Bubbles & Bodies

Neue Öffentlichkeiten zwischen sozialen Medien und Straßenprotesten

Lukas Kaelin, Andreas Telser, Ilaria Hoppe (Hrsg.)

Bielefeld 2021: transcript
Rezensent/-in: Hans-Dieter Kübler

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 3/2022 (Ausgabe 101), S. 80-81

Vollständiger Beitrag als:

Bubbles & Bodies

Filterblasen und Echokammern („Bubbles“) auf der einen und körperliche Präsenz („Bodies“) auf der anderen Seite – das sind die beiden Pole, die die Entwicklung von Öffentlichkeiten gegenwärtig prägen, so die Einschätzung einer interdisziplinären Tagung an der Katholischen Privat-Universität Linz im November 2018, die in diesem Sammelband dokumentiert wird. Einerseits differenziert und fragmentiert sich die ehemals bürgerliche, von linearen (Massen‑)Medien transportierte Öffentlichkeit unter dem Einfluss sozialer Medien, von User-Gemeinschaften und aktiven „Produsern“ ständig aus, sodass kaum mehr kollektive Diskurse stattfinden und allgemeine Konsense entstehen können. Andererseits artikulieren sich diverse, auch militant agierende Gruppierungen in direkten Versammlungsöffentlichkeiten und Straßenprotesten unentwegt und bringen ihre kontroversen Anliegen vor, sodass immer weniger gemeinsame Orientierungen und Meinungsfindungen gelingen. Ohne Frage waren und sind der Begriff der Öffentlichkeit und die von ihm bezeichneten sozialen Prozesse vielschichtig, labil und widersprüchlich, nicht erst seit Jürgen Habermas’ berühmter Schrift über die Entstehung und den Strukturwandel der (bürgerlichen) Öffentlichkeit.

Bekanntlich rekonstruierte er sie zunächst als rationales Forum und tendenziell herrschaftsfreien Identifikationsmagnet der sich herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft, die dann unter dem Einfluss der ebenso kommerziellen wie ideologisch partikularisierten Massenmedien erodierte, wie die auf dieser Tagung vortragenden Vertreter*innen der drei Linzer Fachbereiche der Theologie, Philosophie und Kunstwissenschaft befinden. Sie ziehen die Traditionslinien der Öffentlichkeit sogar bis zur Antike, der athenischen Polis, zurück und fügen Habermas’ Theorie die Positionen John Deweys und Hannah Arendts hinzu: Für Dewey sind Staat und Öffentlichkeit identisch, für Arendt ist Öffentlichkeit eine anthropologische Grundkategorie, die sich in sozialen Prozessen immer wieder konkretisiert.

In vier Abschnitte sind die elf Beiträge aufgeteilt: Überlegungen zu einem zeitgemäßen Öffentlichkeitsverständnis, Bubbles – Bedingungen digitaler Öffentlichkeit, Bodies – Körper im Raum sowie Öffentlichkeit und Praktiken. Die beiden Beiträge des ersten Abschnitts mustern den herkömmlichen Öffentlichkeitsbegriff im Hinblick auf seine Defizite: Mit dem Akzent auf Performativität lässt sich die Dynamik von gegenwärtigen politischen Bewegungen besser konzeptionell fassen, die Akzentuierung der medialen Dimensionen erschließt die aktuellen Transformationen, vor allem die Abfolge von materiell und medial vermittelnden Praktiken.

Den Bedingungen der digitalen Öffentlichkeiten widmen sich die nächsten drei Beiträge: Künstlerische Praktiken forcieren kommunikative Teilhabe über das Internet, besagte Filterblasen verkörpern Selbstreferenzialität, Fragmentierung und dezidierte Unverbindlichkeit postmoderner Informationsflüsse, und endlich fragt der letzte Beitrag, ob und wie sich die gegenwärtige mediale Transformation der Öffentlichkeit auch wie eine Allmende, also wie ein gemeinsam zu bewirtschaftendes und kultivierendes Allgemeingut verstehen lässt.

Der dritte Abschnitt zu den „Bodies“ untersucht die Bedeutung von (körperlicher) Präsenz bzw. Absenz in der (meist künstlerischen) Öffentlichkeit. Bei Krieg, Flucht und Vertreibung verwischen sich die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, das verlorene Private wird zum öffentlichen Thema. Humanität konzentriert sich zunächst auf die Unverletzlichkeit des Körpers und strebt sodann – ob christlich oder profan motiviert – nach der Unversehrtheit der Seele. Was oder wer in der Migration in der Öffentlichkeit erscheint, untersucht der letzte Beitrag in diesem Abschnitt. Meist sind es die „kleinen Dinge“, die stellvertretend für die politische Dynamik und das unmenschliche Leid firmieren.

Schließlich lotet der letzte Abschnitt aus, welche Möglichkeiten resilienter Praktiken sich ergeben und öffentlich bestehen. Am Beispiel „autonomer Zentren“ konstituieren sich etwa politisch und/oder kulturell motivierte Gruppen, die sich vom Staat distanzieren und in ihrer Community Identität und interaktive Zuwendung erfahren. Der nächste Beitrag untersucht den digitalen zivilen Ungehorsam – z. B. Leaking –, eruiert Veränderungen zu traditionellen Formen und ermisst dessen Funktionen speziell für transnationale Öffentlichkeiten. Immerhin lassen sich Tendenzen der Entkriminalisierung entdecken. Abschließend ermittelt der letzte Beitrag Formen des Aufbegehrens gegen prekäre Lebensbedingungen und bescheinigt ihnen emanzipatorische Kräfte.

Dass Öffentlichkeit als „Diskurs, Theorie und manifester Raum steten Veränderungen unterliegt“ (S. 16), würdigen die Herausgeber*innen als die zentrale Erkenntnis dieser interdisziplinären Tagung. Besonders die schnell auf die Tagung folgende Pandemie mit Lockdowns und digitalen Vernetzungen im Homeoffice dürfte weitere Impulse und Zwänge dieser Transformation bewirkt haben und weiter bewirken.

Prof. i. R. Dr. Hans-Dieter Kübler