Autonomie und Verantwortung in digitalen Kulturen
Privatheit im Geflecht von Recht, Medien und Gesellschaft
Baden-Baden 2021: Academia
Rezensent/-in:
Hans-Dieter Kübler
Autonomie und Verantwortung in digitalen Kulturen
Wie sich Privatheit unter dem Einfluss der Digitalisierung verändert, welche Formen sie annimmt und wie sie rechtlich geschützt werden kann, waren Themen eines Graduiertenkollegs an der Juristischen und der Philosophischen Fakultät der Universität Passau, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zwischen 2012 und 2021 gefördert wurde. Der Sammelband dokumentiert eine Tagung, die im Mai 2019 stattfand.
Interdisziplinär werden Konsequenzen des „digitalen Wandels für Menschen, Politik und Wirtschaft im Kontext kultureller, sozialer und rechtlicher Rahmungen“ (S. 7) erforscht und diskutiert; entsprechend breit und verschiedenartig fallen die Themen und Untersuchungsobjekte aus, die die Herausgeber*innen in einer umfänglichen Einleitung einordnen, die sich aber trotzdem in einer Übersicht kaum zusammenfassen lassen. Dabei überwiegen der juristische Duktus und die rechtswissenschaftliche Denkweise.
Privatheit ist in unserem Verfassungsverständnis ein hohes Gut, gewissermaßen die Grundvoraussetzung demokratischer Gesellschaften; ihr Wert leitet sich aus dem Erhalt individueller Autonomie her. Allerdings muss jeweils gesellschaftlich verhandelt werden, was im historisch kontingenten Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit als privat angesehen wird. In der digital geprägten Gegenwart muss es demnach neu justiert werden, in „komplexen sozio-technischen Aushandlungsprozesse[n] zwischen Inklusion und Exklusion, Partizipation und (Daten-)Preisgabe“ (S. 10). In der Forschung wird dafür das „Privacy Paradox“ bzw. der „Privacy Calculus“ apostrophiert: Zum einen bestehe der Wunsch nach digitaler Spurenlosigkeit, obwohl die datenspeichernden Onlinedienste ausgiebig genutzt werden; zum anderen werden die Vorteile solcher Nutzung als größer erachtet als die Nachteile, die eine Gefährdung der Privatheit mit sich bringt. Diese Ambivalenzen verschärfen sich, seit sich das Internet entgegen der anfänglichen Euphorie zur Domäne der großen Plattformen entwickelt hat, in denen außer smarten kommerziellen Geschäftspraktiken Tendenzen zur Massenüberwachung und Kommunikationsdeformationen herrschen. Daher müsse von staatlichen Gesetzgebern, die großenteils jedoch nur national oder supranational gegenüber global ausgerichteten Plattformbetreibern agieren können, geregelt werden, welche Schutzrechte und Regulierungsoptionen der Staat ergreifen muss bzw. ermöglichen kann und welche privatrechtlichen Beziehungen zwischen den IT-Konzernen und den Nutzenden realisiert werden können. Erst mit einer solch ebenso komplexen wie konkreten Zugangsweise lassen sich Privatheit und Autonomie in der digitalen Gesellschaft neu bestimmen.
In drei Sektionen befassen sich elf Beiträge mit dieser multidimensionalen Thematik.
In der ersten Sektion werden grundsätzliche Fragen nach der Autonomie im Digitalen und nach der damit verbundenen individuellen Verantwortung von Handlungen einzelner Internetuser*innen gestellt und aus verschiedenen theoretischen Perspektiven diskutiert. So behandeln die vier Beiträge die Grenzen des liberalen Subjektbegriffs in der digitalen Kultur des individualisierten Selbstmanagements. Aus „normalismustheoretischer“ Perspektive wird die fortschreitende Verdatung und algorithmisierte Klassifikation untersucht, die letztlich auch zur Diskriminierung von Abweichungen führen kann, was am Kreditscoring von Banken und an der praktizierten Aufmerksamkeitssteuerung durch Social-Media-Plattformen exemplifiziert wird.
Die zweite Sektion thematisiert die normativen Konflikte und Dynamiken zwischen privater und individueller Autonomie einerseits und öffentlichen und kollektiven Interessen andererseits, die ebenfalls in der digitalen Gesellschaft neu verhandelt werden müssen. An der Öffentlichkeitsherstellung und Unabhängigkeit der Justiz sowie den Spannungsverhältnissen zwischen Medizin, Ethik und Recht konkretisieren sich diese Normenkonflikte: So werden Probleme informationeller und dezisionaler Privatheit in digitalen Kontexten als soziale Pathologien identifiziert, die zunehmende Emotionalisierung digitaler Kommunikation bis hin zur Verbreitung diffamierender Ressentiments problematisiert sowie die Spannungen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit im sensiblen Bereich von Live-Gerichtsverhandlungen betrachtet. Schließlich werden die Zwiespalte elektronischer Patientenverwaltung in der Medizin aufgezeigt und für ein Recht des Nichtwissens plädiert.
Die dritte Sektion widmet sich den Strukturen von Anonymität und Transparenz in digitalen Öffentlichkeiten, wobei die Beiträge philosophische, kommunikations- und rechtswissenschaftliche und soziologische Perspektiven einnehmen, die Dialektik aus Anonymität und Autorenschaft betonen, den Staat zur Gewährleistung von Anonymität und endlich die Plattformen zur möglichst umfänglichen Transparenz verpflichten wollen. Insgesamt plädieren sie dafür, dass „die Regelsetzungen innerhalb von digitalen Kulturen und Gemeinschaften nicht allein den Verwertungsinteressen und der Verantwortung ökonomisch orientierter Infrastrukturbetreibern überlassen bleiben“ (S. 42).
Prof. i. R. Dr. Hans-Dieter Kübler