Analoge Nostalgie als Versuch einer Entschleunigung
Sie beschäftigen sich in Ihrem Buch mit der analogen Nostalgie. Was genau verstehen Sie darunter?
Der Begriff ist in meinem Buch recht weit gefasst, sodass man im Grunde von analogen Nostalgien sprechen müsste, um der Bandbreite der Phänomene gerecht zu werden. Einmal verstehe ich darunter die tatsächliche Wieder- und Weiterverwertung von mehr oder weniger verdrängten analogen Medienformaten, wie etwa die Rückkehr der Schallplatte, aber auch bestimmte Künstlerszenen, in denen analoge Filmkameras nie wirklich weg waren. Der zweite Bereich funktioniert ganz anders. Er umfasst die Simulation der Ästhetik analoger Medienformen, wie durch Filter bei Instagram, die den mit Smartphones aufgenommenen Fotos die Ästhetik von Polaroid-Bildern geben. Das Gleiche finden wir auch im Bereich der Musik. Kurze Zeit nach Einführung der CD mischte man den Aufnahmen in der digitalen Postproduktion das Rauschen und Knistern der Schallplatte bei, um ihnen wieder ein bisschen Materialität zurückzugeben oder für eine gewisse Wärme zu sorgen, die der CD offenbar abgesprochen wurde. Im dritten Bereich fasse ich die Diskurse zusammen, die in den Fachwissenschaften über die Digitalisierung geführt wurden. Vor allem in der Medien- und Filmwissenschaft war dieser z.T. sehr nostalgisch geprägt. In den 1990er-Jahren war man hier äußerst kulturpessimistisch gegenüber der Digitalisierung eingestellt.
Woher kommt der Begriff „Nostalgie“ überhaupt?
Die Vorgeschichte des Nostalgiebegriffs ist weit gehend unbekannt. Man könnte meinen, dass es sich hierbei um ein antikes Konzept handelt, der Sehnsucht nach der Vergangenheit. Tatsächlich ist es ein verhältnismäßig junger Begriff, der erst im späten 17. Jahrhundert durch einen Schweizer Doktoranden geprägt wurde, der damit eine Art Heimweh beschrieben hat, eine potenziell tödliche Krankheit, die junge Schweizer Männer befällt, wenn sie sich ins Ausland begeben. Die Betroffenen können an nichts anderes denken als an die Schweiz, an die heimischen Berge, werden depressiv und sterben schließlich, wenn sie nicht geheilt werden – was nur durch die tatsächliche Heimkehr möglich ist. Ins Griechische übersetzt, leitet sich „Nostalgie“ von „Nostos“, der Heimkehr, und „Algos“, dem Schmerz, ab. Das „Heimweh“ übrigens findet man auch erst im 15./16. Jahrhundert als Schweizer Dialektwort. Aber natürlich gab es dafür andere Begriffe: Wussten Sie z.B., dass der Begriff des Elends im Deutschen dieselbe Wurzel hat wie der Begriff „Ausland“? Es war also ursprünglich der Begriff für das Gefühl, das einen befiel, wenn man fern der Heimat war. Insofern gibt es diese Diskurse oder die Idee der Sehnsucht nach der Heimat schon viel früher, denken wir an Geschichten aus der Bibel oder an Homers Odyssee.
Heutzutage haftet dem Begriff der Nostalgie ja eher etwas Negatives an …
Das erklärt sich einmal wahrscheinlich dadurch, dass er eben von dieser „tödlichen Krankheit“ herrührt. Wenn man sich die Diskursgeschichte des Begriffs und die Veränderungen anschaut, die er offensichtlich durchlaufen hat – von einem sehr räumlich geprägten hin zu einem eher diffusen zeitlichen Verständnis –, dann lassen sich deutliche Wellenbewegungen ausmachen. Immer wieder gab es Bestrebungen, die Nostalgie positiver umzudeuten oder sie zumindest als normales Phänomen zu verstehen. Im Zuge der Nationalstaatsbewegungen etwa versuchte man, das Heimweh als etwas Gutes zu definieren und damit in einen nationalistischen Diskurs zu pressen. Auch bei der eher zeitlich verstandenen Nostalgie gibt es immer wieder Tendenzen, sie nicht als regressiv zu werten, sondern als ein normales psychologisches Phänomen, das geradezu notwendig ist, um mit Modernisierung klarzukommen. In den frühen 2000er- Jahren gab es in der Kulturwissenschaft sehr viele Arbeiten, die Nostalgie äußerst positiv verstanden haben und auch empirisch nachweisen wollten, dass sich Menschen, die nostalgisch sind, offener gegenüber Veränderungen zeigen. In den letzten Jahren – und das hängt sicherlich auch mit der politischen Entwicklung zusammen – wird es eher wieder negativer gesehen.
Um auf die verschiedenen Medienformen zurückzukommen: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, bedeutet Nostalgie aber keineswegs das Gegenteil von Modernisierung?
Ja, ich habe versucht, das in meiner Arbeit zu beschreiben: Nostalgie ist keine Gegentendenz, sondern eine komplementäre Tendenz zur Modernisierung. Tatsächlich muss jede Form von Veränderung irgendwie verarbeitet werden – und häufig passiert das eben über nostalgische Aneignungsformen, wie z.B., dass man das Neue erst einmal so „verkleidet“, dass es wie Altvertrautes anmutet. Im Medienbereich begegnet uns das recht häufig. Schauen wir uns nur das Computervokabular an: Der Desktop oder der Papierkorb sind alles Versuche, die neue Technik erst einmal wie Gewohntes aussehen zu lassen. Manche dieser Metaphern bleiben bestehen, weil sie sich bewährt haben, andere verschwinden wieder. Es wird sich beispielsweise zeigen, wie sich das mit den Filter- Apps für die Smartphones entwickelt, die am Anfang natürlich auch kaschiert haben, dass die integrierten Kameras einfach noch nicht so gut waren.
Lange Zeit ging man davon aus, dass alte Medienformen durch neue irgendwann verdrängt werden …
Natürlich gibt es bestimmte Medienformate, die heute keine Rolle mehr spielen. Kommunikationsformen wie die Brieftaube oder Datenträger wie die Laserdisc sind heute weitgehend verschwunden. Aber es ist längst nicht ein solch abruptes Phänomen, wie es häufig beschrieben wird, sondern ein sehr langer Prozess; häufig kehren Dinge auch wieder, von denen man sich eigentlich schon verabschiedet hatte. Schreibmaschinen beispielsweise sind ja eigentlich aus der Mode gekommen. Im Zuge der NSA-Debatte hat man jedoch darüber nachgedacht, ob man im entsprechenden Ausschuss nicht wieder mit Schreibmaschinen arbeiten sollte. Alte Medien werden also nicht einfach verdrängt, sondern sie bekommen neue Systemplätze, wie es bei Friedrich Kittler heißt.
Man gewinnt den Eindruck, dass der Reiz analoger Medien gerade in ihrer Imperfektion liegt. Interessant ist das vor dem Hintergrund, dass wir in einer Gesellschaft der Optimierung leben.
Tatsächlich werden heute häufig Aspekte analoger Medien aufgewertet oder fetischisiert, die früher eher als Einschränkung oder Störung wahrgenommen wurden. Doch gerade diese Fehlerhaftigkeit, das Rauschen und die Imperfektion werden nun als authentischer empfunden. In Ausgabe 81 hatten Sie ein Interview mit Hartmut Rosa zu seiner Theorie der Entfremdung und Beschleunigung. Ich denke, dass das durchaus in diesem Zusammenhang zu deuten ist. Es gibt sehr viele Phänomene, die ich als analoge Nostalgie beschrieben habe, die in der Tat einen Versuch der Entschleunigung darstellen oder vielleicht auch als eine Art Widerstandsgeste zu sehen sind. Es ist eben ein Unterschied, ob ich mit der Digitalkamera 100 Bilder mache oder eine Polaroid-Kamera nutze, bei der ich eben nur acht Bilder habe und deshalb jedem Bild etwas mehr Überlegung vorausgehen muss. Aber natürlich ist das nicht die einzige Motivation.
An welche weiteren Motive denken Sie?
Ein anderes Motiv ist viel pragmatischer: die Ästhetik. Meine 12-jährige Nichte macht mit ihrem Smartphone Fotos vom Essen und legt Analogfilter darüber – einfach, weil sie es schön findet. Auch einige Filmemacherinnen und -macher arbeiten nicht mit digitalen Kameras, weil die Ästhetik einfach eine andere ist. Man muss andere Dinge berücksichtigen, den Umgang mit Licht etwa. Und wenn man nun eben aus einem bestimmten künstlerischen Programm heraus mit analogen Kameras arbeiten möchte, dann ist das nicht zwingend nostalgisch oder ein Versuch der Entschleunigung oder eine Widerstandgeste, sondern ein künstlerisches Selbstverständnis.
Schauen wir uns die Nutzerseite etwas genauer an: Sie unterscheiden die verschiedenen Motive der Digital Natives und der Digital Immigrants.
Diese beiden Begriffe stammen ursprünglich aus der Bildungswissenschaft und sind nicht ganz unproblematisch, auch weil es schließlich die Digital Immigrants waren, die die Digitalisierung erst angeschoben haben. Das Spannende an dem Begriffspaar war für mich, dass es sich genau in jenem semantischen Feld bewegt, in dem auch die Nostalgie anzusiedeln ist: Es geht um Heimat, einen Ort, von dem man kommt und auf den man mit entsprechenden Emotionen zurückschaut. Das kann z.B. das Gefühl sein, woanders nicht angekommen zu sein – im übertragenen Sinn eben auch in der digitalen Lebenswelt. Davon abgesehen nutzt jeder die verschiedenen Medienangebote ohnehin sehr individuell verschieden, auch wenn es durchaus Unterschiede zwischen denen gibt, die mit den analogen Medien aufgewachsen sind, und denen, die eben jünger sind. Das „Zitieren“ oder Simulieren analoger Oberflächeneffekte – wie etwa bei den Retrofiltern der Smartphone-Apps – ist für jüngere Nutzer häufig lediglich eine unter vielen ästhetischen Optionen des „Remixens“ von vorhandenem Material. Auch der Rückgriff auf analoge Medienformen wie die Schallplatte funktioniert offenbar in unterschiedlichen Alterskohorten sehr verschieden: So ergab eine britische Marktforschungsstudie 2013, dass mehr als ein Viertel der 18- bis 24-jährigen Schallplattenkäufer nicht einmal einen Plattenspieler hat. Offen bar haben sie aber dennoch das Bedürfnis, diese materiellen Tonträger zu sammeln und sie ins Regal zu stellen. Mit einem MP3 ist das ja nur schwer möglich.
In Ihrem Buch beschäftigen Sie sich auch mit den sogenannten Hipstern. Was haben die mit der analogen Nostalgie zu tun?
Der Zusammenhang ist recht naheliegend. Ihnen wird die Rückwärtsgewandtheit vorgeworfen. Aus der Avantgarde einer Jugendbewegung sei jetzt eine Derrière-Garde geworden, eine Gruppe, die nur zurückschaut und Archive verwaltet, anstatt neue Ideen zu generieren, so wie es z.B. Simon Reynolds in seinem Buch Retromania beschreibt. Interessanterweise würde kaum jemand über sich selbst sagen, sie oder er sei ein Hipster. Es ist auch eine schwierige Zuweisung, haben wir es nun mit einer Subkultur oder mit Mainstream zu tun? Vielleicht ist es eine Form, eine Art Unzeitgemäßheit, zu zelebrieren oder auszustellen. Historisch gesehen gibt es das schon länger, denken wir nur an die Dandys des 19. Jahrhunderts, die – wie Walter Benjamin es beschreibt – ostentativ eine Schildkröte an der Leine spazieren führten, um zu demonstrieren, dass sie sich der Beschleunigungstendenz, die auch damals schon diskutiert wurde, widersetzen. Die Hipster jedoch sind gleichzeitig auch Early Adopters. Sie haben das iPhone und neue digitale Technologien schon sehr zeitig benutzt. Das bedeutet, es gibt gar keine Verweigerung des digitalen Fortschritts, sondern man fotografiert eben mit einer Polaroid-Kamera, um das Bild einzuscannen und es schließlich bei Instagram zu teilen.
Sie wollten sich vom Mainstream abgrenzen, nun aber scheint aus der Bewegung doch eine ziemlich homogene Gruppe geworden zu sein …
… das Dilemma des Widerstands gegen die eigene Zeit. Sobald etwas zum Trend wird und andere nachziehen, gibt es auch einen Markt, der darauf entsprechend reagiert. Somit werden die entsprechenden Dinge auch extrem teuer und die eigentliche Widerstandsgeste, sich der Innovationslogik zu verweigern, wird zu einem teuren Luxus, den sich nur privilegierte Gruppen leisten können. Und letztlich führt es abermals zu sozialer Distinktion.
Was denken Sie, wie wird sich die Sache mit der analogen Nostalgie weiterentwickeln?
Schwer zu sagen. Die Beantwortung hängt auch davon ab, wie sich die Digitalisierung, die derzeit ja noch keineswegs abgeschlossen ist, weiterentwickeln wird. Stichwort „Industrie 4.0“: Wenn tatsächlich eintritt, was derzeit vielerorts propagiert wird, dass die Digitalisierung alle Lebensbereiche betrifft, dann wird es darauf sicher auch Reaktionen geben. Es wird z.B. zu einer Aufwertung der Fabrik kommen, die es so, wie sie lange Zeit existiert hat, nicht mehr geben wird. Plötzlich ist die Fabrik nicht mehr Ort der Entfremdung, sondern ein Ort „echter“ Arbeit, auf den man nostalgisch zurückschaut und damit ein Stück weit auch eine Romantisierung betreibt. Wie man als Gesellschaft jedoch umgeht mit den Folgen der Digitalisierung und den Veränderungen für den Arbeitsmarkt, das geht schnell über den Rahmen des Nostalgischen hinaus.
Dominik Schrey (Foto: privat)
Barbara Weinert (Foto: Sandra Hermannsen)