Begeisterte Zuschauer

Die Macht des Kinopublikums in der NS-Diktatur

Joseph Garncarz

Köln 2021: Herbert von Halem
Rezensent/-in: Lothar Mikos

Buchbesprechung

Online seit 13.01.2023: https://mediendiskurs.online/beitrag/begeisterte-zuschauer-beitrag-1123/

 

 

Das Kinopublikum in der NS-Diktatur

Der Kölner Medienwissenschaftler Joseph Garncarz geht in seinem Buch der These nach, dass es nicht die NS‑Propaganda war, die Menschen ins Kino brachte, sondern der Unterhaltungswert der Filme. „Das Kinopublikum war nicht primär ein Objekt der Manipulation, sondern hatte selbst eine Macht, die in diesem Buch erstmals systematisch untersucht wird. Die Filmwirtschaft hat nicht nur weitgehend die Vorlieben der Zuschauer bedient; das NS-Regime hat Maßnahmen ergriffen, die Wettbewerbsfähigkeit der Filmherstellerfirmen zu fördern, die sich so effektiver auf die Nachfrage ihres Publikums einstellen konnten“ (S. 26). So konnte er mithilfe verschiedener methodischer Verfahren sowohl den Erfolg von Filmen in der NS‑Zeit berechnen als auch die Präferenzen verschiedener Publika bestimmen. Rein quantitativ erstellt Garncarz Ranglisten der 100 erfolgreichen Filme für jede der Spielzeiten von 1933/34 bis 1944/45 (S. 284 ff.).

Er kommt insgesamt zu einigen interessanten Ergebnisse, die bisherige Annahmen über die Filmkultur in der NS‑Zeit infrage stellen. So kann er zeigen, dass sich die Filmpräferenzen des Publikums in den Groß- und Kleinstädten kaum von der nationalen Gesamtzuschauerschaft unterscheidet, lediglich leicht hinsichtlich der Genrepräferenzen (vgl. S. 160 ff.). Überraschenderweise stellt er fest:

Die Filmpräferenzen der deutsch-jüdischen Bevölkerung waren tatsächlich nicht wesentlich von denen der Nazi-Elite bzw. denen des deutschen Kinopublikums insgesamt verschieden.“ (S. 172)

Den Grund dafür vermutet er in der ähnlichen Sozialisation im deutschen kulturellen Kontext. Die Daten beziehen sich vor allem auf Unterhaltungsfilme.

Garncarz untersuchte auch die Präferenzen für NS‑nahe Filme. „Auf NS‑Filme entfielen nur 4,4 Prozent aller verkauften Eintrittskarten (334 Mio. von 7,6 Mrd.). Der Anteil der für diese Filme verkauften Eintrittskarten mag überraschend klein erscheinen. Relativ im Verhältnis zur Zahl der angebotenen NS‑Filme war die Nachfrage jedoch sehr stark“ (S. 215). Das lag vor allem an der starken Nachfrage bei männlichen Jugendlichen und jungen Männern (vgl. S. 221). Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges ging das Interesse an den NS‑nahen Filmen stark zurück.

Der Autor hat sich auch mit dem Erfolg deutscher Filme im Ausland beschäftigt. Dabei hat er festgestellt, dass die beiden Olympia-Filme von Leni Riefenstahl 1938 im Ausland mehr Geld eingebracht haben als alle anderen deutschen Filme zusammen (vgl. S. 255). Das mag auch daran gelegen haben, dass die Regisseurin neben der deutschen auch eine englische, französische und italienische Version hergestellt hat.

Zusammenfassend stellt der Autor fest:

Das Kino dieser Zeit zeigt sich als eine in einem hohen Maß durch die Marktkräfte bestimmte Institution, in der das Publikum eine erhebliche Macht hatte.“ (S. 266)

Denn: „Zuschauer haben sich an der Kinokasse aufgrund ihrer Vorlieben für bestimmte Filme entschieden und sind wiederholt ins Kino gegangen, weil ihnen die Filme ihrer Wahl in aller Regel ein großes Vergnügen bereiteten“ (S. 269). So war es nicht die NS-Propaganda, die das Publikum in die Kinos gelockt hat, sondern in erster Linie der Unterhaltungswert von Filmen, die eine gewisse Distanz „zur Politik und Alltagsrealität der NS‑Gesellschaft“ hielten (S. 270).

Garncarz ist es mit seiner aufwändigen Studie gelungen, vorherrschende Vorstellungen vom Film und vom Filmpublikum in der NS‑Zeit zu hinterfragen und ausgesprochen interessante Einsichten zu liefern. Er konnte zeigen, dass es auch bereits in der NS‑Zeit verschiedene Lesarten und Interpretationen von Filmen gab – und die Filme diese Lesarten auch angeboten haben. Die Erkenntnisse sind umso wichtiger als NS‑nahe Propagandafilme nur einen sehr geringen Teil (4,4 %) der Filme in den Kinos ausmachten. Diese Filme aber die Diskussion über den Film in der NS‑Zeit dominieren. Eine überaus wichtige Studie. Bei der Lektüre des Buches müssen die Leser:innen allerdings einige Redundanzen aushalten.