Zwischen Tradition und Moderne

Filmzensur, Altersklassifizierung und Selbstregulierung in Malaysia

Claudia Mikat

Claudia Mikat ist Geschäftsführerin der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).

In Malaysia wird die verfassungsmäßig garantierte Meinungsfreiheit in der Praxis stark eingeschränkt. Auf der Rangliste der Meinungs- und Pressefreiheit belegt das Land seit Jahren einen der hintersten Plätze1. Die spektakulären Parlamentswahlen 2018, die eine über sechs Jahrzehnte andauernde nationalkonservative Regierungskoalition beendeten, gaben Grund zur Hoffnung: Das neue Regierungsbündnis unter Premierminister Mahathir Mohamad versprach u.a., die restriktiven Mediengesetze zu reformieren. Nur wenige der Reformvorhaben wurden allerdings bislang umgesetzt. Im Juli 2019 hat nun der Vorsitzende der Zensurbehörde erklärt, die Einführung einer neuen Filmklassifizierung werde in Zukunft einen Rückgang der Zensurmaßnahmen bewirken. Ist Malaysia auf dem Weg, die Zensur abzuschaffen?

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 4/2019 (Ausgabe 90), S. 4-7

Vollständiger Beitrag als:

Grundsätzlich: verboten!

Art. 10 der malaysischen Verfassung garantiert Rede- und Meinungsfreiheit, umreißt aber auch mögliche Ausnahmen: Im Interesse der nationalen Sicherheit, der internationalen Beziehungen, der öffentlichen Ordnung und Moral, zum Schutz des Parlaments, der gesetzgebenden Versammlung und der Gerichte sowie zur Verhinderung von Straftaten kann die Regierung die freie Meinungsäußerung beschränken. Filme, die nach diesen Kriterien als gefährdend eingestuft werden, dürfen nicht zur Aufführung gelangen.
 


Zuständig ist die malaysische Zensurbehörde Lembaga Penapis Filem (LPF), die dem Innenministerium unterstellt ist und auf der Grundlage des Film Censorship Act 2002 (FCA) arbeitet. Das Gesetz sieht ein grundsätzliches Verbot mit Erlaubnisvorbehalt vor: Alle Filme, die öffentlich in Kinos oder auf Filmfestivals vorgeführt werden sollen, benötigen eine Genehmigung des LPF. Dasselbe gilt für Filme, die auf DVD erscheinen oder im Fernsehen und auf Video-on-Demand (VoD)-Plattformen verbreitet werden. Bei diversen Fernsehsendern wurden eigene Schnitt-Arbeitsplätze eingerichtet, an denen geschulte Content Editors die Angebote nach den Zensurvorgaben bearbeiten. Eine Ausnahmeregelung gibt es für die Pay-Plattform Astro, die Zugang zu über 200 Satellitensendern bietet und für die Umsetzung der Zensurbestimmungen selbst verantwortlich ist. Ob dies funktioniert, wird durch das LPF überwacht.

Die Zensurbehörde ist auch für die Alterskennzeichnung von Filmen verantwortlich. Die drei Alterskategorien sind: „U“ für Filme ohne Altersbeschränkung, „P13“ für Filme, die unter 13-Jährige nur in Begleitung der Eltern ansehen dürfen, und „18“ für Erwachseneninhalte.

Die drei Stufen sollten um ein weiteres Kennzeichen „ab 15“ oder „ab 16 Jahren“ ergänzt werden, sagt der Vorsitzende des LPF, Mohd Zamberi Abdul Aziz, in einem Interview mit der „New Straits Times“2. Dass die Einführung eines neuen Kennzeichens die Zensurmaßnahmen verringern wird, wie Zamberi in Aussicht stellt, ist allerdings wenig wahrscheinlich. Dafür ist die Liste der Totalverbote zu lang und die Überzeugung zu tief verwurzelt, dass „bestimmte Dinge“ gar nicht gezeigt oder gesagt werden dürfen. Zu den verbotenen Inhalten zählen in dem islamisch geprägten Land nicht nur Darstellungen von Nacktheit, Sexualität und insbesondere LGBT-Sexualität, sondern alle Elemente, die in religiöser, soziokultureller oder moralischer Hinsicht zu gesellschaftlichen Kontroversen führen könnten. Die Guidelines on Film Censorship3 mit über 100 Verbotstatbeständen belegen eindrücklich, dass das Potenzial für gesellschaftliche Spannungen im multiethnischen Malaysia recht hoch eingeschätzt wird.

Darstellungen von Gewalt gegen den Rechtsstaat, von Umweltverschmutzung oder gefährlichem Fehlverhalten, Szenen, die zu verruchten Handlungen anregen, einen hemmungs- und prinzipienlosen Lebensstil oder Straftaten als profitabel zeigen, mystische oder abergläubische Elemente, die Verspottung politischer Führer, Szenen der Unterdrückung, der Sieg des Bösen über das Gute – die Richtlinien listen eine große Bandbreite unzulässiger Inhalte auf. Sie sind überdies so offen formuliert, dass sie auf alle möglichen Darstellungen Anwendung finden können.
 



Acht Filme wurden im Jahr 2018 verboten, erklärt Zamberi, vor allem wegen LGBT-Elementen und extremer Darstellungen von Sexualität. Dazu zählen etwa die US-Komödie The Happytime Murders mit ihren Kokain schnupfenden und ejakulierenden Brian-Henson-Puppen oder das chilenische Drama Una Mujer Fantástica über die Transgender-Frau Marina. Der in den Vereinigten Arabischen Emiraten produzierte Animationsfilm Bilal durfte nicht in die malaysischen Kinos, weil er eine andere islamische Glaubensrichtung als die sunnitische zeigt, was nach den Zensurbestimmungen zu Uneinigkeit in der muslimischen Gemeinde des Landes führen könnte. Das Bollywoodepos Padmaavat wurde wegen seiner Negativdarstellung von Muslimen verboten – in der Geschichte ist der im 13. Jahrhundert in Afghanistan herrschende Sultan Jalaluddin Khilji der Bösewicht.
 

Empfindlichkeiten

Auch einzelnen Äußerungen und kurzen Szenen wird eine große Wirkungsmacht zugeschrieben, wie die rege Schnittpraxis der Zensurbehörde beweist: Von 2.283 zugelassenen Filmen in 2018 gelangten 677 Filme nur in bearbeiteten Fassungen in die Öffentlichkeit. Wegen der Weigerung Disneys, die Realverfilmung von Beauty and the Beast in einer Fassung auf den Markt zu bringen, die um einen Auftritt des schwulen Charakters LeFou bereinigt ist, gelangte dieser Fall an die Öffentlichkeit. Zahlreiche andere Filme werden geschnitten, ohne dass es eine öffentliche Diskussion oder Kritik gibt. Nicht immer sind die Gründe für die Schnitte nachvollziehbar. Warum Rami Malek als Freddie Mercury im „Queen“-Film Bohemian Rhapsody nicht sagen darf: „Ich habe Aids“ bleibt das Geheimnis der malaysischen Zensurbehörde.
 

Ins Absurde gerät die behördliche Schnittpraxis, wenn aus zeitlichen oder ökonomischen Gründen die inkriminierten Szenen nicht entfernt werden können oder dürfen, sondern während der Vorführung lediglich verdeckt werden. „Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter auf Filmfestivals oder öffentlichen Kinoabenden müssen die Schnittlisten der Zensur mitverfolgen und an den entscheidenden Stellen ein Blatt Papier vor den Projektor halten“, erklärt Rolf Stehle, Direktor des Goethe-Instituts Malaysia, das sogenannte „manual blocking“, das auch auf den Filmveranstaltungen des Instituts Anwendung findet. Betroffen sind vor allem sprachliche Vulgarismen und Darstellungen von Sexualität, die über Andeutungen hinausgehen: Ein flüchtiger Kuss auf den Mund ist selbst mit gebotenem Körperabstand nicht erlaubt, ebenso sind etwa ein dezent angedeuteter Geschlechtsakt oder Worte wie „fuck“ oder „bitch“ verboten. Der Ton wird an den verdeckten Stellen allerdings nicht abgeblendet, weshalb die – international geläufigen – Vulgärausdrücke nach wie vor zu hören sind. Auch zu lustvollem Stöhnen dürfte trotz Schwarzbild ein eigener Film im Kopf der Zuschauer ablaufen. „Alle sind peinlich berührt, bis einer loslacht und die Situation im dunklen Kino entkrampft“, sagt Stehle. Peinlich berührt sind die Menschen wohl nicht nur aufgrund der Sexgeräusche, sondern auch aufgrund der unzeitgemäßen Bevormundung. Zu langes oder zu häufiges Verdunkeln der Leinwand ruft immer wieder auch Unmut und den hörbaren Ärger der Zuschauer hervor.

Im Zeitalter von Internet und Streaming mag diese Form von Zensur hilflos und mit Blick auf harmlose Sexszenen aus westlicher Sicht lachhaft wirken. Bei politischen Filmen, die Menschenrechtsverstöße thematisieren und Gesellschaftskritik üben, stellen die restriktiven Vorschriften dagegen ein sehr ernst zu nehmendes Hindernis dar. In welchen Fällen die nationale Sicherheit, die internationalen Beziehungen oder die öffentliche Ordnung und Moral berührt sind, sodass eine Einschränkung der Meinungsfreiheit gerechtfertigt erscheint, ist schließlich ein weites Feld, und die Beispiele für unterdrückte historische Fakten und politische Äußerungen sind zahlreich. Mit Rücksicht auf die sri-lankische Regierung wurde 2013 etwa der Film No Fire Zone: The Killing Fields of Sri Lanka verboten, der Kriegsverbrechen der sri-lankischen Armee am Ende des Bürgerkrieges thematisiert. Lena Hendry, eine Aktivistin und Mitarbeiterin der Menschenrechtsorganisation Pusat KOMAS, wurde angeklagt und zu einer Geldstrafe von 10.000 RM verurteilt, weil sie den Film ohne vorherige Genehmigung vorgeführt hatte.4 Im Jahr 2016 wurde Sindiket verboten, der aufdeckte, dass Migranten aus Indonesien und den Philippinen im Austausch gegen Wählerstimmen für die amtierende Regierung die Staatsbürgerschaft verliehen worden war. 2017 war es der mehrfach ausgezeichnete Film Absent without Leave über den Großvater des Regisseurs Kek Huat Lau, der Mitglied der kommunistischen Partei gewesen war.
 

„Die Restriktionsmöglichkeiten sind so unbestimmt und umfassend, dass der Zensur ein grenzenloser Ermessensspielraum bleibt“, sagt Anna Har, Geschäftsführerin des Freedom Film Network (FFN). Das Netzwerk von Menschenrechtsaktivisten und Sozialfilmern setzt sich seit Jahren für Meinungs- und Wertefreiheit in Malaysia ein. Mit dem jährlichen internationalen Dokumentarfilmfestival FreedomFilmFest bietet das FFN ein Forum für Filme mit sozialen und menschenrechtlichen Inhalten sowie für die freie und kritische Diskussion gesellschaftspolitischer Themen. Seit seiner Gründung 1993 hat das Festival wiederholt Aufforderungen des Innenministeriums erhalten, alle Filme vor der Vorführung durch die Zensurbehörde genehmigen zu lassen. „Wir sind der Meinung, dass Filmvorführungen keiner Zustimmung einer Regierungsbehörde bedürfen“, erklärt Anna Har die Haltung des FFN. „Vor allem dann nicht, wenn es sich um Filme für Erwachsene handelt, die der politischen Bildung dienen, den kritischen Diskurs fördern und für nicht kommerzielle Zwecke bestimmt sind. Das Land sollte sich von der Zensur verabschieden und stattdessen die Lesefähigkeit und Medienkompetenz der Bürgerinnen und Bürger fördern.“

In der grenzenlosen digitalen Welt sind Zensurmaßnahmen ohnehin immer weniger durchsetzbar: Die Produzenten von Absent without Leave beispielsweise reagierten auf das Aufführungsverbot, indem sie den Film kostenlos im Internet zur Verfügung stellten.5
 

Schere im Kopf

Im Zuge des Regierungswechsels 2018 wird der Druck auf die Zensurbehörde LPF größer. Die Reformversprechen, die immer augenfälliger werdenden Widersprüche zwischen herkömmlicher Zensur und technologischer Entwicklung, die Verfügbarkeit von ansonsten streng kontrollierten und tabuisierten Inhalten im Internet – verschiedene Faktoren haben dazu geführt, dass heute in Malaysia offener über Zensur und mögliche Alternativen gesprochen wird als noch vor wenigen Jahren. Auf einer vom FFN organisierten und von der Alliance Française und dem Goethe-Institut Kuala Lumpur unterstützten Veranstaltung im Juni 2019 wurden Probleme der Zensur, zeitgemäße Formen der Medienregulierung und Modelle der Selbstkontrolle diskutiert.

Für den Onlinebereich gibt es in Malaysia bereits eine Selbstkontrolleinrichtung der Industrie: Das Communications and Multimedia Content Forum (CMCF) hat auf der Grundlage des Communications and Multimedia Act 1998 (CMA 98) für Rundfunk- und Internetunternehmen einen freiwilligen Verhaltenskodex (Content Code) entwickelt. Dieser enthält die Mindeststandards, die Programmmacher verinnerlichen sollten, so der Vorsitzende des CMCF, Ahmad Izham Omar. Inhalte, die als anstößig, beleidigend oder bedrohlich empfunden werden können, sollen vermieden werden – wie bei der Filmzensur sind auch diese Prinzipien sehr weit auslegbar. Die Zuschauerbeschwerden wegen vermeintlicher Verstöße gegen die Grundsätze zeigen, dass der gemeinsame Nenner für die Bewertung von Filmen und Fernsehsendungen in Malaysia sehr klein ist.
 


Die Gesellschaft ist gespalten. „Die Mehrheit der Bevölkerung will Zensurmaßnahmen, manuelle Blockaden und Schnitte, und sie will, dass die Regierung das für sie organisiert“, meint Ahmad Izham Omar. Die auf der Veranstaltung versammelten Filmschaffenden fühlen sich dagegen in unzulässiger Weise gegängelt. Sie sehen keinen Sinn in der Beschneidung ihrer Freiheiten, während auf Astro oder Netflix alles zu sehen ist. Nicht jeder sei reif für jede Art von Inhalt, sagt Izham. „Wenn mein Onkel wüsste, was auf Netflix läuft …“ Die neue Medienvielfalt zu nutzen, will gelernt sein, so der Konsens. Medienkampagnen und Programme der Medienerziehung und ‑bildung an Schulen wären wünschenswert. Allerdings fehlt es an politischem Willen und pädagogischer Kompetenz. Eine Lehrerin bringt es auf den Punkt: „Die meisten Lehrer wollen gar nicht, dass die Kinder kritisch sind.“

Starre Zensurvorschriften und traditionelle Moralvorstellungen führen zu einer Schere im Kopf. Anna Har sieht die Kreativität von Filmschaffenden beschnitten, weil bestimmte Themen von vornherein vermieden werden. „Es muss möglich sein, einen Film über die Lage der Rohingya zu drehen, ohne an die Beziehungen zwischen Malaysia und Myanmar zu denken“, sagt Har. Die Antwort von Mahzan bin Yusof von der Zensurbehörde zeigt, dass es bis zur Medienfreiheit in Malaysia noch ein weiter Weg sein wird: Das LPF wolle Filmemacher nicht beschneiden, sondern sie gerade fördern. Man könne schon in der Drehbuchphase helfen und auf Inhalte hinweisen, die nach den Zensurvorschriften schwierig werden könnten. Schließlich könne jeder Film gezeigt werden – sofern er den Vorgaben entspreche.
 

Ausblick

Wie ernst es dem LPF mit Reformen ist, wird sich zeigen. Vom 21. bis 28. September 2019 fand das FreedomFilmFest statt und hatte wieder Filme im Programm, die manche als heikel empfanden. „Wir dürfen diese umstrittenen Themen nicht verschweigen, um die Bürger oder das Land zu schützen“, sagt Anna Har. „Nur in einer offenen Diskussionskultur können Wissen und Gedanken frei fließen.“ Um eine solche Kultur wollen sich das Freedom Film Network und das Goethe-Institut in Kuala Lumpur weiter bemühen. In den Programmen der nächsten Jahre werden sie sich intensiv mit dem Themenkreis „Medien, Zensur und Filmklassifizierung“ beschäftigen. Im Juli 2019 haben sie eine Projektausschreibung der Europäischen Kommission zur Förderung der Zivilgesellschaft in Malaysia gewonnen. Die weitere Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen wird für den Erhalt des nach den Wahlen 2018 begonnenen Reformprozesses im Land essenziell sein.
 

Anmerkungen:

Die englische Fassung dieses Beitrags ist unter dem Titel Between Tradition and Modernity. Film Censorship, Age Classification and Self-Regulation in Malaysia in Webklusiv abrufbar.

1) Bedi, R. S.: Malaysia jumps up 22 places in latest Press Freedom index. In: The Star online, 18.04.2019. Abrufbar unter: https://www.thestar.com.my

2) Teoh, P. Y.: New Film Classifications will reduce Censorship. Interview mit Mohd Zamberi Abdul Aziz.. In New Straits Times, 09.07.2019. Abrufbar unter: https://www.nst.com.my

3) Die englische Version der Richtlinien beginnt auf S. 71 dieses Dokuments. Abrufbar unter: http://lpf.moha.gov.my

4) Suaram: Malaysia Human Rights Report 2017 Overview, S. 25. Abrufbar unter: https://www.fidh.org

5) Absent without Leave: Banned in Malaysia, producers show movie for free online instead. In: Malaymail, 21.02.2017. Abrufbar unter: https://www.malaymail.com