10 Minuten Soziologie: Gewalt

Thorsten Benkel (Hrsg.)

Bielefeld 2023: transcript
Rezensent/-in: Lothar Mikos

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 1/2024 (Ausgabe 107), S. 85-86

Vollständiger Beitrag als:

Soziologie der Gewalt

Die 15 Beiträge des Bandes befassen sich mit verschiedenen Aspekten der Gewalt aus soziologischer Perspektive. Thorsten Benkel spricht in seinem einführenden Beitrag allerdings nicht von Gewalt, sondern von Gewalten, denn sie erscheint in verschiedenen Formen, von der körperlichen bis zur regulatorischen oder strukturellen Gewalt. Dem Beitrag liegt ein leicht pessimistischer Unterton zugrunde, wenn Benkel unter Hinweis auf den polnisch-britischen Soziologen Zygmunt Bauman schlussfolgert, dass

eine gewaltfreie Welt gar nicht anders denn als Phantomgesellschaft denkbar [ist], bei der die Gewaltfreiheit nur eine vorgebliche Maskerade für umso mehr unterschwellige Gewalt wäre“ (S. 13 f.).

Denn Gewalt lässt sich nicht vollständig vermeiden. „Die Bereitschaft, Gewalt als Mittel zum Zweck oder gar als Selbstzweck zu handhaben, erschreckt und verunsichert, weil sie so eindeutig falsch zu sein scheint und sich dennoch ständig ereignet“ (S. 14). Gewalt verändert immer wieder ihre Form und passt sich den gesellschaftlichen und kommunikativen Gegebenheiten an. Sie wird längst auch digital verübt.

An Gewalt ist gerade die Variabilität und Anpassungsfähigkeit an gängige Kommunikationsmodi mit der Konsequenz der Umwertung ins Gewaltförmige hinein so schlimm wie faszinierend“ (S. 17).

Benkel beschreibt einen Fall aus England, in dem ein Täter mindestens 46 Menschen weltweit durch Chats von ihm abhängig machte und sie zu schweren Gewalttaten zwang. Er selbst benutzte nur Worte: Aber „im Lichte der Schmerzen, die sein Handeln ausgelöst hat, lässt sich schwerlich bestreiten, dass Gewalt geschehen ist“ (S. 19). Das Beispiel zeigt auch, dass Gewalt inzwischen medienabhängig geworden ist.

Marcel Sebastian setzt sich mit Gewalt gegen Tiere auseinander und kommt zu dem Fazit: „Das Tierschutzgesetz kann als Ausdruck der kulturellen Ambivalenz im gesellschaftlichen Umgang mit Gewalt an Tieren verstanden werden, da es Gewalthandlungen an Haus- und Nutztieren signifikant unterschiedlich sanktioniert“ (S. 38). Ekkehard Coenen weist zu Beginn seines Beitrags zur kommunikativen Konstruktion von Gewalt auf einen wesentlichen Aspekt hin: „Gewalt ist ein deutungsoffenes Phänomen. Welches Handeln als Gewalt bezeichnet wird und wie dieses zu beurteilen ist, variiert je nach Perspektive“ (S. 43). Dabei geht es häufig nicht um das „Was“ der Kommunikation, sondern um das „Wie“. Der Beitrag macht auch deutlich, dass die Interpretation von Gewalt immer von Kontexten abhängig ist, sozialen, kulturellen und kommunikativen.

Thomas Hoebel setzt sich aus einer prozessualen Perspektive mit den Anschlägen im Bataclan in Paris auseinander. Dabei geht es in erster Linie um den Dreiklang von Motiv, Situation und Konstellation (vgl. S. 58 f.). Oliver Dimbath geht es in seinem Beitrag zum Gewaltgedächtnis darum, die Zeitlichkeit von Gewalt zu berücksichtigen, d. h. vor allem die Folgen von Taten in den Blick zu nehmen. Diese Folge betreffen Täter*innen, Opfer und Zeug*innen in unterschiedlicher Weise. Er unterscheidet drei Formen des Umgangs: 1) Memorabilisierung und Diskursivierung, 2) Verdrängung und Regenerierung, 3) Verlusterfahrung und Reparatur (vgl. S. 73 ff.) – und dekliniert sie anhand des Krieges in der Ukraine durch. Thorsten Benkel analysiert, dass der kommunikative Modus und das Wissen über Gewalt sich entlang der dünnen Linie zwischen guter (gerechtfertigter) und schlechter Gewalt bewegen (vgl. S. 92 ff.). Im Beitrag von Felix Roßmeißl werden die sozialen Dynamiken in der Subkultur der Dschihadisten herausgearbeitet. Dabei zeigt sich: „Der Beteiligung am gewaltsamen Dschihad kommt in der subkulturellen Lebenspraxis also eine zentrale symbolische Bedeutung zu“ (S. 109). Der Beitrag erhellt die Tatsache, dass Gewalt in Subkulturen deren soziokulturellen Dynamik entspringt (vgl. S. 112). Das zeigt sich auch im Beitrag von Carsten Heinze zur Industrial-Kultur, auch wenn es dort um die symbolische Performanz und Ästhetisierung von Gewalt geht. Dieses Genre der Popkultur

greift in seinen aggressiven und gewalthaltigen Inszenierungen die moderne Gesellschaft, ihre bürgerlichen Lebensformen und ihre kaum thematisierten ‚Schattenseiten‘ an sich an“ (S. 186).

Während es in der Dschihadisten-Subkultur zu realen Gewalthandlungen kommt, geht es in der Industrial Music um die Reflexion von Gewaltverhältnissen in der spätkapitalistischen Gesellschaft.

Leonie Schmicklers Beitrag über die Genitalverstümmelung als soziales Ritual zeigt, dass der westliche Blick zu vorschnellen Beurteilungen kommt. Schaut man genauer hin, zeigt sich: „Bei näherer Beschäftigung mit weiblicher Genitalbeschneidung bzw. ‑verstümmelung wird rasch deutlich, dass es sich um eine Praxis unter Frauen handelt. […] Folglich kann als Motiv die Kontrolle der weiblichen Sexualität genauso aufgeführt werden wie eine Ästhetisierung des beschnittenen Genitals oder eben ein Initiationsritus als sozial konstruierte Statuspassage“ (S. 167, H. i. O.). Die Ambivalenz im Umgang mit Gewalt wird auch im Beitrag von Michael Weigl zum politischen Kampf gegen häusliche Gewalt deutlich, denn „Akte häuslicher Gewalt stellen demokratische Gesetzgeber vor das Dilemma, in den Raum des Privaten eingreifen zu müssen, der ihm eigentlich aufgrund seiner eigenen Selbstbeschränkung des Herrschaftsumfanges verschlossen ist. Zwischen Menschenrechtsschutz und der ebenfalls als Menschenrecht anerkannten Freiheit vor willkürlichen staatlichen Eingriffen in die Privatsphäre ist es oftmals nur ein schmaler Grat“ (S. 180). In ihrem Beitrag über Vergewaltigung als männliche Herrschaft kritisiert Daniela Klimke den Ruf von Feministinnen nach einem verschärften Strafrecht, denn dieses Recht bestätige nur männliche Herrschaft. „Indem Frauen über die Opferrolle höchst erfolgreich strafrechtlichen Beistand erbitten, reproduzieren sie ihre Hilflosigkeit und die Machtposition von Männern über sie“ (S. 212). Der Kampf um Gleichberechtigung sei daher in den Feldern der Ökonomie, der Politik und im Recht zu führen.

Daneben gibt es noch Beiträge zur Kontrollgesellschaft, zur organisierten Kollektivgewalt im modernen Staat, zu der Legitimation staatlicher Gewalt oder Sadomasochismus als zivilisierte Gewalt. Insgesamt bietet der Band einen ausgezeichneten Überblick über aktuelle soziologische Betrachtungen von Gewalt(en). Besonders hervorzuheben ist, dass die Beiträge die gängigen öffentlichen Debatten gegen den Strich bürsten und so dazu einladen, einen anderen, tiefer gehenden Blick auf Gewalt zu werfen.

Prof. i. R. Dr. Lothar Mikos