Zurück in die Vergangenheit

Der Brexit erreicht das Kino

Werner C. Barg

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Dr. Werner C. Barg ist Autor, Produzent und Dramaturg. An der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) vertritt er die Professur „Audiovisuelle Medien“.

Am 25. April 2020 nahm der britische Premierminister Boris Johnson nach seiner Corona-Erkrankung die Amtsgeschäfte wieder auf. Nun wird wohl bald neben Corona auch wieder ein anderes Thema den Mediendiskurs bestimmen: der Brexit. Boris Johnson hat schon angekündigt, die Verhandlungen zum Handelsabkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union hart zu führen. Auch im britischen Kino, so zeigt der folgende Beitrag anhand prominenter Beispiele, ist das mit dem Brexit verbundene neue Nationalgefühl vieler Briten schon seit einiger Zeit angekommen.

Online seit 04.05.2020: https://mediendiskurs.online/beitrag/zurueck-in-die-vergangenheit/

Vollständiger Beitrag als:

Neues Nationalgefühl

Erinnern Sie sich? Am 23. Januar 2013 hatte der damalige britische Premierminister David Cameron ein Referendum über die Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union (EU) angekündigt. Mehr als drei Jahre später, am 23. Juni 2016, fand es statt. Knapp 52 % der stimmberechtigten Briten stimmten gegen den Verbleib in der EU und für den Brexit. Im Vorfeld und auch seither bis zum Austritt am 31. Januar 2020 befeuerten die „Brexiteers“ in Großbritannien einen neuen Nationalismus, um ihrer Forderung nach der Loslösung ihres Landes aus der EU Nachdruck zu verleihen. Bei vielen Briten fiel diese nationalistische Stimmungsmache auf fruchtbaren Boden.

„Viele, die den Brexit unterstützt und dafür gestimmt haben“, schrieb der britische Schriftsteller Julian Barnes in einem Gastbeitrag für die „Süddeutsche Zeitung“ am 31. Januar 2020, „bezogen sich auf die glorreiche Vergangenheit Großbritanniens, wobei manche bis auf die Schlacht bei Crécy im Jahre 1346 zurückgingen“ (Barnes 2020), also auf jene Schlacht, mit der der Hundertjährige Krieg zwischen England und Frankreich seinen Anfang nahm.

Am Ende der Schlachten im Mittelalter standen sich Frankreich und England als nationalistische Bollwerke gegenüber; der Ärmelkanal markierte die patriotische Brandmauer zwischen ihnen, die Insellage vertiefte das britische Lebensgefühl der „splendid isolation“, auf das – so Barnes – alle jene Verfechter der „Leave!“-Bewegung aktuell rekurrierten, indem sie glaubten, daran erinnern zu müssen, „dass wir 1940 ‚allein gestanden‘ hätten und diese Isolation das Beste in uns als Nation zum Vorschein gebracht habe“ (ebd.). Solchen nationalistischen Mythen setzt Barnes, der davon überzeugt ist, dass „die Hälfte des Landes […] nicht aufhören [wird], europhil zu sein“ (ebd.) und irgendwann eine neue Mehrheit der „Returners“ Großbritannien in die EU zurückführen wird, nicht ohne Ironie den Satz des französischen Schriftstellers und Historikers Ernest Renan entgegen: „Es gehört zum Wesen einer Nation, dass sie ihre Geschichte missversteht“ (zitiert nach ebd.).

Das Vereinigte Königreich habe – so Barnes – 1940 am Beginn des Zweiten Weltkriegs im Kampf gegen den deutschen Nationalsozialismus, der gerade mit seinen Truppen West­europa überrannte und besetzte, nicht ganz allein dagestanden. Immerhin habe es sich auf „die Militärkraft des gesamten Commonwealth – Indien, Kanada, Australien, Neuseeland“ (ebd.) stützen können. „Brexit“-Politiker wie Nigel Farage oder Boris Johnson, die mit dem Ausspielen der nationalistischen Karte ganz eigene und oft auch persönliche politische Interessen verbanden, stilisierten die Krisensituationen Großbritanniens während des Zweiten Weltkriegs, die allesamt eng mit dem Namen des damaligen Premierministers Winston Churchill verbunden sind, zu nationalen Mythen.

Während sich das US-Kino gegenüber neuen nationalistischen Strömungen, die 2017 Donald Trump mit seinem Slogan „America First“ ins Präsidentenamt gespült haben, recht immun verhält, finden sich im britischen Kino in den Produktionen der letzten Jahre deutliche Anklänge, die die nationalistische Stimmung eines Teils der Bevölkerung aufnehmen und unterfüttern.
 

1917

Das jüngste Beispiel ist der mehrfach preisgekrönte Kriegsfilm 1917. Regisseur Sam Mendes erzählt die Geschichte zweier britischer Fußsoldaten, die einen wichtigen Befehl zu überbringen haben und sich hierfür zwischen den Fronten der Grabenkämpfe des Ersten Weltkriegs durchschlagen müssen. Nach Mendes’ eigener Aussage gründet sich die Handlung des Films auf Kriegsberichte seines Großvaters, der im Ersten Weltkrieg an der Front Kurier war und Depeschen überbracht hatte, aber auch auf weitere Zeitzeugenberichte, Tagebuchaufzeichnungen und Briefe, die der Regisseur im Londoner Royal Imperium War Museum gefunden hatte. Es mag dieser „oral history“ soldatischer Menschen geschuldet sein, dass sein Film von nationalistischen Feindbildern nur so strotzt. Die Gegner, denen die beiden Hauptfiguren begegnen, sind verschlagen und hinterhältig. Die deutschen Soldaten und Offiziere schießen sofort, haben offenbar nur das Ziel, so viele Feinde wie möglich zu töten, und sind selbst im betrunkenen Zustand noch hasserfüllte Kreaturen.
 

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Das Feindbild, das Mendes’ Film hier offenbar ungebrochen und unreflektiert den Zeitzeugenaussagen entnommen hat, entspricht exakt jenem zeitgenössischen Bild vom blutrünstigen „Hunnen“ und mordenden „Teutonen“, das die Kriegspropaganda jener Jahre verbreitete. „Die Propaganda auf allen Seiten“, erläutert der Historiker Alan Kramer (Staas/Ulrich 2014), „erklärte den Konflikt zu einem Kulturkrieg. Der Gegner wurde zum Barbaren herabgestuft. Im Bewusstsein der Menschen wurde der Machtkampf damit zu etwas Existenziellem, zu etwas, das über das bloß Politische hinausging.“

Es ist erstaunlich, dass Mendes’ Film 100 Jahre später die überkommenen propagandistischen Feindbilder von damals einfach reproduziert und die Erkenntnisse historischen Wissens über die Zeit, in der sein Film spielt, ebenso wenig erzählerisch reflektiert, wie er das Gewalthandeln der „Feinde“ psychologisch hinterfragt: „Tatsächlich hatte diese Gewalt nicht mit Abstumpfung zu tun, sondern mit Angst. Die Deutschen erlagen in jenen Monaten einer regelrechten Massenpsychose. […] [D]ie deutsche Militärpropaganda [hatte] den Soldaten eine geradezu panische Angst vor Freischärlern […] eingeimpft“ (ebd.). Von alledem erzählt Mendes’ Film, der in seiner Ästhetik kunstvoll eine einzige lange Plansequenz von zwei Stunden suggeriert, leider nichts.

Dass Mendes die Berichte soldatisch geprägter Menschen unreflektiert und ohne eigene Haltung fiktionalisiert, wird auch durch das Frauenbild deutlich. Die einzige Frau, der einer der Hauptfiguren im „Kreis der Hölle“ (Mendes) begegnet, ist eine junge Mutter, die sich– in der Wohnung eines zerstörten Hauses versteckt – um die Ernährung ihres Babys sorgt und die die verletzte Hauptfigur medizinisch versorgt.

Dieses Frauenbild entspricht ziemlich exakt dem Typus der „weißen Frau“, wie es Klaus Theweleit in den autobiografischen Texten von präfaschistischen Freikorps-Soldaten herausgearbeitet hat. In seinem Buch Männerphantasien zeigte er schon Ende der 1970er-Jahre, dass in diesen Texten die soldatisch geprägten Männer das weibliche Geschlecht als Schwester, Krankenschwester und Mutter darstellen, wenn sie positive Frauenfiguren skizzieren. Diesem „weißen“ Frauentypus setzen sie in Kontrast zu den „roten“ Frauenfiguren, die als (meist kommunistische) Flintenweiber, Prostituierte und sexuell freizügig und emanzipiert lebende Frauen dargestellt werden (Theweleit 1980).
 

Dunkirk

Dass die innovative filmästhetische Gestaltung eines Films gleichwohl konservative Wertvorstellungen transportieren kann, zeigt auch Christopher Nolans Kriegsfilm Dunkirk aus dem Jahre 2017.
 


Es ist unzweifelhaft, dass Nolan aus der Perspektive jener, zumeist sehr jungen, von den deutschen Nazitruppen im Mai 1940 am Strand von Dünkirchen eingeschlossenen britischen und französischen Soldaten die Unmittelbarkeit zeigen wollte, mit der die Kriegsgewalt Menschen trifft (Barg 2017). Doch auch in Nolans Film bleibt der deutsche Gegner gesichtslos. Nur einmal erscheinen zwei deutsche Landser als Schattenriss im Gegenlicht. Ansonsten manifestiert sich der militärische „Feind“ in überraschenden Tieffliegerangriffen, Bombenabwürfen und Luftkämpfen, bei denen die deutschen Piloten nie zu sehen sind.

Durch diese anonym bleibende strukturelle Gewalt des Kriegsgegners entgeht Nolans Film der erzählerischen Falle, Gut-Böse-Feindbildkonstruktionen aufbauen zu müssen. Doch während Mendes’ Film – wie der Regisseur im Gespräch mit Lars-Olav Beier (2020) selbst erklärt – sich in der Tat eines patriotischen Pathos konsequent entzieht, verdichtet Nolans Film die Evakuierungsaktion von ca. 330.000 Soldaten in der Schlusssequenz seines Films mit eben dieser Haltung zu einer gigantischen Gemeinschaftsleistung der britischen Nation.

Hierbei bedient er sich in seiner Inszenierung des Prinzips der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Während zwei der jungen Soldaten, die zu den Evakuierten gehören, im Zug darüber sprechen, dass sie die Schlacht von Dünkirchen als das erlebt haben, was sie für die britischen und französischen Truppen war, nämlich die desaströse Niederlage einer aller militärischen Optionen beraubten und nur noch hilflos agierenden Armeeführung, der nun vermutlich in der Heimat Schimpf und Schande folgen werden, zeigt Nolan bei der Einfahrt des Zuges in einen englischen Bahnhof eine ganz andere Reaktion der am Bahnsteig stehenden Passanten. Sie reichen den beiden Soldaten ein Bier durchs Abteilfenster und applaudieren den Kriegsheimkehrern so euphorisch, als hätten diese einen Sieg errungen.

Schon durch diese Bildhandlung wird das Gefühl depravierender Kriegsrealität, das der Zuschauer fast zwei Stunden aus der Perspektive der Soldaten miterlebt hat, am Ende in ein patriotisches Hochgefühl umgemünzt. Diese Emotionslenkung des Publikums wird noch dadurch unterstützt, dass über die Szene im Off ein Auszug aus Churchills berühmter Rede im britischen Unterhaus gelegt wurde, in der er die britische Nation auf den Kampf gegen die Nazis einschwört und die Losung ausgibt: „We shall never surrender!“
 



Hohe Einspielergebnisse

1917 spielte in den Kinos Großbritanniens knapp 160 Mio. Dollar ein. Das entspricht 43 % des Gesamteinspiels dieses Films weltweit (vgl. Boxoffice Mojo 1) ; Dunkirk erbrachte schon am Startwochenende in Großbritannien ein Einspielergebnis von 50 Mio. Dollar und konnte vom weltweiten Einspielergebnis immerhin 36 % in den britischen Kinos erzielen (vgl. Boxoffice Mojo 2). Diese Zahlen verdeutlichen die hohe Akzeptanz beider Filme beim heimischen Publikum und zeigen sehr klar, dass in einem von Nationalismen geprägten öffentlichen Diskurs auch in einem populären Medium wie dem Kinofilm Feindbilder und patriotische Mythen, von denen man glaubte, sie längst überwunden zu haben, ganz schnell fröhlich’ Urständ feiern können.

Wäre das pathetische Ende von Nolans Dunkirk im britischen Kino ein singuläres Ereignis, so könnte man dem Kritiker der „epd Film“ durchaus beipflichten, dass sich Nolan ganz am Ende seines Films „angesichts des hinlänglich bekannten, aber doch immer noch unglaublichen Ausgangs dieser bemerkenswerten Evakuierung (über 330.000 Soldaten konnten gerettet werden) doch eine kleine Portion Pathos“ gegönnt habe, „wie sie in vergleichbaren Filmen üblich ist“ (Heidmann 17.07.2017).
 

Die dunkelste Stunde

Doch steht Nolans Film eben nicht allein. Im Produktionsjahr 2017 entstanden neben Dunkirk noch zwei weitere markante Spielfilme, die auf britische Krisensituationen im Zweiten Weltkrieg Bezug nehmen und dabei zugleich im dargestellten politischen Geschehen von damals das aktuelle Geschehen um den Brexit von heute im Gewand des historischen Spielfilms spiegeln.

Der erste dieser beiden Spielfilme ist Die dunkelste Stunde (Darkest Hour) in der Regie von Joe Wright. Mit dem Filmtitel ist wieder die von den britischen Nationalisten immer wieder mythologisch beschworene Situation Großbritanniens am Beginn des Zweiten Weltkriegs gemeint, als der schnelle Vormarsch der deutschen Truppen durch die Benelux-Staaten und die sich anbahnende militärische Katastrophe für die britischen und französischen Truppen an der belgisch-französischen Atlantikküste auch in London zu einer Regierungskrise führte.

Premierminister Neville Chamberlain (Ronald Pickup) muss zurücktreten, versucht aber als Mitglied im Kriegskabinett des neu gewählten Premiers Winston Churchill (Gary Oldman) mithilfe der Intrigen einiger Mitstreiter in der konservativen Partei seine Appeacement-Politik gegenüber Hitler weiter aufrechtzuerhalten. Anstatt gegen die Nazis zu kämpfen, plädiert Chamberlain für Friedensverhandlungen mit dem Deutschen Reich, die über den italienischen Faschistenführer Benito Mussolini vermittelt werden sollen.
 


Churchill setzt sich demgegenüber dafür ein, den Nazis die Stirn zu bieten. Mit dem Rücken an der Wand und gegen den Widerstand der Mehrheit seines Kabinetts kämpft Churchill, so stellt es Wrights Film dar, für seine Überzeugung, wohl wissend, dass das, was er vorschlägt, den Briten große Opfer und Entbehrungen abverlangen wird. Doch die Zauderer um Chamberlain, die lieber den Deutschen Zugeständnisse machen und sich dem Naziterror aus Angst vor den Opfern beugen wollen, haben die Oberhand. Als Churchill fast verzweifelt, verschlägt es ihn in die Londoner Untergrundbahn, wo er mit den „einfachen Menschen“ ins Gespräch kommt. Und siehe da: Niemand von ihnen käme auf die Idee, mit den Nazis verhandeln zu wollen. Alle zeigen sich zum Kampf gegen den Nazismus bereit. Mit dieser „Stimme des Volkes“ im Ohr, hat Churchill die Stärke, seine Position durchzusetzen. Die von ihm initiierte Evakuierung von 330.000 der 370.000 Soldaten vom Strand von Dünkirchen verschafft ihm zudem ein Vertrauensvorschub bei der Bevölkerung, die ihn nun – ebenso wie die Mehrheit der politischen Klasse – als starken Anführer in Kriegszeiten akzeptiert.

Es ist nicht schwer, Wrights Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg auf die Brexit-Situation 2017 zu übertragen: Die „Brexiteers“ argumentieren – wenngleich in einer völlig anderen historischen Situation – ähnlich wie die Churchill-Figur in Wrights Film: Das Referendum ist entschieden. Volkes Stimme muss Gehör finden. Der Brexit muss schnell umgesetzt werden, selbst wenn er den Briten viele Opfer und Entbehrungen abverlangen wird.

Durch den erzählerischen Kniff der rein fiktiven Szene in der U-Bahn, stellt Wrights Dokudrama sogar selbst und direkt den Bezug zur Brexit-Volksabstimmung her. Bezogen auf den Brexit-Prozess wird das Verhalten der Churchill-Figur in der historischen Situation 1940 nunmehr zum Vorbild all derjenigen stilisiert, die jetzt trotz aller Opfer den Wählerwillen schnell und kämpferisch durchsetzen wollen. Über die klare Zuweisung der Sympathien und Antipathien der Zuschauenden in der Figurenführung einerseits des kämpferischen Helden Churchill und andererseits des zaudernden Antihelden Chamberlain plädiert der Film sehr deutlich für eine starke britische Führung im Brexit-Prozess, den es im Sinne der Mehrheit des Volkes nun schnell abzuschließen gilt.

Doch aus Sicht der „Leave!“-Befürworter stockte die Umsetzung des Brexit 2017, weil Premierministerin Theresa May bei den Verhandlungen mit der EU zu sehr zögerte, um die anzunehmenden Opfer für die britische Bevölkerung und die Ökonomie des Vereinigten Königsreichs möglichst gering zu halten.

Genau von dieser Situation, wiederum im historischen Gewand, erzählt der zweite britische Film von 2017, der eine krisenhafte politische und militärische Lage in Großbritannien während des Zweiten Weltkriegs zum Thema hat: Die Tage der Entscheidung vor dem sogenannten D-Day, der Invasion der westlichen Alliierten an der Küste der Normandie.
 

Churchill

Wieder steht die titelgebende Figur des britischen Premierministers im Mittelpunkt der Filmerzählung, die Regisseur Jonathan Teplitzky inszeniert hat. Der historische Spielfilm blendet zurück in den Frühsommer des Jahres 1944 und erzählt erneut nur einen kleinen Ausschnitt aus Churchills Biografie.

Die Entscheidung der Westalliierten war gefallen: Mit einer Armada von mehr als 6.000 Schiffen, massivem Kriegsgerät, überwältigender Luftunterstützung und mehr als 320.000 Soldaten wollten sie am 6. Juni an der französischen Atlantikküste in der Normandie landen und damit die deutschen Befehlshaber überraschen, die mit einer Invasion an der Küste weiter nördlich rechneten. Durch die Errichtung einer Front im Westen wollten sie zuerst Frankreich befreien und dann Nazi-Deutschland endgültig besiegen und besetzen.
 


Die Filmhandlung setzt wenige Tage vor dem Beginn der Invasion ein. Der US-amerikanische Oberbefehlshaber Dwight D. Eisenhower (John Slattery) sieht in den Invasionsplänen genau an diesem Ort und genau in diesem Zeitfenster den entscheidenden Vorteil, die Deutschen zu überraschen und letztlich ihren gut befestigten „Atlantikwall“ zu überwinden. Auch der britische Generalfeldmarschall Bernard Montgomery (Julian Wadham) ist dafür, jetzt loszuschlagen. Selbst der britische König gibt seinen Segen. Nur einer zaudert: Winston Churchill (Brian Cox). Immer wieder – so zeigt es das Dokudrama – wird Churchill vom Trauma der Gallipoli-Schlacht eingeholt. Die Schuld, als Seeadmiral im Ersten Weltkrieg für den Tod von mehr als 25.000 australischen und neuseeländischen Soldaten mitverantwortlich gewesen zu sein, lastet schwer auf dem Premier. Immer wieder sieht er in Tagtraumbildern den mit Leichen übersäten Strand der türkischen Halbinsel Gallipoli vor sich, den Türken und Deutsche mit massiven Anlagen so gut befestigt hatten, dass jeder Landungsversuch der Commonwealth-Truppen zum Scheitern verurteilt war. An der Atlantikküste erwartet Churchill nun für die Truppen der Alliierten eine ähnliche Katastrophe.

Der Film erzählt, wie der sich ausgebrannt und überfordert fühlende Premierminister seine Wut im Privatleben und an den Untergebenen auslässt, will aber auch eine Entwicklung der Churchill-Figur nachzeichnen, die sich schließlich zur gemeinsamen Sache der Invasion bekennt und diese offensiv und patriotisch verficht. Die Landung in der Normandie gelingt. Der D-Day wird für Churchill zu keinem neuen Kriegstrauma, sondern zu einem seiner größten Triumphe.

Auch hier ist die Botschaft der historischen Fabel sehr klar: Nicht zaudern, sondern handeln. Dann wird die gemeinsame Sache auch zum Erfolg führen.

So wie die kämpferische Churchill-Figur in Die dunkelste Stunde zum Vorbild der „Brexiteers“ stilisiert wird, jetzt den Volkswillen durchzusetzen, komme, was da wolle, so hält die Entwicklung der Churchill-Figur vom Zauderer zum Patrioten in Teplitzkys Film dem Verhalten zögerlicher britischer Politiker wie Theresa May einen Spiegel vor: nicht zweifeln und verzagen, sondern sich auf die Seite der „gemeinsamen Sache“ – im aktuellen Fall also des Brexits – stellen. Dann wird es schon gut gehen wie einst in jenen Schicksalsstunden an den Stränden der Normandie 1944.

Für Patrick Heidmann ist Churchill „kein Kommentar zum Brexit oder zu Populisten wie Trump oder Le Pen“ (Heidmann 21.04.2017). Diese Position ist auf den ersten Blick nachvollziehbar, betrachtet man sie allerdings im Kanon zentraler und wichtiger Filme des britischen Kinos seit 2017, so wird sie sehr zweifelhaft.
 

Churchill als Vorbild

Sowohl Churchill als auch Die dunkelste Stunde können als Parabeln für die politische Situation Großbritanniens im Brexit-Prozess gelten. Obwohl die beiden Filme sehr unterschiedliche, ja z. T. fast gegensätzliche Charakterzüge des legendären britischen Premiers zeigen, plädieren sie doch beide für konsequentes politisches Handeln – auf die Gegenwart bezogen: für den Brexit und dessen konsequente Umsetzung.

Auch Die dunkelste Stunde und Churchill hatten mit 37 bzw. 30 % (vgl. Boxoffice Mojo 3 bzw. 4) des weltweiten Einspielergebnisses allein im britischen Kino eine hohe Akzeptanz beim Publikum, wohl auch, weil die historische Person Churchill durch die nationalistische Aufwallung in Großbritannien eine Nostalgie erfuhr, zu der schon 2014 Boris Johnson mit seinem Buch Der Churchill-Faktor beitrug. Dass Churchill sich als Konsequenz aus dem verheerenden Zweiten Weltkrieg zu einem „glühenden“ Europäer entwickelte und schon 1946 seine Vision von den „Vereinigten Staaten von Europa“ entwarf, blendet das britische Kino aktuell aus. Und auch bei Johnson kann man nur lesen, dass sich Churchill bestenfalls einen lockeren Verbund der europäischen Staaten hatte vorstellen können. Fake-History. Die britische Nation will ihre Geschichte wohl gerade gerne falsch verstehen. Offenbar aus gutem Grund.
 

Literatur:

Barg, W. C.: Die Unmittelbarkeit der Gewalt wächst. In: tv diskurs online, 28.08.2017. Abrufbar unter: https://tvdiskurs.de (letzter Zugriff: 29.04.2020)

Barnes, J.: EU-Austritt von Großbritannien: Wir kommen wieder. In: Süddeutsche Zeitung, 31.1.2020. Abrufbar unter: www.sueddeutsche.de (letzter Zugriff: 29.04.2020)

Beier, L.-O.: Sam Mendes über sein Weltkriegs-Drama „1917“. „Ich wollte kein patriotisches Getöse“. In: DER SPIEGEL, 06.02.2020. Abrufbar unter: https://www.spiegel.de (letzter Zugriff: 29.04.2020)

Boxoffice Mojo 1: 1917. In: Boxoffice Mojo, o. J.Abrufbar unter: https://www.boxofficemojo.com (letzter Zugriff: 29.04.2020)

Boxoffice Mojo 2: Dunkirk. In: Boxoffice Mojo, o. J.Abrufbar unter: https://www.boxofficemojo.com (letzter Zugriff: 29.04.2020)

Boxoffice Mojo 3: Darkest Hour. In: Boxoffice Mojo, o. J.Abrufbar unter: https://www.boxofficemojo.com (letzter Zugriff: 29.04.2020)

Boxoffice Mojo 4: Churchill. In: Boxoffice Mojo, o. J.Abrufbar unter: https://www.boxofficemojo.com (letzter Zugriff: 29.04.2020)

Heidmann, P.: Kritik zu Dunkirk. In: epd Film, 17.07.2017. Abrufbar unter: https://www.epd-film.de (letzter Zugriff: 29.04.2020)

Heidmann, P.: Kritik zu Churchill. In: epd Film, 21.04.2017. Abrufbar unter: https://www.epd-film.de (letzter Zugriff: 29.04.2020)

Johnson, B.: Der Churchill-Faktor. Stuttgart 2015

Staas, C./Ulrich, V.: Erster Weltkrieg: Krieg ohne Ende. Interview mit Jörn Leonhard und Alan Kramer. In: Zeit online, 27.02.2014. Abrufbar unter: https://www.zeit.de (letzter Zugriff: 29.04.2020)

Theweleit, K.: Männerphantasien. Neuausgabe. Berlin 2019