Beiträge zur soziologischen Werte- und Gewaltforschung

Helmut Thome

Baden-Baden 2022: Nomos Verlagsgesellschaft
Rezensent/-in: Lothar Mikos

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 3/2023 (Ausgabe 105), S. 81-81

Vollständiger Beitrag als:

Soziologische Werte- und Gewaltforschung

Das Buch versammelt ein Dutzend Texte des Hallenser Soziologen Helmut Thome, die in den vergangenen Jahren entstanden sind. Sie behandeln ein breites Spektrum an Themen von (Gewalt‑)Kriminalität über Rechtsextremismus und Solidarität bis hin zum Wertewandel. Dennoch zeigt sich ein Kern, in dem es um Gewissen, Moral und Werte geht – und damit um die Hintergründe, Motivationen und individuellen Faktoren von Gewalt und Kriminalität. Der Autor zeigt sich dabei als Bewunderer des soziologischen Systemtheoretikers Niklas Luhmann, dessen Gesellschaftsanalysen und Werke zu Ethik, Gewissen, Individualität und Moral für Thome leitend sind. Allerdings geht er auch über Luhmann hinaus, indem er zahlreiche andere Autoren in den einzelnen Kapiteln zurate zieht. Ihm geht es aber nicht nur um die Diskussion theoretischer Ansätze, sondern immer auch um empirische Evidenzen. Dabei spielt er jedoch die Theorie nicht gegen die Empirie aus, sondern arbeitet anhand der Empirie im Kontext der Theorien neue Fragestellungen heraus – so geht wissenschaftliche Arbeit.

Aus soziologischer Perspektive gibt es nach Thome zwei Formen des Gewissens: erstens „als eine Artikulationsform moralischer Erfahrungen im Alltag“ (S. 108) und zweitens „als artikulierte Erfahrung von Selbsttranszendenz“ (S. 112). Dabei geht es nicht nur um das sogenannte schlechte Gewissen, wenn Handlungen den eigenen moralischen Anforderungen nicht genügen, sondern auch um ein positives Gewissen, „insofern Menschen in ihr [der Gewissensregung, Anm. d. Red.] die Erfahrung machen, das bestimmte Dinge so unverzichtbar zu ihrem Leben gehören, damit sie dieses als ein gutes erleben“ (S. 113). Das Gewissen ist als Prozess zu sehen und immer an Moral gebunden – und die ist veränderbar: „Diese Prozesse der Artikulation und Deutung gefühlsmächtiger Erfahrungen und das Abwägen des Guten im Lichte des Rechten sowie des Rechten im Lichte des Guten sind prinzipiell nicht abschließbar. Veränderte situative Bedingungen und soziale Koordinationserfordernisse verlangen immer wieder neue Festlegungen über Vorrang oder Dringlichkeit der jeweils angesprochenen Werte und deren Rechtfertigung aus der Perspektive des Rechten“ (S. 119 f.).

Empirische Untersuchungen des Autors zu den Ausdrucksformen des Gewissens im Alltag haben zur Entwicklung von vier Gewissenstypen geführt: 1) dem autonomen Gewissen als „starke moralische Instanz“ (S. 137), 2) dem abgewerteten, suspendierten heteronomen Gewissen, das eine moralische Orientierung verneint, 3) dem trivialisierten heteronomen Gewissen, das zwar auch abgewertet, aber ambivalent gesehen wird, und 4) dem gemischten Gewissenstyp. Die Geschlechter sind in den vier Typen in etwa gleich verteilt, doch zeigen sich Unterschiede im sozioökonomischen Status: Während Befragte mit hohem Status eher zum autonomen Typ gehören, sind Befragte mit niedrigem Status eher bei den abgewerteten und trivialisierten Typen zu finden (vgl. S. 138 ff.). Diese Formen von Gewissen können bei der Analyse der Motive von Tätern in der Kriminologie berücksichtigt werden, vor allem, wenn diese „als Reaktion auf Erfahrungen von Demütigung und Respektlosigkeit Gewalttaten begehen, um auf diese Weise (Selbst‑)Respekt wiederzuerlangen“ (S. 149). Mehrere Texte befassen sich mit der Bildung von Werten und dem Wertewandel in der Gesellschaft. Thome geht davon aus, dass sich die persönliche Wertebildung im Rahmen vorgegebener kollektiver Werte [vollzieht], die je nach lebensweltlicher Lage, institutionellem Kontext und sonstigen situativen Bedingungen selektiv interpretiert werden“ (S. 313). Allerdings unterliegt dieser Prozess dem gesellschaftlichen Wandel. So haben Studien gezeigt, dass sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Prioritäten verschoben haben, von einem „utalitären“ zu einem „expressiven“ Selbst (S. 274). Der Autor sieht in Bezug auf den Wertewandel noch Forschungsbedarf, vor allem im Hinblick auf die Rolle von Institutionen sowie der diskursiven Aushandlung von Werten in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen.

Sehr instruktiv sind die Kapitel zur Kriminalität im Deutschen Kaiserreich und in der Gesellschaft der Gegenwart. Thome zeigt, dass das staatliche Gewaltmonopol langsam erodiert und damit ein Anstieg der Gewaltkriminalität einhergeht (vgl. S. 348 f. und S. 389). Dabei kommt der Moral ein ambivalenter Status zu: [S]ie wird zugleich benötigt und unterminiert“ (S. 446). Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft bringt besonders unter dem Primat der Ökonomie Gewinner und Verlierer hervor, und damit auch Gewalt. Der Autor zitiert in diesem Zusammenhang Luhmann mit dem Satz, wo es „um Identität geht, geht es auch um Gewalt“ (S. 459). Die Definition des Gewaltbegriffs bereitet jedoch Probleme, denn die Formen der Gewaltanwendung „variieren nicht nur von Gesellschaft zu Gesellschaft, sondern auch im Zeitablauf“ (S. 325).

Insgesamt zeigen die Beiträge den Zusammenhang von gesellschaftlichen Entwicklungen, Wertewandel, Moralverständnis und Gewalt. So wird ein sehr differenziertes Bild von Gewaltkriminalität gezeichnet. Massenmedien und soziale Medien spielen nur eine marginale Rolle für die Generierung von Aufmerksamkeit, aber nicht für die Entstehung von Gewalttaten.

Prof. i. R. Dr. Lothar Mikos