bedeutung hin zu untersuchen. Wolfenstein II macht den Nationalsozialismus einerseits lächerlich, indem es etwa einen alterssenilen, inkontinenten Hitler auftreten lässt; es stellt die Nazis aber andererseits auch als monströse, existenzielle Bedrohung dar.

Die besondere Direktheit des schwedischen Entwicklerstudios MachineGames wurde für den deutschen Markt einer besonders strengen Selbstzensur unterlegt. In der Version des Spiels für den deutschen Handel verschwanden nicht nur Hakenkreuze und Hitlers Schnurrbart, sondern auch das Judentum. Aus „Juden“ wurden im Spiel „Verräter“. Von großen Teilen der deutschen Spielepresse wurde das zuerst kaum thematisiert (vgl. etwa Elsner 2017), doch gerade außerhalb der Nische regte sich empörter Protest. Der Journalist Christian Schiffer erkannte in dem Spiel ein „Fest für Holocaust-Verharmloser“ (Schiffer 2017). Es „entsorgt […] die Verbrechen der Nationalsozialisten und marginalisiert alles jüdische“, so Schiffer in einem Artikel für den Deutschlandfunk.

War es vor diesem Hintergrund geboten, die gängige Praxis kritisch zu hinterfragen? Zahlreiche Stimmen in der Öffentlichkeit sahen das nicht so (vgl. Pfister/Postert 2022). Doch vielleicht wurde hier auch eine laxe Praxis befürchtet, die nie eingetreten ist. Schon seit 2003 müssen Spiele auf Trägermedien von der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) geprüft werden, um überhaupt eine Freigabe für den Handel zu erhalten (vgl. USK 2025). Nun änderte sich nur die Praxis, dass auch Spiele mit verfassungsfeindlichen Symbolen bei der USK landeten – statt wie vorher einfach keine Jugendfreigabe und damit keinen Zugang auf den offenen Markt zu erhalten.

Die ersten Freigaben der USK halfen, öffentliche Zweifel an der neuen Praxis zu zerstreuen. Neben einer weiteren Wolfenstein-Fortsetzung wurde ein Spiel von Paintbucket Games freigegeben. Through the Darkest of Times handelt von einer Widerstandsgruppe in Berlin zur Zeit des Dritten Reiches. Vor dem Hintergrund solch klar antifaschistischer Spiele relativierten auch ursprüngliche Kritiker der neuen Praxis ihre Position – nicht zuletzt die damalige Familienministerin Giffey erklärte, „in Ausnahmefällen“ sei das Zeigen verfassungsfeindlicher Symbole doch berechtigt (Pfister/Postert 2022).

Eine Flut an Nazipropaganda ist also nicht erschienen – sie wäre wohl auch nicht freigegeben worden. Doch auch eine Flut antifaschistischer Spiele hat sich noch nicht eingestellt. Teile des Spiele-Publikums fordern beharrlich, „das Politische aus ‚ihren‘ Spielen herauszuhalten“ (Zimmermann 2020, S. 11). Und der Geist der vorauseilenden Selbstzensur bleibt wach. Publisher entsorgen allerlei aus ihren Spielen, was als politisch, kontrovers oder unbequem gelesen werden kann (vgl. King 2021).
 

Neue Erinnerungshilfen

Warum Spiele Vergangenes in welcher Form darstellen, damit hat sich die Stiftung Digitale Spielekultur in den letzten Jahren ausführlich beschäftigt. Sie unterhält ein Portal zum Themenkomplex „Games – Erinnerung – Kultur“ und darin u. a. die Datenbank „Games und Erinnerungskultur“, in der Spiele von Fachleuten kritisch auf ihre historische Dimension und ihr medienpädagogisches Potenzial untersucht werden (Stiftung Digitale Spielekultur 2024).

Gegenstand der Datenbank sind nicht nur pädagogisch gemeinte Spiele. Zu Schlüsselbegriffen der NS-Zeit wie dem Holocaust finden sich in der Datenbank nur 27 Spiele – darunter einige, die auf Steam gar nicht angeboten werden. Dass der Holocaust in Spielen traditionell gemieden wird, lässt sich an anderer Stelle bei Eugen Pfister nachlesen (vgl. Pfister 2016).

Wie könnten Spiele sich dem schwierigen Thema der NS-Diktatur angemessen stellen? Wege zu einer konstruktiven Antwort hat die Stiftung mit einem „Pitch Jam“ gesucht – sie hat „Expert*innen aus Feldern wie Spieleentwicklung, Game Studies, Geschichtswissenschaft, Gedenkstättenarbeit und Pädagogik“ zusammengebracht, um insgesamt sieben Spielideen zu entwickeln (Stiftung Digitale Spielekultur 2020, S. 79); allerdings nur als Pitch (als ausformulierten Vorschlag). Eine weitergehende Entwicklung der Spiele gehörte nicht zum Maßstab des Projekts. Viele Titel lassen sich am ehesten in die Nische der Serious Games einsortieren – sie stellen die pädagogische Intention in den Vordergrund und geben mitunter direkt an, in welchen Klassenstufen sie eingesetzt werden könnten.
 


III

Meine Oma und die Zukunft

Ein Projekt aus dem „Pitch Jam“ wird unter anderem Namen tatsächlich realisiert. Alexander Zenker vom Spielestudio ROTxBLAU hat gemeinsam mit acht anderen Personen den Pitch This Memory of Mine entwickelt. Sein Studio entwickelt nun mit anderem Personal den darauf aufbauenden Titel Meine Oma (88).

Der Fokus des Spiels liegt für ihn auf dem „Familienschweigen“, so Zenker in einem Interview für diesen Artikel. Das hat sich seit dem Pitch nicht wesentlich geändert: Schon damals ging es um die Auseinandersetzung mit oft wiederholten Narrativen über die NS-Zeit in Familien – und um Leerstellen, die darin mehr und weniger bewusst weitergetragen werden. Als „zentrale und zunächst allmächtig erscheinende Erzählfigur“ steht die Großmutter der Protagonistin im Fokus, die als Pflegerin im NS-Regime Schuld auf sich geladen hat und nun „lediglich ihre Version der Geschichte“ erzählen will (Stiftung Digitale Spielekultur 2020, S. 82).

In der Entwicklung sucht ROTxBLAU den Austausch mit Fachleuten, u. a. für Geschichte und Psychologie. Doch „wir machen kein Serious Game“, hat Zenker im Interview klargestellt. Er will „Grenzen austesten“ mit einem Spiel, das gezielt auf Lücken in der Erinnerungskultur zielt; hier sieht er als „große Schwachstelle“ „die Selbstreflexion und den Blick auf sich selber“.

Dass hier auch über das Medium Games hinaus eine Baustelle der Erinnerungskultur liegt, bezeugen nicht nur die Fachleute zum Thema, die den ursprünglichen Pitch mit entwickelt haben. Auch bei einer Podiumsdiskussion im Februar 2025 in der Leipziger Stadtbibliothek anlässlich der ROTxBLAU-Kampagne „Erzähl doch mal …“ stand dieses Schweigen im Mittelpunkt (vgl. Leipziger Städtische Bibliotheken 2025). Einer der Vorreiter auf dem Feld der innerfamiliären Aufarbeitung saß mit auf der Bühne: Peter Pogány-Wnendt, Psychotherapeut und Vorsitzender des Arbeitskreises für intergenerationelle Folgen des Holocaust. In dem 1995 gegründeten Verein begegnen sich Nachkommen von Opfern und von Tätern der NS-Zeit. Pogány-Wnendt bezeugte auf der Bühne, dass Traumata „unbewusst über die Erziehung weitergegeben“ würden. Die Verdrängung der Erinnerung an die NS-Zeit sei „ein destruktives Erbe“, die Sehnsucht nach einem Schlussstrich viel zu einfach.

Scham und Schuldgefühle behindern bis heute eine offene und selbstreflexive Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, auch bei den Nachkommen der Opfer und Täter von damals. Hier will das Spiel Meine Oma (88) ansetzen. Zenker erkennt ein besonderes Potenzial seines Mediums, das Tabu mit Humor zu brechen. Im Zentrum des Spiels steht die Erzählung der Oma – und die Möglichkeit der Protagonistin, sich dazu zu verhalten. In Anlehnung an den satirischen Indie-Spiele-Hit The Stanley Parable strebt Zenker mit seinem Team eine ständige Reibung zwischen einer autoritären Erzählstimme und der Möglichkeit des Spielenden an, sie interaktiv zu untergraben. In diesem Widerstand gegen löchrige und beschönigte Narrative sollen Spielende sich daran erinnert fühlen, „wie es in der eigenen Familie ist“.

Gelingt der ambitionierte Versuch, dann entwickelt ROTxBLAU mit Meine Oma (88) einen bissigen und produktiven Diskussionsbeitrag zur NS-Erinnerungsdebatte. Zuversichtlich macht die Offenheit, mit der das Team sein Projekt angeht. So stand die Podiumsdiskussion im Zeichen eines Aufrufs von ROTxBLAU, vom eigenen Erinnern in der Familie zu erzählen – die gesammelten Berichte sollen in das Projekt einfließen.

In Spielen einen aktiven Beitrag zur Erinnerungskultur zu leisten, ist also möglich – und vielleicht verbirgt sich hier sogar ein besonderes Potenzial. Videospiele erreichen ein anderes Publikum. Sie bieten andere Möglichkeiten der Auseinandersetzung und Vermittlung. Nimmt man die bisher erschienenen Titel als Beispiel, so zeigt sich allerdings auch: Solche Spiele sind keine Selbstläufer. Das Publikum ist vergleichsweise klein, die Finanzierung schwierig. Doch verschiedene Akteure versuchen es trotzdem hartnäckig. Wenn es ihnen gelingen soll, brauchen sie nachhaltige Unterstützung.
 

Literatur:

Bojaryn, J.: „Das Übel vor Gericht bringen“. In: Kreuzer, Oktober 2022, S. 42. Leipzig 2022

Bojaryn, J.: Gamergate bleibt eine Blaupause. In: mediendiskurs.online, 19.11.2024. Abrufbar unter: https://mediendiskurs.online (letzter Zugriff: 07.03.2025)

Computer Game Review: CGR Reviews Wolfenstein 3D. In: Computer Game Review, 2/1992/2, S. 18. Abrufbar unter: https://archive.gamehistory.org (letzter Zugriff: 07.03.2025)

Elsner, P.: Wolfenstein 2: The New Colossus im Test – Brutal gut. In: GameStar, 26.10.2017. Abrufbar unter: https://www. gamestar.de (letzter Zugriff: 07.03.2025)

Holan, A. D.: In Context: Donald Trump’s ‚very fine people on both sides‘ remarks (transcript). In: PolitiFact, 26.04.2019. Abrufbar unter: https://www.politifact.com (letzter Zugriff: 07.03.2025)

King, J.: Far Cry Is Political And I’m Tired Of Ubisoft Pretending It Isn’t. In: TheGamer, 28.05.2021. Abrufbar unter: https://www.thegamer.com (letzter Zugriff: 07.03.2025)

Leipziger Städtische Bibliotheken: Erzähl doch mal …“ – Was hat Erinnerungskultur mit mir zu tun?In: Leipziger Städtische Bibliotheken, 06.02.2025. Abrufbar unter: https://stadtbibliothek.leipzig.de (letzter Zugriff: 07.03.2025)

MCV Staff: Wolfenstein 2’s ‚Punch a Nazi‘ marketing campaign is ’a healthy avenue to vent frustration’ says Bethesda. In: MCV/DEVELOP, 17.10.2017. Abrufbar unter: https://mcvuk.com (letzter Zugriff: 07.03.2025)

Nolden, N.: Digitale Spiele, Geschichte und Erinnerungskultur. In: Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), 28.03.2022. Abrufbar unter: https://www.bpb.de (letzter Zugriff: 07.03.2025)

Nolden, N.: Why so serious?!“ Digitale Spiele als erinnerungskulturelle Medien auf der Suche nach geeigneter Methodik. In: Lernen aus der Geschichte, 20.12.2023. Abrufbar unter: https://lernen-aus-der-geschichte.de (letzter Zugriff: 07.03.2025)

Paintbucket Games: About Us. In: paintbucket.de, 2024. Abrufbar unter: https://paintbucket.de (letzter Zugriff: 07.03.2025)

Pfister, E.: Das Unspielbare spielen – Imaginationen des Holocaust in Digitalen Spielen. In: zeitgeschichte, 4/2016/43, S. 250ff.

Pfister, E./Postert, A.: Spiele mit Hakenkreuzen – zum Umgang mit Ideologie und Vergangenheit. In: Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), 28.03.2022. Abrufbar unter: https://www.bpb.de (letzter Zugriff: 07.03.2025)

Schiffer, C.: Wolfenstein 2: Wie ein Computerspiel deutsche Geschichte entsorgt. In: Deutschlandfunk, 09.11.2017. Abrufbar unter: https://www. deutschlandfunk.de (letzter Zugriff: 07.03.2025)

Stark, S.: Von Wolfenstein bis Attentat 1942: § 86a StGB. In: Grimme Game, 2018. Abrufbar unter: https://www. grimme-game.de (letzter Zugriff: 07.03.2025)

Stiftung Digitale Spielekultur (Hrsg.): Erinnern mit Games. Digitale Spiele als Chance für die Erinnerungskultur. Berlin 2020. Abrufbar unter: https://www.stiftung-digitale-spielekultur.de (letzter Zugriff: 07.03.2025)

Stiftung Digitale Spielekultur: Datenbank: Games und Erinnerungskultur. In: Stiftung Digitale Spielekultur, 2024. Abrufbar unter: https://www.stiftung-digitale-spielekultur.de (letzter Zugriff: 07.03.2025)

Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK): Häufige Fragen. Was tut der Staat für den Jugendschutz? Berlin 2025. Abrufbar unter: https://usk.de (letzter Zugriff: 07.03.2025)

Zimmermann, F.: Wider die Selbstzensur – Entwickler Jörg Friedrich und Johannes Kristmann im Interview. In: gespielt – Arbeitskreis Geisteswissenschaften und Digitale Spiele, 27.08.2017. Abrufbar unter: https://gespielt.hypotheses.org (letzter Zugriff: 07.03.2025)

Zimmermann, F.: Status Quo der Erinnerungskultur mit Games. In: Stiftung Digitale Spielekultur (Hrsg.): Erinnern mit Games. Digitale Spiele als Chance für die Erinnerungskultur. Berlin 2020, S. 10 ff. Abrufbar unter: https://www. stiftung-digitale-spielekultur.de (letzter Zugriff: 07.03.2025)