Das Metaverse
Und wie es alles revolutionieren wird
München 2022: Vahlen
Rezensent/-in:
Achim Fehrenbach
Ein individuelles Gefühl von Präsenz
Matthew Ball erklärt, was das ominöse Metaverse sein könnte und ob wir es brauchen
Mitte August 2022 stellte Mark Zuckerberg einen Screenshot ins Netz. Darauf zu sehen war ein holzpuppenartiger Avatar von Zuckerberg selbst, der sich mit weit aufgerissenen Augen ins Nirgendwo träumt. Der Screenshot stammte aus Horizon Worlds, einer virtuellen Welt, die Zuckerbergs Konzern Meta zu dem Zeitpunkt in Spanien und Frankreich veröffentlichte.
Die Reaktionen waren verheerend, sie reichten von „hässlich“ über „uninspiriert“ bis „seelenlos“. „Meta hat letztes Jahr mehr als 10 Milliarden US-Dollar für Virtual Reality ausgegeben“, twitterte ein User. „Da ist es doch sehr verwunderlich, dass die Grafik seines Flaggschiffs schlimmer aussieht als ein Wii-Game von 2008.“ Kurz nach dem Fiasko postete Zuckerberg einen aufgehübschten Screenshot – Hohn und Spott haben seitdem aber noch zugenommen.
Gerade erst hat Meta angekündigt, rund 11 000 Mitarbeiter:innen zu entlassen, auch aus der Metaverse-Sektion. Zugleich vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendein Unternehmen ein neues „Metaverse“ ankündigt, in dem man wahlweise arbeiten, shoppen oder virtuelle Grundstücke kaufen kann.
Hype auf der einen, Überdruss auf der anderen Seite: Was kann ein Buch zur Diskussion beitragen, das in dieser Gemengelage erscheint? Sein Autor Matthew Ball besitzt eine Investmentfirma, berät weitere und war mehrere Jahre lang Chefstratege der Amazon Studios. Unter Metaverse-Enthusiasten gilt der Kanadier als Vordenker: Seit Anfang 2019 hat er zu dem Thema eine Reihe von Essays veröffentlicht – und gezeigt, dass er analytisch an die Sache rangeht.
Das Metaverse – Und wie es alles revolutionieren wird ist eine stark erweiterte Version dieser Essays. Ball beginnt mit einer umfangreichen Begriffsherleitung. Erstmals tauchte der Terminus „Metaverse“ bei Science-Fiction-Autor Neal Stephenson auf: In dessen Cyberpunk-Roman Snow Crash ist das Metaverse die Simulation einer weitläufigen urbanen Landschaft, in die sich Nutzer per Virtual-Reality-Headset einklinken. Die hochdetaillierten Welten von Snow Crash haben nun so gar nichts mit Zuckerbergs trauriger VR-Einöde gemein.
Das könnte erklären, warum das Konzept des Metaverse bereits vielfach für tot erklärt wird. Ball stellt die These auf, dass wir noch weit von der Verwirklichung des Metaverse entfernt sind. Das Metaverse wird nicht plötzlich da sein, so Ball, sondern organisch aus verschiedenen Teilwelten zusammenwachsen. Es muss von uns aktiv gestaltet werden, schreibt Ball. Und dafür müsse es zunächst einmal definiert werden.
Balls Definition des Metaverse liest sich sperrig, bildet aber die Grundlage für alle folgenden Erörterungen. Dem Autor zufolge ist das Metaverse „ein massiv skaliertes und interoperables Netzwerk von in Echtzeit gerenderten virtuellen 3D-Welten, die synchron und dauerhaft von einer praktisch unbegrenzten Anzahl von Nutzern mit einem individuellen Gefühl der Präsenz und mit einer Kontinuität der Daten wie Identität, Geschichte, Berechtigungen, Objekte, Kommunikation und Zahlungen erlebt werden können“. Kürzer: eine Art synchrones, dreidimensionales Echtzeitinternet.
Wie das Metaverse technisch verwirklicht werden kann, ist Thema des zweiten von drei Kapiteln. Es geht um Bandbreiten, Rechenleistung, Interoperabilität, Bezahlsysteme, Blockchain-Technologie und Interoperabilität – also um Datei- und Kommunikationsstandards, die das Zusammenwachsen des Metaverse überhaupt erst ermöglichen. Für weniger technikaffine Leser:innen ist dieses Kapitel teilweise schwere Kost, unterscheidet sich aber wohltuend vom allseits präsenten Metaverse-Dampfgeplauder. Messerscharf seziert Ball, was es für ein dreidimensionales Echtzeitinternet bräuchte. Um auch nur annähernd realitätsnahe VR-Welten zu erzeugen, seien ein Vielfaches der derzeitigen Server-Rechenpower und eine weitgehend verzögerungsfreie Datenübermittlung nötig.
Dass wir ein physisch realitätsnahes Metaverse überhaupt brauchen, stellt Ball aber grundsätzlich infrage: Wer will sich virtuell durch Menschenmassen auf einem Konzert quetschen, wenn er auch geistergleich durch sie hindurchhuschen kann? Spannend ist überdies, was Ball über die Rolle der Tech-Firmen schreibt. Einige würden schon seit Jahrzehnten an der Verwirklichung des Metaverse arbeiten. Insbesondere Games seien ein wesentlicher Treiber des Metaverse. Einer der größten Bremsklötze ist laut Ball das Geschäftsgebaren von Firmen wie Apple, die in ihren App-Stores hohe Gebühren für virtuelle Transaktionen erheben – und damit unabhängige Softwareproduzenten lähmen. Hier müssen die Regulierer einschreiten, fordert der Autor, damit im Metaverse freiere Strukturen entstehen können.
Ball geht davon aus, dass das Metaverse ein Billionengeschäft wird. Welche Tech-Riesen dabei das Rennen machen, sei aber noch nicht absehbar. Wie das Metaverse unser aller Leben verändern wird, schildert der Autor ebenfalls – ob es um Bildung, Sex, Werbung oder industrielle Produktionsprozesse geht. Bei Themen wie Datenschutz und Persönlichkeitsrechten bleibt Ball leider zu sehr an der Oberfläche.
Ball setzt den Schwerpunkt auf die wirtschaftlich-technischen Bedingungen, die es für das Metaverse braucht – und umreißt diese mit Akribie, Anekdoten und Sachverstand. Die Frage, ob ein Leben im Metaverse überhaupt erstrebenswert ist, überlässt Ball anderen: „Ob Sie nun an das Metaverse glauben, skeptisch sind oder irgendwo dazwischen liegen“, schreibt er, „Sie sollten sich mit der Tatsache anfreunden, dass es zu früh ist, um genau zu wissen, wie ein ,Tag im Leben‘ aussehen und sich anfühlen wird, wenn das Metaverse kommt.“ Auf dem Weg dorthin bietet er jedenfalls exzellente Orientierung.
Achim Fehrenbach
Die Rezension erschien zuerst in „Der Tagesspiegel“ (23.11.2022)