Bewährtes System nach niederländischem Vorbild

Islands Jugendmedienschutz vertraut auf das NICAM-Modell

Jens Dehn

Jens Dehn arbeitet als freiberuflicher Filmjournalist.

FRÍSK (félag rétthafa í sjónvarps- og kvikmyndaiðnaði) ist ein Zusammenschluss von Verleih- und Vertriebsfirmen sowie TV-Sendern, der in Island für die Einhaltung des Jugendmedienschutzes zuständig ist. Vor 13 Jahren hat FRÍSK die Lizenz für das NICAM-System erworben, das in den Niederlanden Filme und Fernsehsendungen klassifiziert. Das Modell hat sich bewährt – Beschwerden von Zuschauern bzw. Eltern haben seit Einführung von NICAM (Nederlands Instituut voor de Classificatie van Audiovisuele Media) dramatisch abgenommen. Probleme sehen die FRÍSK-Verantwortlichen jedoch an anderer Stelle auf sich zukommen.

Printausgabe tv diskurs: 22. Jg., 2/2018 (Ausgabe 84), S. 10-13

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In Island ist man weitestgehend unter sich. Knapp 350.000 Einwohner leben auf der rauen Insel im Nordatlantik, über 60 % davon in und um die Hauptstadt Reykjavík. Es sollte daher nicht verwundern, dass die Anzahl an Kinos recht überschaubar ist: Ganze 14 gibt es auf Island, mit insgesamt gerade einmal 40 Leinwänden. Bei einer Bevölkerungsdichte von 3,4 Einwohnern pro Quadratkilometer rechnet sich ein Multiplex außerhalb Reykjavíks nicht. Auch bei den Fernsehstationen ist die Sendervielfalt – gemessen an mitteleuropäischen Verhältnissen – bescheiden: Mit RÚV gibt es einen öffentlich-rechtlichen Sender mit Vollprogramm, dazu ein zweites Programm, das aber nur spezielle Anlässe, wie z.B. Sportveranstaltungen, überträgt. Daneben senden mit Síminn und Vodafone Iceland zwei große private Unternehmen mehrere Programme, auch ausländische, zudem gibt es drei kleinere lokale Privatsender. Das Leben an einem so abgeschiedenen Ort wie Island bringt es wohl mit sich, dass sich die Menschen einen gewissen Pragmatismus zu eigen machen. Halli Kristinsson redet daher auch gar nicht lange um den heißen Brei, wenn er den isländischen Jugendmedienschutz erklärt:
 

Seit 13 Jahren benutzen wir das holländische NICAM-Modell, das hat sich hervorragend bewährt. Wir hatten ein eigenes, staatliches Bewertungssystem, das wir bis zum Jahr 2005 angewendet haben, aber es war nicht systematisch aufgebaut, es basierte eher auf individuellen Präferenzen. Als der Entschluss gefasst wurde, dieses System aufzugeben, haben wir uns umgesehen und gefragt: Was ist das beste System, das es gibt? Und das fanden wir in den Niederlanden.“


Objektivität statt persönlicher Vorlieben

Leserinnen und Leser von tv diskurs kennen das NICAM-System spätestens seit der Ausgabe 50, 4/2009, wo es ausführlich vorgestellt wurde. Was die Isländer demnach am NICAM-Modell besonders schätzen, sind die tiefen und ausgeprägten Analysen und Recherchen, auf denen das System fußt und in denen untersucht wurde, was Kinder und Jugendliche in ihrem medialen Verhalten am meisten beeinflusst und wie. Basierend darauf wurde ein umfangreicher Fragenkatalog entwickelt, der alle Elemente, die Kinder beeinflussen können, abdeckt, z.B. Drogenmissbrauch, Gewalt- oder sexuelle Darstellungen. Aus den Antworten auf diese Fragen ergibt sich die Altersklassifizierung. „Die Beurteilung sollte also nichts mit der persönlichen, subjektiven Einschätzung des jeweiligen Mitarbeiters zu tun haben, der den Fragebogen durchgeht“, sagt Kristinsson. Er ist Vorsitzender von FRÍSK, was übersetzt Vereinigung der Rechteinhaber der Film- und TV-Industrie in Island bedeutet.

FRÍSK ist keine staatliche Institution, es setzt sich vielmehr zusammen aus Vertretern des Kinos (vornehmlich Verleiher) und der Fernsehanstalten. Der Jugendmedienschutz wird hier also nicht von übergeordneter Stelle vorgenommen, sondern unterliegt einer Selbstregulation der jeweils verantwortlichen Sender bzw. Rechteinhaber. Im Falle von Kinofilmen ist der Verleiher, der die Rechte am jeweiligen Film besitzt, auch verantwortlich für die Bewertung dieses Films. Er stellt den Bewerter, oder auch Codierer genannt, der den Fragebogen bearbeitet. Wenn ein Film, der für das Kino ab 12 Jahren freigegeben wurde, weil er etwa Nacktheit oder Gewalt enthält, danach an einen VoD-Anbieter geht, dann wird dieser die Bewertung beibehalten – vorausgesetzt, es handelt sich um die gleiche Fassung des Films.
 


Schwierige Altersstufe

Entsprechend des NICAM-Systems gibt es in Island sechs verschiedene Stufen bei der Altersklassifizierung, angefangen bei einem L für alle Altersklassen über die Stufen 6, 9, 12 und 16 bis zur Freigabe ab 18 Jahren. Wobei man bei FRÍSK mit einer Abstufung Probleme hat: „Wir finden, ehrlich gesagt, dass der schwierigste Step jener zwischen den Altersstufen 12 und 16 ist. In unserem alten System hatten wir nämlich noch einen Step bei 14, welchen es im NICAM nicht gibt. Die Holländer meinten zu uns, dass sie auch versucht haben, einen Step bei 14 einzufügen, aber das hat nicht funktioniert.“ Die Begründung hierfür: Es ist zu schwierig, zwischen 12- und 16-Jährigen zu differenzieren, welche Aspekte sie in ihrem Benehmen beeinflussen. Ab und zu kommt es bei einem Film ab 12 noch immer vor, dass Kristinsson – auch aufgrund der Erfahrungen der Codierer – die Altersstufe am liebsten auf 14 anheben würde. „Wenn wir überhaupt Beschwerden bekommen, dann geht es um diese Schwelle. Von daher ist das NICAM-Modell sicher auch kein perfektes System, aber es ist ziemlich gut, und wir sind nichtsdestotrotz überzeugt davon und zufrieden damit.“
 


Der zusätzliche Vorteil des NICAM-Modells: Durch die Lizenzierung des Systems sparen sich die Isländer auch Arbeit, denn Filme, die bereits in den Niederlanden klassifiziert wurden, muss man nicht noch einmal in Island sichten – da dasselbe Bewertungssystem angewendet wird, würde ja ohnehin das gleiche Ergebnis herauskommen. Bei den meisten ausländischen Filmen muss also nur in die Unterlagen geschaut und übernommen werden. Lediglich Filme, die noch nicht in Holland bewertet wurden, und einheimische Filme müssen den Prozess durchlaufen. Man loggt sich dann auf einer Website ein, beantwortet dort den NICAM-Fragebogen und erhält am Ende automatisch das Ergebnis. „Die Holländer kommen alle zwei Jahre zu uns und lernen Codierer an“, erläutert Kristinsson. „Alle erhalten dasselbe Training dahin gehend, auf was geachtet werden muss und wie Fragen zu verstehen und zu bewerten sind.“


Hilfe aus der Game-Industrie

Bei Fernsehausstrahlungen werden in Island, anders als in vielen anderen Ländern, keine Altersangaben eingeblendet. Stattdessen gibt es aber am rechten oberen Bildrand Farbmarkierungen in drei Kategorien: Rot bedeutet, dass die Sendung für Zuschauer ab 16 Jahren freigegeben ist, gelb ab 12. Alles, was eine Freigabe für Zuschauer unterhalb von 12 Jahren besitzt, wird farblich nicht gekennzeichnet. Zudem wendet FRÍSK Piktogramme an, um zu verdeutlichen, in welchen inhaltlichen Bereichen eine Jugendgefährdung vorliegt: Gewalt, vulgäre Sprache, Diskriminierung, Sex, Drogen, Angst. Die Piktogramme basieren auf dem PEGI-System (Pan European Game Information), das für die Videospiel-Industrie entwickelt wurde. Die Isländer haben diese Piktogramme für ihre Videospiele übernommen und wenden sie auch bei Filmen an, obwohl es in Holland noch eigene Piktogramme für TV-Sendungen gibt. „Wir wollen die Konsumenten so wenig verwirren wie möglich“, erklärt Halli Kristinsson. „Die isländische Videospiel-Industrie hatte das PEGI-System bereits übernommen. Da die Kategorien bei Film und TV die gleichen sind, haben wir dieses Videospiel-System anstelle des niederländischen TV-Systems lizenziert, denn so können wir die gleichen Piktogramme benutzen. Auf diese Weise gibt es bei Benutzern keine Irritationen. Manche sind ohnehin gleich, aber das holländische TV-Pikto für Sex (Nackt- oder Sexdarstellungen) ist z.B. anders als das Game-Pikto.“ Bei TV-Ausstrahlungen werden die Piktogramme nicht eingeblendet. Es gebe Überlegungen in diese Richtung, aber im Moment nichts Konkretes, wie Kristinsson sagt. Auf DVD-Covern sind sie aber zu sehen. Auf Kinoplakaten muss per Gesetz die Altersklassifizierung zu sehen sein, die Piktogramme aber nicht. Gleiches gilt für Trailer.
 

Mehr Verantwortung für Eltern

Das isländische Gesetz gibt vor, dass eine Datenbank bereitgestellt werden muss, in der sich Eltern über die Alterslimits informieren können. Diesen Katalog mit Titelsuchfunktion stellt FRÍSK auf der Startseite der Homepage http://kvikmyndaskodun.is zur Verfügung, Kristinsson und seine Kollegen aktualisieren ihn ständig mit den aktuellsten Filmen. Eltern und andere Interessierte können so auf einen Blick die Altersklassifizierung sowie – wenn vorhanden – die Piktogramme einsehen. Für Halli Kristinsson ist diese Datenbank nicht nur eine Serviceleistung, sie führt auch in eine Richtung, die er und seine Kollegen grundsätzlich als sehr empfehlenswert betrachten: die finale Verantwortung dem Ermessen der Eltern zu überlassen.
 


Allein die Gesetzgebung lässt dies jedoch nicht zu: „Das ist das Problem. Das Gesetz besagt, dass Jugendliche ab 14 in Filme gehen dürfen, die höher klassifiziert sind, wenn sie in Begleitung eines Erziehungsberechtigten sind. Aber: Wenn du als Elternteil mit deinem 5-jährigen Kind in einen Kinderfilm ab 6 willst, ist das nicht erlaubt. Das finden wir lächerlich. Wir haben das angesprochen und hätten es gerne geändert. Denn es wird nicht passieren, dass ein Kinomitarbeiter Eltern verbietet, ihr 4- oder 5-jähriges Kind in einen Zeichentrickfilm mitzunehmen. Laut Gesetz sollte das aber genau so ablaufen.“

Die staatliche Einrichtung, die diese Thematik unter ihrer Aufsicht hat, ist das Local Media Board. FRÍSK und die Behörde kommen in diesem Punkt nicht zusammen, sie sieht in den Vorgaben kein Problem. Kristinsson plädiert jedoch auch weiterhin für eine liberalere Haltung, die den Eltern mehr Eigenverantwortung abverlangt:

Wir denken, es sollte den Eltern überlassen bleiben. FRÍSK sollte nur Empfehlungen geben, die den Erziehungsberechtigten eine Orientierung sind.“

Unabhängig von diesen Dissonanzen nimmt das Media Board eine wichtige Kontrollfunktion ein. Sollten sich Zuschauer beispielsweise bei einer Fernsehsendung über eine falsch ausgewiesene Altersklassifizierung beschweren, hat die Behörde die Möglichkeit, den entsprechenden Sender in die Pflicht zu nehmen und eine Änderung vorzunehmen. Auch die Ausstellung finanzieller Strafen wäre von dieser Seite möglich. Ähnliches wäre auch bei Kinofilmen denkbar, wenn etwa ein jüngeres Kind Zutritt zu einem Film bekommt, der erst ab 16 Jahren freigegeben ist.
 

Vogelfreie Streamingdienste

Kritisch und als eine Herausforderung für die Zukunft sieht Halli Kristinsson die Entwicklung des Streamingmarktes, genauer gesagt die Etablierung ausländischer Anbieter wie Netflix oder Amazon in Island. „Das ist durchaus ein Problem, das wir auch gegenüber der Regierung angesprochen haben. Denn diese Anbieter haben alle kein Büro hier. Die sitzen in Übersee und sind für hiesige Gesetze nicht haftbar zu machen.“ Für Amazon und die anderen gelten somit nicht die gleichen Regeln wie für lokale Unternehmen, was Kristinsson schon im Sinne der Wettbewerbsgleichheit als unfair empfindet. „Wir würden sehr gerne mit Netflix, Google Play und all den Anbietern diskutieren, die Lizenzen dafür haben, in Island zu streamen. Aber das wäre tatsächlich eine freiwillige Sache von deren Seite, ob sie mit uns sprechen möchten oder nicht. Denn unsere Gesetze betreffen nun einmal nur Unternehmen, die auch auf Island ihren Sitz haben. Generell möchte man natürlich am liebsten ein Klassifizierungssystem für die gesamte Industrie haben. Netflix z.B. hat sein eigenes Rating-System, es ist etwas konfus, aber sie haben so etwas. Aber es ist komplett anders als unseres. Und ob sie es wirklich für alle Filme anwenden – ich habe keine Ahnung.“

Gesetzlich ist es nicht verpflichtend, das isländische System – also das NICAM-Modell – anzuwenden. Das Gesetz sagt nur, dass es ein System geben muss, das auf bestimmten Aspekten basieren soll, etwa einer Altersklassifizierung. Theoretisch könnte sich also ein Verleiher entschließen, ein ganz anderes System zu nutzen. Das wäre für den Markt aber sehr verwirrend und glücklicherweise sehen das in Island alle Verantwortlichen auch so und stimmen dem NICAM-System zu. „Wir unterhalten das System, haben die Lizenz, aber unsere Mitglieder sind verantwortlich dafür. Wir bieten die Infrastruktur, andernfalls müssten sich die Verleiher jeweils selbst um eine Lizenz kümmern und eine Datenbank bereitstellen“, erklärt der FRÍSK-Vorsitzende.