15 Jahre Mediensozialisation im Fokus der Wissenschaft

Entwicklungen des Medienumgangs im zeitlichen Verlauf

Daniel Hajok

Dr. Daniel Hajok ist Kommunikations- und Medienwissenschaftler, Honorarprofessor an der Universität Erfurt sowie Gründungsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Kindheit, Jugend und neue Medien (AKJM).

Band 10 der von Ingrid Paus-Hasebrink, Sascha Trültzsch-Wijnen und Uwe Hasebrink herausgegebenen Reihe Lebensweltbezogene Medienforschung: Angebote, Rezeption, Sozialisation bringt eine eigentlich schon 2017 abgeschlossene, einzigartige Panelstudie zur (Medien‑)Sozialisation junger Menschen in Deutschland und Österreich erneut in den Fachdiskurs ein.

Im Mittelpunkt des umfassenden Forschungsberichts stehen die von Ingrid Paus-Hasebrink und Philip Sinner abgefassten spannenden Ergebnisse einer im Jahr 2020 durchgeführten weiteren Erhebungswelle, mit denen der veränderte Alltag und Medienumgang der nunmehr jungen Erwachsenen differenziert beschrieben werden.

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 3/2022 (Ausgabe 101), S. 46-50

Vollständiger Beitrag als:

Anliegen der Panelstudie

In den bislang sechs Erhebungswellen (und einer Nachbefragung), die sich an den wichtigen Phasen der Entwicklung bzw. Sozialisation – Kindergartenzeit (2005), Einschulung (2007), mittlere Kindheit (2010), Adoleszenz und Jugendalter (2012, 2015 und 2016/2017) – orientieren, wurden in der Panel-Langzeitstudie zu Beginn 20 und bis zuletzt dann immerhin 18 junge Menschen gemeinsam mit ihren engsten Beziehungspersonen wissenschaftlich begleitet.

Das mit dem ersten Förderantrag formulierte Ziel lautet, „die mit dem sozialen Wandel einhergehenden sozialisatorischen Bedingungen speziell für Kinder in sozial schwächeren bzw. anregungsärmeren Milieus zu beschreiben und ihre Bedeutung für den Prozess der Sozialisation aufzuzeigen“ (S. 15 f.). Wie die Autorin Paus-Hasebrink im Vorwort weiter ausführt, geht es „vor allem darum, das Verhältnis von Medien zu anderen Sozialisationskontexten zu untersuchen und zu eruieren, welche Relevanz diesen bei der Identitätskonstruktion, dem Aufbau von Wissen und in der Wertevermittlung zukommt“ (S. 16) – was in der kritischen Betrachtung zuletzt vielleicht etwas aus dem Fokus geraten ist.

Zu Beginn der Langzeitstudie gerade 5 Jahre alt, stehen in der siebten Erhebungswelle die nunmehr jungen Erwachsenen um die 20 im Mittelpunkt des Interesses. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Frage, welche Rolle die Medien beim Übergang von der Jugend in das von Schul-Ende, Lehre und Ausbildung, neuen partnerschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen, einem veränderten privaten und beruflichen Umfeld geprägte Erwachsenenalter spielen. Nicht zuletzt wird auch ein Blick auf die für die jungen Erwachsenen spezifischen Herausforderungen der Covid-19-Pandemie und „die Wahrnehmungen und Umgangsweisen der Panelangehörigen mit Geflüchteten in den Jahren 2015 und 2016 geworfen und die Rolle von Medien in den Kontexten dieser gesellschaftlichen Krisensituationen nachgezeichnet“ (S. 17).
 

Theoretischer Rahmen und Methodik

Wie ganz zu Beginn von den Herausgeber*innen der Reihe dargestellt, baut der Band theoretisch und methodisch auf dem von Ingrid Paus-Hasebrink konzipierten und mit der Panelstudie „weiterentwickelten praxeologisch ausgerichteten Ansatz integrativer Mediensozialisationsforschung auf, in dessen Mittelpunkt die Frage nach dem subjektiven Sinn des (Medien‑)Handelns von Individuen vor dem Hintergrund ihrer lebensweltlichen Kontexte steht“ (S. 8). Theoretische Grundlage ist die neuere Sozialisationstheorie, die entlang ihrer zentralen Perspektiven im ersten Kapitel noch einmal entfaltet wird: Sozialisation wird hier als ein lebenslanger dynamischer Prozess hervorgehoben, in den auch die im Zentrum des Interesses stehenden spezifischen Mediensozialisationsprozesse eingebunden sind. 

Die (kommunikativen) Praktiken der jungen Menschen wurden mit besonderem Blick auf Handlungsoptionen, Handlungsentwürfe und Handlungskompetenzen analytisch rekonstruiert. Wichtigstes Erhebungsinstrument im Mehr-Methoden-Design waren in den ersten sechs Erhebungswellen Leitfadeninterviews mit den Kindern bzw. Jugendlichen und ihren Eltern. Hinzu kamen schriftliche Elternbefragungen (zu den Familienkonstellationen), protokollierte Beobachtungen der Forscher*innen (zur Wohnsituation, Medienausstattung, zum Umgang der Familienmitglieder etc.) und ab der fünften Erhebungswelle Netzwerkkarten (zur Relevanz von Medien und Bezugspersonen), Fotografien von zentralen Orten (in der Wohnung) und mit der Methode des Lauten Denkens erfasste Reflexionen (zu Social-Media-Angeboten). In der siebten Erhebungswelle wurden Telefon-, WhatsApp-Calls oder Skype-Interviews durchgeführt. Die vierstufige Auswertung umfasst wie gehabt eine fokussierte (fallübergreifende) Analyse, eine kontextuelle Einzelfallanalyse und Einzelfallbeschreibung sowie eine Typenbildung.
 


Sozialisation wird hier als ein lebenslanger dynamischer Prozess hervorgehoben, in den auch die im Zentrum des Interesses stehenden spezifischen Mediensozialisationsprozesse eingebunden sind.


 

Zwischen Überforderung und kompetentem Aufstieg

Spannend sind gleich zu Beginn des Ergebnisteils die Fallbeschreibungen. Das selbst auferlegte Ziel fest im Blick wird hier anschaulich nachgezeichnet, „wie sich die Lebenswege der Jugendlichen hin zu jungen Erwachsenen vollzogen haben, ob und wie es den jungen Menschen gelingt, mittlerweile einen stärker selbstbestimmten Weg zu gehen und sich von ihren Familien, allen voran ihren Eltern, zu lösen und nunmehr durch andere Handlungsoptionen (eigene finanzielle Mittel in Folge von weiterer Ausbildung, Lehre bzw. Berufseinstieg etc.) eigene Handlungsentwürfe zu entwickeln und mit welchen Handlungskompetenzen sie ihren Alltag und darin eingelagert auch ihren Mediengebrauch gestalten“ (S. 43 f.).

Strukturgebendes Moment sind die im Jahr 2014 gebildeten und 2017 modifizierten vier Familientypen. Sie sollen der Komplexität und Dynamik familiärer Lebensführung einerseits gerecht werden, sie andererseits aber auch nachvollziehbar abbilden – und lösen diesen Anspruch gelungen ein.

Das Heranwachsen in den rundum überforderten Familien (Typ 1), die im Panel ausschließlich von Groß- und Einelternfamilien repräsentiert werden, ist demnach noch immer von starken – als belastend und ausweglos empfundenen – sozioökonomischen Einschränkungen gekennzeichnet (prekäre Wohnsituation, weite Wege zur Schule etc.). Hinzu kamen in den letzten Jahren noch psychische und physische Erkrankungen, die bei Eltern zu Arbeitsunfähigkeit und bei den Kindern zu einer beeinträchtigten Entwicklung führten. Eine angemessene Begleitung und Unterstützung des Medienumgangs der Kinder bleibt hier aufgrund fehlender Handlungskompetenzen aus.

In den sozioökonomisch weniger belasteten, aber wegen problematischer Beziehungsstrukturen überforderten Familien (Typ 2) ist das Heranwachsen trotz einer verbesserten finanziellen Situation weiterhin von belasteten sozialen Beziehungen gekennzeichnet. Das elterliche Desinteresse an den Belangen der Kinder zeigt sich auch in der (Medien‑)Erziehung.

Die in der Studie als sozioökonomisch noch immer belastet, aber relativ kompetent herausgestellten Familien (Typ 3) nehmen ihre beschränkten Handlungsoptionen zwar als starke Einschränkung wahr. Aufgrund der verbesserten Beziehungen untereinander gelingt es ihnen aber, die alltäglichen Herausforderungen zu meistern. Im Kontext einer um Harmonie bemühten Erziehung haben die Kinder relativ viel Freiheit beim Medienumgang – verbindliche Regeln sind Mangelware.

In den unbelasteten Familien, die sich im Sample als relativ kompetente „Aufsteiger“ erweisen (Typ 4), leben die Heranwachsenden schon länger in stabilen Familienkonstellationen. Sozioökonomischer Aufstieg (fester/besser bezahlter Job), kompetente Bewältigungsstrategien und den Kindern zugewandte Eltern mit Interesse an deren (medienbezogenen) Wünschen rahmen eine wenig restriktive (Medien‑)Erziehung, die den Heranwachsenden Raum für sich selbst lässt.
 

Veränderungen des Medienumgangs im Fokus

Ebenso anschaulich wie die soeben nur kurz skizzierten Familientypen, die mit den differenziert beschriebenen Einzelfällen im Forschungsbericht weit über hundert Seiten füllen, präsentiert der nachfolgende Ergebnisteil die Befunde der fokussierten fallübergreifenden Analyse.

Im Mittelpunkt stehen hier die markanten Entwicklungen im Leben der Heranwachsenden des Samples unter besonderer Berücksichtigung von Schule, Ausbildung und Eintritt ins Berufsleben, (partnerschaftlichen) Beziehungen, Wohnbedingungen und Zukunftsplänen, Medienumgang und Freizeitverhalten sowie des veränderten Lebens und Mediengebrauchs ihrer Eltern.

Im Ergebnis wird eine individuelle Lebensführung Heranwachsender aus sozial schwächeren bzw. anregungsärmeren Milieus deutlich, es „lassen sich jedoch auch weiterhin vielfältige Verbindungen der jungen Erwachsenen zu ihren Familien nachweisen, und viele Entscheidungen lassen sich auf ihre Herkunft und die sie prägenden sozio-emotionalen wie sozio-ökonomischen Bedingungen zurückführen“ (S. 200).

Sieht man sich die Entwicklungen beim Medienumgang und Freizeitverhalten etwas genauer an, dann lässt sich zwar weiterhin ein Mediengebrauch auf hohem Niveau konstatieren. Auf individueller Ebene gibt es zum Teil aber auch starke Veränderungen bzw. deutlich mehr oder aber weniger Mediennutzung, die meist in engem Zusammenhang mit dem Einstieg ins Berufsleben zu sehen ist: Einerseits nutzen viele der Befragten Medienangebote und Geräte, allen voran Laptop und Smartphone, nun auch beruflich, andererseits verbleibt im Arbeitsalltag weniger Zeit für Freizeitaktivitäten“ (S. 191).
 


Ist der Berufseinstieg gelungen, dann stehen den jungen Erwachsenen mehr finanzielle Mittel zur Verfügung, die viele in Mediengeräte, kostenpflichtige Streamingangebote etc. sowie in andere teure Dinge wie Autos oder Motorrad investieren.



In aller Regel versuchen die jungen Erwachsenen dennoch, die diversen medialen und nicht medialen Freizeitaktivitäten in ihren begrenzten Zeitbudgets unterzubringen. Von den über Jahre hinweg lieb gewonnenen Medienbeschäftigungen (Computerspiele, TV-Sendungen und Serien, Netflix und YouTube) lassen sie in der Regel (noch) nicht ab.

Abgesehen davon zeigen sich bei den Heranwachsenden im Panel „zum Teil sehr stark individuell geprägte Entwicklungen in der Zusammenstellung ihres jeweiligen Medienrepertoires“ (S. 192). Einige wenden sich beim Übergang ins Erwachsenenleben verstärkt Informationsangeboten zu. Für andere werden gemeinsame Medienbeschäftigungen (Streaming, Gaming etc.) im Freundeskreis und (neuen) partnerschaftlichen Beziehungen relevanter.

Ist der Berufseinstieg gelungen, dann stehen den jungen Erwachsenen mehr finanzielle Mittel zur Verfügung, die viele in Mediengeräte, kostenpflichtige Streamingangebote etc. sowie in andere teure Dinge wie Autos oder Motorrad investieren. Neben solchen kostspieligen Hobbys und Freizeitaktivitäten dienen ihnen nicht zuletzt Medien als (wichtige) Statussymbole.
 

Spezifische Sicht auf Krisen (und die Rolle der Medien)

Der letzte Ergebnisteil ist den (bislang selten erforschten) Perspektiven von sozial benachteiligten Familien auf gesellschaftliche Krisen (hier: Flüchtlingskrise und Covid-19-Pandemie) und der Rolle der Medien hierfür gewidmet.

Als in den Jahren 2015 und 2016 zahlreiche Geflüchtete in den europäischen Ländern ankamen, fand dies bei den Panelfamilien große Aufmerksamkeit und war nahezu ein tägliches Gesprächsthema, das vielerorts auch zu familiären Diskussionen und Streit führte. Neben Verwandten und Bekannten waren Onlinemedien wie Bild.de und Krone.de wichtige Quellen zur Information, für Eltern zudem häufig Facebook, für die Heranwachsenden oft die beliebten YouTube-Kanäle. Unterm Strich hinterließ die Krise dennoch eine große Verunsicherung. Die sozial Benachteiligten nahmen den Zuzug von Hilfesuchenden vor allem als eine Bedrohung und Gefahr (für den eigenen Besitzstand) wahr.

Die direkten Auswirkungen der Covid-19-Pandemie wurden in den Familien im Frühjahr/Frühsommer 2020 zwar wahrgenommen (und diskutiert), aber nicht besonders ausgeprägt auf das eigene Leben bezogen bzw. als Bedrohung eingeschätzt. Mit der Analyse der letzten Erhebungswelle gelangt vielmehr ein ganz anderer Aspekt in den Fokus: die zunehmende Bedeutung von diversen Medienkanälen (zur Information) und dem kommunikativen Austausch (zu den dort gesetzten Themen).
 


Die direkten Auswirkungen der Covid-19-Pandemie wurden in den Familien zwar wahrgenommen (und diskutiert), aber nicht besonders ausgeprägt auf das eigene Leben bezogen bzw. als Bedrohung eingeschätzt.



Letztlich – das heben Autorin und Autor im Fazit noch einmal rückblickend hervor – erhalten beide Krisen im Kontext sozialer Benachteiligung besondere Relevanz. Die Sicht der Betroffenen zeigt eine „überragende Bedeutung sowohl der medialen Berichterstattung als auch des persönlichen kommunikativen Austauschs über medial vermittelte Angebote“ (S. 261).

Auch diese Ergebnisse überraschen nicht unbedingt. Sie sind allerdings auch in der siebten Welle der einzigartigen Panel-Langzeitstudie zur (Medien‑)Sozialisation trotz reduziertem methodischem Instrumentarium im Gesamtzusammenhang der wesentlichen Sozialisationskontexte Heranwachsender erhoben, analysiert und im Forschungsbericht adäquat beschrieben. Der wissenschaftlichen Begleitung sozial benachteiligter Familien über 15 Jahre hinweg entspringt so nicht nur ein besonderer Wert für die Forschung, sondern auch – das zeigen die Statements der Panelteilnehmer*innen am Ende – für benachteiligte Heranwachsende und ihre Eltern. Eine positive Überraschung wäre, wenn es ganz unerwartet noch eine achte Erhebungswelle zur Sicht auf die aktuelle Krise gibt.
 

Ingrid Paus-Hasebrink/Philip Sinner15 Jahre Panelstudie zur (Medien‑)Sozialisation. Wie leben die Kinder von damals heute als junge Erwachsene? Baden-Baden 2021: Nomos. Die Studie ist als E-Book frei abrufbare unter: www.nomos-elibrary.de.