Cinema Speculation
Köln 2022: Kiepenheuer und Witsch
Rezensent/-in:
Arne Koltermann
In gewisser Hinsicht war ich wie eine kindliche Version des Grizzly Man, der die Erwachsenen nachts in ihrer natürlichen Umgebung beobachten konnte.“
Anfang der 1970er-Jahre darf der kleine Quentin seine junge Mutter und ihren jeweiligen Freund ins Kino begleiten. Unter der Bedingung, dass er die Erwachsenen nicht nervt. Natürlich schauen sie sich keine Kinderfilme an. Sie schauen Filme für Erwachsene. Filme mit Gewalt. Filme wie Joe, Dirty Harry, Deliverance.
Quentin Tarantino kann Filme unterhaltsam zitieren, wie in Jackie Brown oder The Hateful Eight. Er kann auch unterhaltsam über sie reden, wie in seinem Podcast The Video Archives, den er mit Roger Avary betreibt. In Cinema Speculation beweist er nun, wie profund er über sie schreiben kann. Das Buch ist eine ungewöhnliche Mischung aus Memoir, Hommage und Analyse, gespickt mit allerlei Anekdoten aus dem Filmgeschäft, in dem der Autor seit Ende der 1980er-Jahre ziemlich erfolgreich tätig ist. Es enthält auch interessante Gedanken zum Jugendmedienschutz. Seine Mutter drückt einmal einen Gedanken aus, der auch heute noch populär ist:
Quentin, mir macht es mehr Sorgen, wenn du die Nachrichten schaust. Ein Film wird dir nicht wehtun.“
Tarantinos Respekt vor seiner Mutter, von der er sich immer ernst genommen fühlte, zieht sich durch das ganze Buch. Er sieht schon ein, dass einige Filme ihn verstört haben mögen. Eine Beeinträchtigung seiner Entwicklung, wie es im deutschen Jugendschutz heißt, würde er aber wohl bestreiten. „Als in Dirty Harry das nackte tote Mädchen aus dem Loch gezogen wird, war das total verstörend. Aber ich verstand es.“ Als viel belastender erlebte der Junge Bambi: „Bis ich 1974 Wes Cravens The Last House on the Left sah, kam nichts auch nur annähernd heran.“ Tarantino war immerhin schon elf, als er jenen Pionier des Rape-and-Revenge-Kinos sah, der in Deutschland bis 2019 indiziert war.
Natürlich treibt Tarantino der Jugendschutzaspekt nur sehr am Rande um. Ihn interessiert, was an Filmen Freude macht. Glatte Dramen wie Der Pate hinterließen weniger Eindruck als kommerziell zwar erfolgreiche, aber dreckige Filme. Daneben widmet er sich Klassikern des Actionkinos wie Bullitt und The Getaway, geht dabei ausführlich auf die Leinwandpräsenz von Steve McQueen ein.
Die Übersetzung von Stephan Kleiner versucht, Tarantinos oft an gesprochene Sprache erinnernden Stil angemessen lässig ins Deutsche zu übertragen. Oft gelingt das, manchmal wirkt es rätselhaft: „Die ganze Musik haben sie umgefickt“, so der empörte Ausruf von John Avildsens reaktionärem Protagonisten Joe angesichts der soullastigen Titelliste einer Jukebox; das dürfte man so im deutschen Sprachraum noch kaum je gehört haben. Hier wäre interessant gewesen zu erfahren, ob das Kleiners Eigenkreation war oder aus einer alten Synchronfassung stammt. „Heute gilt es vielleicht als kontrovers, Joe als schwarze Komödie zu bezeichnen“, fällt Tarantino zu dem Film noch ein, dessen Held einen Hippie umbringt, bevor am Ende seine Tochter und ihr Freund ermordet werden.
Trailer Joe (1970) (HD Retro Trailers, 13.08.2018)
Dinge nicht verstehen, mitlachen wollen, wenn die Großen ihren Spaß haben. Jedes Kind kennt diese Sehnsucht, die der junge Quentin damals verspürte. Seine Mutter, deren Ehe mit dem Vater noch vor Quentins Entdeckung des Kinos zu Bruch ging, hatte einige Beziehungen zu Schwarzen Männern. Deren Filmgeschmack übte großen Einfluss auf den Jungen aus. Sie sahen alles, was halt gerade lief: Racheaction, Gewaltwestern von Peckinpah, Blaxploitation. Die häufige Verwendung des N-Wortes in Jackie Brown trug Tarantino von Spike Lee später den Vorwurf der kulturellen Aneignung ein. Am wichtigsten war aber Floyd, der mit einer Freundin von Quentins Mutter liiert war: Das abschließende Kapitel ist eine Hommage an diesen Mann, der selbst einmal ein Drehbuch schrieb, das aber nie verfilmt wurde – und mit dem sich der Autor stundenlang über Filme und auch sonst alles Mögliche austauschte.
Tarantino redet gern über Filme, an denen er manches auszusetzen hat. Tobe Hoopers Texas Chainsaw Massacre (in Deutschland bis 2011 indiziert) nennt er „einen der wenigen perfekten Filme, die jemals gedreht wurden“, um dann lieber Hoopers spätere Regiearbeit Das Kabinett des Schreckens auseinanderzunehmen. Diese Bevorzugung des Unperfekten zieht sich durchs ganze Buch – auch in seiner ausführlichen Analyse von Scorseses Taxi Driver kommt viel Kritisches zum Ausdruck. Ausführlich erklärt er, warum der von Robert De Niro gespielte Travis Bickle ein sehr unglaubwürdiger Vietnam-Veteran sei. Man kann dabei eine bestimmte Haltung zum Sprechen übers Kino lernen: Mit Worthülsen wie „gut“ oder „schlecht“ sollte man sich nie zufriedengeben.
Schon in der Schule kannte man diese Angeber, die immer schon sämtliche krassen Filme gesehen haben wollten. Aber nicht alle konnten davon so schön und reflektiert erzählen wie Quentin Tarantino.