70 Jahre Indizierungen

Das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften hat Geburtstag

Es ging um Sittlichkeit, Nacktheit, anstößige Texte und Bilder: Sex war nur in der Ehe erlaubt, erotische Darstellungen standen im Verdacht, Jugendliche zu einer Verfrühung ihrer ersten sexuellen Wünsche und Erfahrungen anzuregen. Die Rückschau auf die Entwicklung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften hin zur Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz macht die Zunahme des Medienkonsums und die Ausdifferenzierung des Angebots deutlich, aber auch die Veränderung von Ethik und Moral.

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Am 9. Juni 1953 trat das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften (GjS) in Kraft. Während das Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit bereits am 6. Januar 1952 rechtsverbindlich geworden war und die Altersfreigaben für Kinofilme den Obersten Landesjugendbehörden bzw. der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft(FSK) übertragen hatte, schloss das GjS alle übrigen damals verfügbaren Medien ein, von Heften, Zeitschriften, Büchern bis hin zu Tonträgern. Vor allem CDU und CSU hatten vehement gefordert, das in der Weimarer Republik von 1926 bis 1935 geltende Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften wieder aufleben zu lassen. Nach den damaligen Vorstellungen ging von Comicheften wie Der kleine Sheriff, Pecos Bill oder Tarzan eine große Gefahr aus (vgl. Grasberger 2017).
 

Was ist obszön?

Was als obszön galt, war schon immer umstritten. Im US-Bundesstaat Wisconsin galten Kondome als obszön und durften nur unter der Ladentheke verkauft werden. Im britischen Liverpool durfte das Entkleiden weiblicher Schaufensterpuppen nicht öffentlich durchgeführt werden, weil Kinder dieses angeblich obszöne Schauspiel sehen könnten. In manchen Weltgegenden wurden sogar Häschenwitze für obszön gehalten. Genau definieren konnte man „obszön“ nicht. Der Philosoph und Schriftsteller Ludwig Marcuse hat es einmal so versucht:

Obszön ist, wer oder was irgendwo irgendwann irgendwen aus irgendwelchem Grund zur Entrüstung getrieben hat. Nur im Ereignis der Entrüstung ist das Obszöne mehr als ein Gespenst.“ (Zitiert nach Grasberger 2017)


Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften

Da es, nach Art. 5 Abs. 1 letzter Satz des Grundgesetzes, keine Zensur in Deutschland geben darf, hat man ein relativ kompliziertes Verfahren vorgeschrieben, um zu entscheiden, welche Medienerzeugnisse als jugendgefährdend einzustufen sind. Am 16. September 1954 nahm die für diese Zwecke geschaffene Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (BPjS) ihre Arbeit auf. Allerdings konnte sie nicht eigenständig darüber entscheiden, welche Publikationen auf jugendgefährdendes Potenzial hin überprüft werden sollten. Die Bundesprüfstelle durfte Indizierungsverfahren nur auf Grundlage eines Antrages der Obersten Landesjugendbehörden in Gang setzen. War das geschehen, wurde ein Gremium aus  zwölf Personen tätig, in dem neben der/dem Vorsitzenden der Bundesprüfstelle elf Beisitzer vertreten waren. Diese wurden von mehreren Institutionen oder Verbänden nach der Vorgabe des Gesetzes (aktuell in §§ 19/20 Jugendschutzgesetz) vorgeschlagen und vom für Jugendfragen zuständigen Ministerium, gegenwärtig das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, für die Gremien ernannt. In eindeutigen Fällen konnte auch ein Dreiergremium entscheiden, um das Verfahren zu beschleunigen – Voraussetzung war Einstimmigkeit.

An den Konsequenzen der Einstufung eines Mediums als jugendgefährdend hat sich bis heute nichts geändert: Es wird in die Liste der jugendgefährdenden Schriften aufgenommen und ist damit indiziert. Die Indizierung bedeutet kein generelles Verbot, sondern ein Vertriebsverbot an Kinder und Jugendliche: Für indizierte Medien darf nicht geworben werden, sie dürfen Kindern und Jugendlichen weder angeboten noch zugänglich gemacht werden. Filme, die in der Videofassung in die Liste aufgenommen wurden, dürfen nicht im Fernsehen ausgestrahlt werden.

Indiziert wurden in der Anfangsphase vor allem Hefte, die als sexuell anstößig galten, darunter zahlreiche Publikationen aus dem FKK-Bereich: „[D]er Bundesprüf-Blick richtet sich nämlich vor allem auf menschliche Körper – wobei recht eng gefasst wird, was als pornografisch zu gelten hat. Ein zu kurzer Petticoat oder zu tiefer Ausschnitt sind da schon genug.“ (Grasberger 2017)
 

Die Liberalisierung und der Rückgang der Indizierungsanträge

Die sexuelle Liberalisierung in den 1970er-Jahren führte zu einer höheren gesellschaftlichen Liberalität gegenüber sexuellen Darstellungen, was einen starken Rückgang der Anträge auf Indizierung durch die Obersten Landesjugendbehörden zur Folge hatte. Die Bundesprüfstelle, vor allem ihr damaliger Vorsitzender Rudolf Stefen, reagierte auf diese Entwicklung damit, sich stärker auf Gewaltdarstellungen und weniger auf sexuelle Inhalte zu fokussieren. Außerdem bemühte er sich, die bis dahin weitgehend auf moralischen oder Gefühlsurteilen fußenden Bewertungen der Jugendgefährdung durch Positionen aus der Wissenschaft zu untermauern. Zudem wurden die antragsberechtigten Stellen per Gesetz auf die damals etwa 600 Jugendämter erweitert.

Zu einem Anstieg des politischen Interesses an der Bundesprüfstelle führten eine Reihe rechtsradikaler Schriften, die den Holocaust leugneten und den Nationalsozialismus sowie die deutsche Wehrmacht und den Zweiten Weltkrieg verherrlichten. Die Bundesprüfstelle sorgte für die Indizierung dieser Veröffentlichungen.
 

Videos: explizite Darstellung von Gewalt und Sex

Einen wahren Boom erlebte die Bundesprüfstelle, als Anfang der 1980er-Jahre die ersten Videokassetten in Videotheken zur Miete angeboten wurden. Neben Darstellungen von Sex ging es bei den Zombie- oder Splatterfilmen um die Darstellung brutaler Gewalt. Die nach dem Jugendschutzgesetz getroffenen FSK-Freigaben galten nur für die öffentliche Vorführung in Kinos, der inhaltsgleiche Videofilm durfte dagegen ohne Beschränkungen an jeden verkauft oder vermietet werden. Dies änderte sich erst durch das neue Gesetz zum Schutz der Jugend in der Öffentlichkeit, das 1985 in Kraft trat und ein Abgabeverbot für bespielte Trägermedien an Kinder und Jugendliche verhängte, die über keine Freigabe der Obersten Landesjugendbehörden bzw. der FSK verfügten.

Der Versuch, auch Fernsehsendungen zu indizieren, ging allerdings schief. Getroffen hatte es Folge 18 der beliebten ZDF-Serie Schwarzwaldklinik mit dem Titel „Gewalt im Spiel“, die am 1. Februar 1986 ausgestrahlt wurde und nach Ansicht der Bundesprüfstelle Selbstjustiz verharmloste: „Der Fernsehfilm sei geeignet, Kinder und Jugendliche durch Unterweisung in der Vorbereitung einer Vergewaltigung sowie einer sich anschließenden Strafvereitelung und durch Verharmlosung der Selbstjustiz sozialethisch zu desorientieren; sie sei damit jugendgefährdend. […] Die Landesmediengesetze sowie § 10 des ZDF-Vertrages stünden der Anwendung des GjS auf Fernsehfilme nicht entgegen,“ argumentierte die Prüfstelle (BverwG 1990). Das Bundesverwaltungsgericht sah das anders: „Das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften enthalte keine Rechtsgrundlage für die Aufnahme von Fernsehsendungen in die Liste der jugendgefährdenden Schriften. Der nach § 1 Abs. 3 GjS um Ton- und Bildträger, Abbildungen und andere Darstellungen erweiterte Schriftenbegriff des Gesetzes könne bei verfassungskonformer Auslegung der Norm bereits deshalb keine Fernsehsendungen umfassen, weil dem Bundesgesetzgeber die Gesetzgebungskompetenz zum Erlaß von Jugendschutzbestimmungen für den Fernsehbereich fehle. Unabhängig davon sei das Gesetz auf Fernsehsendungen nicht anwendbar.“ (Ebd.)
 

Computerspiele, Musik und Internet

Als Computerspiele mit äußerst detaillierten Gewaltdarstellungen auf den Markt kamen und sich bei jugendlichen Spielern äußerster Beliebtheit erfreuten, gab es einen neuen Boom von Indizierungen. Die Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) konnte zwar Altersempfehlungen aussprechen, diese waren rechtlich aber nicht verbindlich: Das Jugendschutzgesetz bezog sich nur auf Bildträger, nicht aber auf interaktive Spiele. Das änderte sich erst mit der Novellierung des Jugendschutzgesetzes 2003, durch die das Abgabeverbot von ungeprüften Bildträgern auch auf interaktive Computerspiele ausgedehnt wurde. Wie die FSK arbeitet die USK seit 2003 auf der Grundlage der Ländervereinbarung mit den Obersten Landesjugendbehörden zusammen.

Durch das Internet haben sich der Medienkonsum und die Vertriebswege von jugendgefährdenden Inhalten völlig verändert. Seit 2003 wurde das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften in das Jugendschutzgesetz integriert, die Prüfstelle wurde umbenannt in Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, ihre Zuständigkeit wurde auf das Internet ausgedehnt. In der Praxis bewirkte das aber sehr wenig: Angebote im Netz kann man schnell verändern, die Bundesprüfstelle aber muss immer bestimmte formale Wege einhalten, so dass die Inhalte bis zur Indizierung schon eine große Gruppe von jugendlichen Nutzern erreicht haben kann. Außerdem sind die Indizierungen gegenüber Angeboten aus dem Ausland rechtlich nicht durchsetzbar.

Die Prüfstelle war auch bei Tonträgern aktiv: Rassistische, gewaltverherrlichende, frauenfeindliche oder sonst anstößige Titel und Musikclips wurden indiziert, unter anderem Musik von den Ärzten und den Fantastischen Vier: „Im Song der Berliner Punkrockband Die Ärzte geht es um Sex zwischen Bruder und Schwester und den Spaß des Geschwisterpaares daran. Das Lied wurde vor 35 Jahren (am 27. Januar 1987) indiziert. Der Bannstrahl der Jugendschützer traf auch das Album ‚Die Ärzte‘, andere Songs und Platten sowie das eigens daraus zusammengestellte Album ‚Ab 18‘, das wie ‚Geschwisterliebe‘ bis heute auf der Index-Liste steht.“ (Keuerleber 2022) Fanta 4 traf es 1991 mit ihrer EP Frohes Fest, in der es, dem Titel zum Trotz, wenig besinnlich zugeht. Der Song handelt u. a. von einem betrunkenen Junggesellen, der die freie Zeit der Feiertage für selbstbefriedigende Aktivitäten und ungeschützten Sex mit Prostituierten nutzt. (Maeck 2015)
 

Falco – Jeanny (FALCO, 25.10.2009)
Der meist als Vergewaltigungsfantasie interpretierte Song „Jeanny, Part I“ des österreichischen Sängers Falco (1957-1998) war 1985 zwar heftig umstritten und wurde auch von zahlreichen Radiosendern boykottiert. Die damalige Bundesprüfstelle setzte den Song aber nicht auf den Index, weil er keine eindeutigen Aussagen zu einem Sexualverbrechen enthielt. (Keuerleber 2022)



Heute: Verlagerung auf Medienkompetenz

Inzwischen gibt es kaum noch bespielte Videokassetten oder DVDs. Medien werden im Internet etwa auf YouTube oder über Streamingdienste vertrieben. Mit der Novellierung des Jugendschutzgesetzes 2021 wurde der Aufgabenbereich der Bundesprüfstelle auf die Vermittlung und Koordinierung von Medienkompetenz erweitert. Sie heißt nun Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz (BzkJ) und beschreibt ihren erweiterten Aufgabenbereich wie folgt: „Die Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz ist weiterhin zuständig für die Indizierung jugendgefährdender Medien und unterhält hierfür eine entsprechende Prüfstelle. Des Weiteren zählen die Gestaltung und Förderung der Weiterentwicklung des Kinder- und Jugendmedienschutzes sowie die Orientierungsgebung über die Spruchpraxis und zielgruppenorientierte Information durch Öffentlichkeitsarbeit zu ihren gesetzlichen Aufgaben. Die BzKJ wacht zudem über die Einhaltung von im Gesetz festgelegten Anbietervorsorgepflichten und ist zur Verhängung hoher Bußgelder auch gegenüber Anbietern, die ihren Sitz nicht in Deutschland haben, befugt.“ (bund.de 2023)

Quellen:

bund.de: Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz (BzKJ). In: bund.de. Service online. Abrufbar unter: service.bund.de (letzter Zugriff: 17.06.2023)

BVerwG: Urteil vom 29. Mai 1990– 1 C 4/87. In:BVerwGE 85, S. 169-177

Grasberger, T.: 9. Juni 1953 - Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften tritt in Kraft, In: Bayern 2, 09.06.2017. Abrufbar unter: www.br.de (letzter Zugriff: 17.06.2023)

Keuerleber, U.: Die Ärzte Index. Ärzte-Song kam vor 35 Jahren auf Index - Diese Songs stehen auch auf der Liste. In: Südwest Presse, 25.01.2022. Abrufbar unter: www.swp.de (letzter Zugriff: 17.06.2023)

Maeck, S.: einestages-Adventskalender. Fanta 4 total verboten. In: Spiegel Geschichte, 01.12.2015. Abrufbar unter: www.spiegel.de (letzter Zugriff: 17.06.2023)