„… bloß eine aufgeregte Phantasie Erwachsener“
Ich kenne die Clips, weil es mein Job ist, als Sexualpädagoge sexualitätsbezogenen Ereignissen gegenüber aufmerksam zu sein. Bloß privat hätte ich die Clips wahrscheinlich nicht oder nur ganz am Rande wahrgenommen. Die Clips werben für ein Produkt – das ist ihre Aufgabe. Daran gibt es so viel oder so wenig auszusetzen wie an Werbung für VWs oder Burger. Die Erotikspielzeug-Clips versprechen Sinnlichkeit, Selbstbestimmung auf dem Weg zu sexueller Zufriedenheit, sexuelle Sensationen, ein bisschen auch, dass Frauen, die das Produkt kaufen, Modelähnlichkeit erwerben. Von der Gesamtanmutung erinnern sie mich an eine Mischung aus Langnese-Werbung und Sex and the City. Die erzählte Geschichte der Clips ist: Models, die eher schick als hip sind, erhalten durch modern gestylte „Werkzeuge“ Wohlbefinden. Ein gewagtes Versprechen – aber kein sensationell neues. Angeblich schreien Frauen ja auch sofort vor Glück, wenn Zalando Schuhe zuschickt.
Wir haben zu diesen Clips zahlreiche Beschwerden von Eltern und anderen Personen bekommen, die dadurch das Wohl der Kinder gefährdet sehen. Sind diese Befürchtungen aus Ihrer Sicht berechtigt?Gefährdungen lauern überall – für Menschen jeden Alters. Es ist gut, dass Eltern und andere Sorgeverpflichtete sich darum kümmern, dass ihre Kinder so wenig wie möglich Schaden nehmen. Wer die eigenen kinderschutzinteressierten Fürsorgekräfte gut einteilen will, sollte sich eher anderen gefährdungsträchtigen Themen zuwenden – Ernährung, Straßenverkehr, Leistungs- und Normierungsdruck, Diskriminierung von Fremden und Fremdem aller Art –, als viel Energie darauf zu verschwenden, eine vergleichsweise – mögliche – harmlose Irritation bannen zu wollen, die sich durch die sekundenbruchteilige Ansicht eines farbigen Dildos bei einem Kind ergeben könnte. Kindeswohlgefährdung in der psychosexuellen Entwicklung ergibt sich nach meiner Erfahrung sehr selten aus ungewollten Kurzeinblicken in facettenreiche, eventuell befremdende Erwachsenensexualitäten, sondern vor allem durch Strafangst bei Körperselbsterkundung, durch beschämende Interventionen bei kindlichem Lusterleben und eine verstörende vereinseitigende Vorausschau auf die zu erwartenden problematischen Seiten der Sexualität.
Die FSF hat eine Reihe der Clips geprüft und unter Aspekten des Jugendmedienschutzes als unproblematisch für das Tagesprogramm bewertet. In den Beschwerden der Eltern kommt immer wieder zum Ausdruck, dass es ihnen unangenehm ist, (eventuelle) Fragen ihrer Kinder zu beantworten. Wie geht man damit um, wenn ein 8-jähriges Kind z.B. fragt: „Mama, was ist ein Paarvibrator?“ Welche Tipps können Sie hier geben?Als Eltern bekommen wir, wenn Kinder an Erklärungen von uns interessiert sind, ab und zu Fragen gestellt, die nicht leicht zu beantworten sind. „Warum fahren Autos?“, „Wohnt Gott im Himmel?“, „Wie geht Kindermachen?“ – beispielsweise. Die Herausforderung ist, sich sachkundig zu machen und keinen Quatsch zu erzählen und eine Antwort zu geben, die vom Gegenüber verstanden werden kann. Dass ein Paarvibrator ein Gegenstand ist, mit dem sich zwei Menschen, die sich gernhaben, schöne Gefühle machen können, reicht einem 8-jährigen fragenden Kind vielleicht schon aus. Vielleicht könnte dem Kind noch zum Verständnis helfen, wenn eigene schöne Gefühle, die durch Nutzung eines Gegenstandes entstehen, genannt werden: mit der Kuscheldecke die Wange zu streicheln, sich mit einer Dusche abzubrausen oder den Fußsohlen mit einem Massageball Gutes zu tun.
Wenn dann das Kind noch weiter fragen sollte, wie denn ein Paarvibrator genau angewendet wird, sollte gesagt sein, dass er Lustgefühle an den Genitalien macht. Denn so ist es. Zudem: Weder Genitalien noch ihre lusterzeugende Stimulation sind böse und auch die erfolgte Erklärung öffnet nicht die Höllenschlunde von Pornoland. Ein Buchtipp für Eltern, die echtes Interesse an kindgerechten Antworten auf sexualitätsbezogene Fragen von Grundschulkindern haben: das Klett-Kinderbuch Klär mich auf der Lehrerin und Sexualpädagogin Katharina von der Gathen, in dem sie auf 101 echte Kinderfragen sehr gute Antworten gibt. Die FSF hat übrigens recht, meiner Meinung nach: Nicht die Toyclips im Tagesprogramm gefährden eine gute Entwicklung von Kindern, sondern die Sexualitätsaversion ihrer erwachsenen Bezugspersonen.
Das ist eine sehr große Frage. Umfassend und mit der nötigen Differenzierung geben die Jugendsexualitätsuntersuchungen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) dazu Auskunft. Wenn das Vertrauensverhältnis zu den Eltern gut ist und Kinder – also Heranwachsende bis 14 – das Gefühl haben, dass sexuelle Themen freundlich und zugewandt von ihren Eltern aufgenommen werden, dann wenden sie sich mit fast allen Detailthemen auch an sie – und zwar, sobald sie fragen können und sich bei ihnen Bewusstsein zu Sexuellem entwickelt.
Jugendliche kommunizieren ab der Pubertät zu sexuellen Themen tendenziell mehr und eher mit Gleichaltrigen oder holen sich ihre Informationen aus den Medien. Die große Mehrheit der Jugendlichen gibt an, dass ihre Kenntnisse über Sexualität, Fortpflanzung und Verhütung auch aus dem Schulunterricht stammen. Also ist auch die Schule eine gern genutzte Quelle der Information über Sexuelles bei Heranwachsenden. Das ist gut für diejenigen, die in ihren Eltern kein geeignetes Gegenüber zu diesem Thema haben. „Das Elternhaus spielt bei der Sexualaufklärung eine wichtige Rolle“. So fasst die BZgA ein Ergebnis ihrer 2015 veröffentlichten Jugendsexualitätsstudie zusammen: Zum Thema „Verhütung“ (z.B.) sprechen 63 % der Mädchen und 51 % der Jungen deutscher Herkunft mit ihren Eltern.
Aber das alles sind allgemeine Trendaussagen; DIE Kinder, DIE Jugendlichen und ihre Kommunikation mit DEN Eltern: Es gibt so viele zu beachtende Verschiedenheiten, die spielentscheidend sind – Milieu, Biografie, Kultur, Familienkonstellation u.v.m. –, dass solch grobe Aussagen für die angemessene Begleitung Heranwachsender nicht wirklich hilfreich sind.
Nein. Da wird solch medialen Keinstsendungen zu viel Macht zugesprochen. Es gibt keinerlei seriöse Hinweise aus der Medienwirkungsforschung über einen Zusammenhang von Rezeption sexualitätshaltiger Medien und „verfrühter“ sexueller Aktivität bei Heranwachsenden. Das ist bloß eine aufgeregte Phantasie Erwachsener. Dass es Dildos gibt, wissen heute sicherlich mehr Jugendliche als je zuvor. Von ansteigender Dildonutzung in jugendlicher sexueller Interaktion ist mir nichts bekannt. Oft steht Instrumente-Verwendung bei den sexuellen Beginnerinnen und Beginnern quer zu den romantischen Vorstellungen von (sexuellen) Beziehungen. Aber nehmen wir einmal an, ein jugendliches Paar entscheidet sich – über die Existenz und Möglichkeiten von Erotikspielzeug durch einen TV-Clip informiert –, einen Dildo im gemeinsamen Liebesspiel auszuprobieren. Was wäre dagegen einzuwenden?
Aus welcher Art der Thematisierung von Sexualität bzw. aus welchen Darstellungsformen und/oder inhaltlichen Aspekten kann Ihrer Ansicht nach eine entwicklungsbeeinträchtigende Wirkung erwachsen?Wenn Gewalt und Übermächtigung als geil, normal, wünschens- und erstrebenswert sowie statusverbessernd präsentiert wird – sowohl im sexuellen wie im nicht sexuellen Kontext. Je subtiler, geschickter, „hinterrückser“ dies geschieht, desto beeinträchtigender kann die Wirkung ausfallen. Ich glaube fest, dass die – im engeren Sinne eher nicht sexuellen – Demütigungsrituale bei Germany’s Next Topmodel deutlich problematischere Effekte hinsichtlich des Hinnehmens von Fremdbestimmung bei jungen Frauen haben als ein SM-Porno.
Ist es schlimm, wenn Kinder auf Informationen über Sexualität stoßen, die ihrem Entwicklungsstand nicht angemessen sind? Was heißt heute überhaupt noch „dem Entwicklungsstand angemessen“?Sie haben recht: Wer bestimmt denn mit welchen Kriterien Angemessenheit? Es wird gerne so getan, als gäbe es ein quasi objektives pädagogisches Einverständnis, in welchem Alter sicher schwere psychische Beschädigung durch irritierenden Weltkontakt zu erwarten sei. Solche inbrünstigen Behauptungen sind meist schlicht, undifferenziert und moralistisch.
Eine gute Richtlinie für Begleitungshandeln ist es, keinen Zwang in der Auseinandersetzung mit eventuellen Zumutungen gegenüber Kindern auszuüben. Zufällige Begegnungen mit Irritierendem – Krieg, Tod, Dschungelcamp – wirken nicht überfordernd, wenn Kinder die Möglichkeit haben, sich abzuwenden – und sie darin bestärkt werden, das auch zu tun, wenn es für sie unangenehm wird.
Erwachsenensexualitätsfacetten, auch deren mediale Darstellungen, sind nicht für Kinder gemacht. Sollten sie dennoch mit ihnen in Berührungen kommen, bleiben sie ihnen fremd. Sie verstehen sie nicht, finden sie möglicherweise doof, eklig, „pervers“ oder seltsam. Nachhaltige Belastungen, Traumatisierungen gar, entstehen bei Kindern nicht, wenn sie zufällig die Eltern dabei „erwischen“, lautstark zu „sexen“, oder wenn sie einen erigierten Männerpenis zu sehen bekommen. Wenn ihnen vermittelt wird, dass das böse und gefährlich ist, und sie genötigt werden, Überforderndes zu ertragen – dann wird es problematisch.
Sexistische Werbung finde ich unangenehm, weil sie meist verächtlich und plump ist und keineswegs erotisierend wirkt. Ich halte Verbote aber grundsätzlich für kein gutes Mittel in der Auseinandersetzung mit Problematischem. Und ich habe auch den Verdacht, dass die Aktualisierung der Verbotsinitiative durch den Justizminister ihr Herkommen in der Chancenwitterung hat, aus „den Kölner Ereignissen“ politischen Profit zu schlagen.
Andererseits: Wir sollten nicht mit einem Freiheitskampf-Gestus Energie darauf verschwenden, dass wir uns medial Brüste aufs Auge drücken lassen dürfen – und das dann als zivilcouragiertes Aufbegehren gegen Spießigkeit, Zensur und Prüderie ausgeben. Die Notwendigkeit, gegen Geschlechterdiskriminierung zu wirken, bleibt auch 2016 und in Zukunft gesellschaftlich bedeutsam. Die behaupteten positiven Effekte eines Gesetzes gegen sexistische Werbung bezweifele ich jedoch.