Das bin ja ich!
Wie komplexe Persönlichkeitsstrukturen Filmfiguren lebendig machen
Marburg 2023: Schüren
Rezensent/-in:
Tilmann P. Gangloff
Einige Filme erreichen viele Millionen Menschen, andere bloß ein paar Tausend. Natürlich ist das auch eine Frage des Genres: Produktionen aus dem Marvel-Universum haben ein potenziell größeres Publikum als das Kunstkino, vom höheren PR-Budget ganz zu schweigen; anspruchsvolle Filme werden dafür im besten Fall mit Preisen beglückt. Pablo Hagemeyer glaubt zu wissen, woran es liegt, wenn weder der eine noch der andere Fall eintritt. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie ist im Nebenberuf Dozent für Persönlichkeitspsychologie an der Münchener Filmwerkstatt und überdies nach eigener Einschätzung „Experte für die korrekte und spannende Darstellung von Medizin im Drehbuch und somit ein Brückenbauer zwischen Heilkunde und Unterhaltungsbranche“ (S. 2). Als solcher war er unter anderem am Entwurf des psychisch labilen Kommissars Faber (Jörg Hartmann) aus dem Dortmunder Tatort beteiligt. In seinen Seminaren ist ihm eine „Systemschwäche“ aufgefallen, nämlich „die Vernachlässigung des Charakters in der Stoffentwicklung“ (S. 42). Deshalb hat er dieses Buch verfasst, einen „Wegweiser fürs Drehbuchschreiben und Filmegucken“, wie es auf dem Cover heißt.
Die Lektüre ist in der Tat enorm gewinnbringend für beide Seiten: Autorinnen und Autoren können lernen, worauf sie tunlichst achten sollten, damit das Publikum bereit ist, ihre Figuren durch Höhen und Tiefen zu begleiten; Zuschauerinnen und Zuschauer wiederum verstehen, warum es Filme gibt, die sie packen und begeistern, und warum andere sie völlig kaltlassen. Zu diesem Zweck holt Hagemeyer (Jahrgang 1970) weit aus und lädt zu diversen Streifzügen durch die Psychoanalyse. Das ist mitunter etwas weitschweifig, aber meistens ziemlich spannend – und vor allem kenntnisreich.
Was dem Buch über weite Strecken fehlt, ist die Veranschaulichung anhand konkreter Beispiele. Dazu kommt es erst im hinteren Teil, wenn der Autor reihenweise Filme auflistet, in denen etwa narzisstische oder soziopathische Persönlichkeitsstile eine zentrale Rolle spielen. Interessanter und erkenntnisfördernder sind allerdings die wenigen detaillierten Auseinandersetzungen über mehrere Seiten hinweg, etwa die Analyse von Batman und seinem Gegenspieler Joker anhand von Christopher Nolans modernem Klassiker The Dark Knight (2008) als „zwei Teile desselben narzisstischen Narrativs“ (S. 119) und als „Metapher für den inneren psychischen Konflikt jedes Menschen“ (ebd.). Ähnlich interessant ist die Interpretation eines allerdings weitgehend in Vergessenheit geratenen Films von Rainer Werner Fassbinder: In Angst vor der Angst (1975) versucht eine Ehefrau und Mutter vergeblich, ein richtiges Leben im falschen zu führen.
Bis dahin hat Hagemeyer auf 150 Seiten die Basis gelegt, um Filmfiguren verstehen zu können. Nebenbei geht es auch um das kleine Einmaleins des Drehbuchschreibens; selbstverständlich inklusive des Modells der Heldenreise. In Anlehnung an den Dramatiker David Mamet formuliert er die Fragen, um die sich jede Geschichte drehen sollte:
Wer braucht was von wem, warum gerade jetzt und was, wenn man es nicht bekommt?“ (S. 13)
Daraus resultiert seine wichtigste These, denn er hat erkannt, dass „die zentrale Wechselseitigkeit zwischen inneren und äußeren Konflikten noch zu häufig von den Schreibenden übersehen“ werde (ebd.). Entsprechend ausgiebig befasst er sich mit diesem Aspekt: Wenn das Thema eines Films nicht aus den Bedürfnissen und Werten einer Figur emergiere, sondern von außen draufgesetzt werde, „wirkt es künstlich und geheuchelt“ (S. 12). Wie sich das vermeiden lässt, erklärt der Psychotherapeut in gebotener Ausführlichkeit. Gerade in diesen Abschnitten gelingt ihm ausgezeichnet, was er zu Beginn als Ziel des Buches formuliert: eine „Brücke zwischen Filmdramaturgie und Persönlichkeitspsychologie zu bauen“ (S. 7). Um emotional starke Figuren zu schaffen und zu verstehen, stellt er fest, sei „noch mehr Bewusstsein über psychologische Prinzipien der menschlichen Persönlichkeit notwendig“ (ebd.). Dass er sich in dieser Frage kurzerhand selbst die „glaubwürdigste Absenderkompetenz“ (ebd.) attestiert, klingt zwar ziemlich eingebildet, erweist sich jedoch als zutreffend, zumal sein Konzept auch vermeintliche Widersprüche zulässt: Einerseits schildert er seitenlang bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, andererseits sagt er, Charakterzeichnungen sollten so konkret und einfach wie möglich gehalten werden. Für „Filmegucker“, wie Hagemeyer das Publikum durchgehend nennt, ist die Lektüre nicht minder gewinnbringend, weil die Rezeption bei der Selbsterkenntnis helfe: Filme seien „wie der Rorschach-Test mit Popcorn“ (S. 19).
Mit der Interpunktion steht der promovierte Dozent allerdings auf Kriegsfuß. Ein aufmerksames Lektorat hätte ihm auch einige wenig elegante Formulierungen angestrichen („Sigmund Freud bekam sein Thema mit der erotischen Lust nie so ganz klar“ (S. 33). Und die Behauptung „ein Italowestern ohne erschossenen Bösewicht wird vermutlich nicht funktionieren“ (S. 25) ist schlicht falsch, wie sich leicht belegen lässt: In Sergio Corbuccis Klassiker Leichen pflastern seinen Weg (1968) stirbt der Held (Jean-Louis Trintignant); der Schurke (Klaus Kinski) reitet davon.