Zugänge zur Medienwelt sind mediale Zugänge zur Welt

Das neue Portal MEDIENRADAR hilft, diese zu finden

Andreas Tietze

Dr. Andreas Tietze ist Lehrer am Herder-Gymnasium in Berlin.

Bildung, der Weg zur Entfaltung der im einzelnen Menschen liegenden Potenziale und zur Herausbildung einer mündigen Individualität, führt über die „Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung“ (Humboldt 2012, S. 94). Dieser Grundsatz ist, seit Humboldt ihn am Beginn des 19. Jahrhunderts formuliert hat, ein Allgemeinplatz. Das macht die Einsicht darin weder falsch noch überflüssig. Die Zeit verlangt einem solch weit gefassten Begriff jedoch erhebliche Konkretisierungen, Spezifikationen und Ausfächerungen ab – und das nicht nur, weil sich die Welt ändert. Jene Wechselwirkungen und die sich darin vollziehende Aneignung der Welt erfolgen schon seit Langem und in weiter zunehmendem Maße durch mediale Vermittlung. Damit geraten räumliche, kulturelle, milieu- und altersbedingte Grenzziehungen ins Wanken und neue Distinktionslinien strukturieren den medialen Zugang zur Welt. Das birgt nicht zuletzt für Kinder und Jugendliche neue Chancen und neue Risiken – so weit, so bekannt. Dass diese medial vermittelte Aneignung auch einer spezifischen pädagogischen Begleitung in Theorie und Praxis bedarf, liegt auf der Hand. Hier nimmt das neue Portal medienradar.de seinen Platz ein.

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 1/2021 (Ausgabe 95), S. 12-15

Vollständiger Beitrag als:

 

Zwischen Jugendmedienschutz und Medienbildung

Herausgeber des im November 2020 gestarteten Portals ist die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), die in Kooperation mit einschlägigen Partnerinstitutionen aus dem Bereich der Medienpädagogik sowie mit Unterstützung der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) für die inhaltliche und didaktische Konzeption des Medienradars verantwortlich zeichnet. Zentrales Anliegen des Portals ist es, der schulischen wie der außerschulischen Bildungsarbeit Anregungen, Hintergrundwissen und Materialien für die medienpädagogische Arbeit zur Verfügung zu stellen. Wenngleich das Themenfeld „Medienpädagogik“ nicht nur als Subdisziplin mittlerweile etabliert ist und der fachliche Diskurs über die Theorie hinaus weit in die Bildungspraxis hineinwirkt, lässt sich im Medienradar eine Bereicherung erkennen.

Insbesondere die explizite Ausrichtung auf Medienkritik und Medienreflexion als Kernelemente einer zu entwickelnden Medienkompetenz (vgl. Mikat 2020, S. 12 ff.) fokussiert den Zweck des Portals klar auf die rezeptive Nutzung von Medien und bedient damit – insbesondere dank der umfangreichen Materialien – ein bisher bestehendes Desiderat (vgl. Dander 2017, S. 109 f.). Zwar sind medienpädagogische Portale sowohl freier als auch behördlicher Träger seit Jahren zunehmend von Bedeutung, auch in der schulischen Bildung. Aber vor allem die pädagogische Begleitung des Medienkonsums älterer Kinder und Jugendlicher stößt bisher immer wieder auf Herausforderungen, wenn es darum geht, analytische Hilfen und geeignete, aktuelle Beispielmaterialien zu finden. Hier kann die Verankerung des Herausgebervereins im Jugendmedienschutz eine Perspektive der Medienbildung stärken, die gegenwärtig häufig auf allgemeine Beiträge zugreifen muss und oft hinter Fragen der performativen Mediennutzung durch Kinder und Jugendliche im Bereich „Social Media“ zurücksteht.

In diesem Sinne versteht sich Medienradar als medienpädagogisches Angebot an Pädagoginnen und Pädagogen, die für ihre Arbeit – die Herausbildung eines reflektierten und kritischen Umgangs mit medialen Darstellungen – Ideen, Unterstützung, Hintergrundwissen oder Materialien suchen.

Tatsächlich spiegelt sich der professionelle Adressatenkreis auch in der Wahl und Aufbereitung der Themen wider. So werden die bisher bereitgestellten Themen aus ihrem unmittelbaren Lebensweltbezug herausgelöst und auf eine offene und sachlich diskursive Weise der Analyse erschlossen. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht die verstehende Medienanalyse und ‑reflexion, die professioneller Begleitung bedarf.

Zwar sind vor allem die Hintergrundinformationen eine reiche Fundgrube auch für Jugendliche, die sich aus eigenem Antrieb informieren wollen, ebenso wie für Eltern. Dennoch sind die Materialien in ihrer Auswahl und Zusammenstellung eindeutig auf die systematische, pädagogisch angeleitete Beschäftigung ausgelegt und in dieser Form kaum als Ratgeber für z.B. Eltern mit konkreten Fragen zu Risiken des Medienkonsums geeignet. Wer allerdings qualifizierte Hintergrundinformationen zu den behandelten Themen sucht, findet hier einen gut geeigneten Ausgangspunkt für die Recherche.

In dem Zusammenhang erscheint es auch begrüßenswert, dass der Jugendmedienschutz selbst thematisiert, mit Hintergrundinformationen aufgeschlossen und dank einer didaktischen Aufbereitung auch als Unterrichtsthema zugänglich gemacht wird. Diese Selbstreflexion nimmt mit der gestellten Aufgabe eben auch die Notwendigkeit, die Ziele und die Mittel des Jugendmedienschutzes in den Blick und macht diesen selbst zum potenziellen Diskussionsgegenstand.
 

 

Das Thema als Zentrum

Der Aufbau des Portals ist darauf ausgerichtet, die Inhalte übersichtlich zu strukturieren und einen schnellen und präzisen Zugriff zu erleichtern. In den horizontal angeordneten Bereichen „Dossiers“, „Hintergrundwissen“, „Mediensammlung“ und „Lehrmaterial“ lässt sich gezielt und bedarfsgerecht nach den jeweiligen Informationen suchen.


Dabei fällt die als Herzstück des Portals angekündigte Rubrik „Dossiers“ insofern aus der Systematik, als dass hier die präsentierten Themen in ihrem gesamten Umfang, also inklusive der diesbezüglichen Hintergrundartikel, multimedialen Beispiele und Lehrmaterialien, dargestellt werden und alle Inhalte vertikal, d.h. themenbezogen zu finden sind. Somit erscheint der Zugang über das Dossier als besonders intuitiv, da für die Lehr-Lern-Arrangements, die sich des Medienradars bedienen werden, der thematische Zugang meist im Zentrum stehen wird. Dass man also über das Dossier einen weitgehend ungehinderten Zugang zu allen Materialien erhält, dürfte die Relevanz der anderen Bereiche ein wenig mindern.

Zwar verfügt jeder Bereich über eine klar strukturierte bereichsinterne Suche. Diese ist jedoch, je nach verwendetem Schlagwort, weniger zielgenau und damit bisweilen zeitaufwendiger als der Weg über das jeweilige Dossier. Wenn die Anzahl der Themendossiers künftig weiter zunimmt und die Inhalte sinnvoll verschlagwortet werden, kann allerdings die Suche innerhalb der einzelnen Bereiche an Bedeutung gewinnen. Bislang jedoch werden je nach Filtereinstellung selbst zu relevanten und vorhandenen Inhalten nicht immer Ergebnisse angezeigt. Dadurch wird die inhaltliche Kraft der präsentierten Hintergrundbeiträge allerdings ebenso wenig geschmälert wie die didaktische Nützlichkeit der Mediensammlung.

Das reichhaltige Material ermöglicht einen interessanten, hinreichend tiefgründigen und gelegentlich kurzweiligen Zugriff auf die Themen und kann die pädagogische Praxis mit aktuellen und wissenschaftlich fundierten Kenntnissen ausstatten. Die Zusammenfassung der Materialien verschiedener Formate in „Playlists“ hilft, wie die mediale Repräsentation von „diversity“ exemplarisch gut verdeutlicht, eine Vielzahl verschiedener Beiträge strukturiert zu erschließen. So bieten Erklärvideos Orientierung in der diskursbezogenen Terminologie, während kommentierte Fernseh-, Musik-, Film- und Onlinebeiträge sowie Statistiken zum Thema eine Brücke zwischen Lebensweltbezug und empirischer Analyse schlagen. Dass einzelne Videoauszüge einen registrierten Zugang erfordern, schränkt die Verwendbarkeit kaum ein, ist jedoch z.B. bei der Erteilung von Hausaufgaben zu beachten.
 


Insgesamt erwächst aus der Vielzahl an Hintergrundbeiträgen und Materialien die Möglichkeit für die in der Bildungsarbeit Tätigen, eigene Bildungsangebote bzw. Lernarrangements zu kreieren, um lerngruppenspezifisch die dargebotenen Inhalte zu vermitteln. Dass im Bereich „Lehrmaterial“ dazu umfangreiches Material bereitgestellt wird, kann diese Arbeit enorm erleichtern und inspirieren, sollte sie jedoch nicht ersetzen. Stellt man die Heterogenität des föderalen und vertikal streng gegliederten Schulwesens in Deutschland in Rechnung, dann wird einsichtig, dass die Stärke eines solchen Angebots an Lehrmaterialien im Materialfundus und nicht in der Konzeption der Lehr-Lern-Arrangements liegt. Die Bereitstellung von Aufgabensets und Lernmodulen ist daher einigen Herausforderungen unterworfen, die jedoch seitens der Redaktion bereits antizipiert und teilweise bewältigt werden.
 


So funktioniert die Zuordnung zu einzelnen Klassenstufen angesichts der föderalen Lehrplanstruktur lediglich als grobe Orientierung für das Anspruchsniveau, da die curriculare Verankerung vieler Themen uneinheitlich ist. Daneben erzeugt die als überfachliche Querschnittsaufgabe angelegte Medienbildung in der Schule Spannungen zum weithin fachlich organisierten Unterricht. Zwar lassen sich vermutlich – beispielsweise in den Fächern Deutsch und Musik – Unterrichtsvorschläge unmittelbar in den Fachunterricht übernehmen, dennoch wird an den Themen, den Materialien und Aufgaben deutlich, dass für effektive medienpädagogische Arbeit durchaus fachübergreifende Settings gestärkt werden könnten und Projekt- oder Thementage den vorgeschlagenen Lehr-Lern-Arrangements besser gerecht werden können als fachlich gebundene Einzelstunden.

Dies gilt insbesondere für die vorgestellten Module. Es versteht sich bei einem derart weitgefächerten Angebot von selbst, dass die lerngruppenspezifische Adaption der Lehrmaterialien noch zu tun bleibt. So ist es bisweilen durchaus notwendig, die Aufgabenstellungen mit Blick auf das Leistungsniveau der Lerngruppe anzupassen und die gelegentlich dysfunktionalen Illustrationen zu ersetzen. Dass alle audiovisuellen Materialien über die Plattform zugänglich sind und die Arbeitsblätter neben dem PDF auch in einer editierbaren Fassung vorliegen, macht die Lehrmaterialien zu einem effizienten und praktischen Angebot. Auch hier gilt wieder, dass die Erschließung über die bereichsinterne Suche etwas holpriger verläuft als über das Themendossier.
 

Das Potenzial der „Extras“

Neben den im Kopf der Seite präsentierten Bereichen stellt ein erfreulich übersichtlich gehaltener Footer neben weiterführenden Links und dem Impressum auch „Extras“ bereit, die für die inhaltliche Arbeit mit dem Portal recht interessant sind. Neben einer erweiterten Suchmaske sind das vor allem das „Medienbarometer“ und ein „Glossar“.
 


Das Erstgenannte bietet eine weitere Zugriffsmöglichkeit auf jenen themengebundenen Inhalt, der Kinder und Jugendliche selbst zu Wort kommen lässt. In Form von Videointerviews werden hier Aussagen von Kindern und Jugendlichen über ihren Medienkonsum zugänglich gemacht. Im Kontext der angestrebten Medienreflexion kann das Material gut genutzt werden, um in Schule oder Jugendarbeit Diskussionen anzustoßen und Jugendliche ihrerseits zur Reflexion des eigenen Nutzungsverhaltens anzuregen. Dass bisher jedoch nur Interviews zu einem Thema vorliegen, die wiederum auch über das entsprechende Dossier zum Jugendmedienschutz zugänglich sind, begrenzt den Nutzen des „Medienbarometers“ als eigene Rubrik.
 


Demgegenüber dürfte das „Glossar“ von beachtlichem Nutzen für eine Vielzahl der adressierten Nutzerinnen und Nutzer sein. Sowohl die Schnelllebigkeit der Medienwelt als auch die zwar weithin obligatorische, aber eng begrenzte medienpädagogische Ausbildung des pädagogischen Personals machen es notwendig, dass domänenspezifische Begriffe schnell und verlässlich zugänglich sind. Ebenso wie die Seite selbst muss das „Glossar“ als ein sich organisch entwickelndes Nachschlagewerk verstanden werden, das mit den dargestellten Themen wächst. Dass aus Sicht des gesellschaftswissenschaftlichen Unterrichts relevante Formate wie Histo- oder Politainment nicht erklärt werden, mag mit Blick auf die breite Zielgruppe hinnehmbar sein. Aktuell omnipräsente Schlagwörter wie u.a. „Echokammer“, „Fake News“ oder „Social Bots“ sollten jedoch ergänzt werden, insbesondere wenn sie unmittelbar Bestandteil des Angebots sind. Insgesamt ist das „Glossar“ eine mehr als gute Idee. Daher wäre es wünschenswert, die „Extras“ als fünften Bereich im Kopf der Seite zu verankern. So wäre der Zugang zu diesem nützlichen Tool deutlich erleichtert.
 

Wem nützt es?

Medienkompetenz zu entwickeln, ist als pädagogisches Anliegen längst an die Träger schulischer und außerschulischer Bildungsarbeit herangetragen und von diesen auch weitgehend akzeptiert worden. Dass eine praxistaugliche Medienbildung insbesondere die Schulen vor große Herausforderungen stellt, wird nicht zuletzt daran deutlich, wie intensiv hier Kooperationen mit außerschulischen Trägern eingerichtet und gefördert werden. Dem Portal medienradar.de gelingt es, ein fundiertes, materialgesättigtes, thematisch strukturiertes und didaktisch aufgearbeitetes Angebot bereitzustellen, welches die Bewältigung jener Herausforderungen erheblich erleichtert. Nicht zuletzt der Vorteil, in der Gestaltung des Portals aktuelle Themen und Entwicklungen aufzugreifen, ist eine gute Ergänzung der Möglichkeiten schulischer Bildung. Auch wenn sich allgemeine Zusammenhänge mit traditionellen Bildungsmedien vermitteln lassen, bedarf schülerorientierte Medienbildung der Auseinandersetzung mit aktuellen aussagekräftigen und konkreten Medienbeispielen, wie sie der Medienradar bereitstellt. Im Zusammenspiel erwächst so die Möglichkeit, aus der Wahrnehmung der (Lebens-)Welt heraus jene Kompetenzen zu fördern, die eine freie und mündige Mediennutzung zu einem Baustein einer kritischen und emanzipatorischen Aneignung der Welt machen.
 

Literatur:

Dander, V.: Wie „medienkritisch“ ist Medienpädagogik? Fragen und mögliche Antworten zu Analyse, Ethik und Selbstreflexion einer „Disziplin“. In: Medienpädagogik (Themenheft: Die Konstitution der Medienpädagogik. Zwischen interdisziplinärem Forschungsfeld und bildungswissenschaftlicher [Sub-]Disziplin), 29/2017, S. 105 – 138

Humboldt, W. v.: Theorie der Bildung des Menschen. Zitiert nach: H. Hastedt (Hrsg.): Was ist Bildung? Eine Textanthologie. Stuttgart 2012, S. 93 – 99

Mikat, C.: Medienkompetenz ist Medienreflexion. Im November 2020 geht die Multimediaplattform Medienradar online. In: tv diskurs, Ausgabe 94, 4/2020, S. 12 – 14