Das Netz potenziert Missbrauch

Julia von Weiler

Julia von Weiler ist Psychologin und Geschäftsführerin von Innocence in Danger e.V.

Soziale Medien wirken wie ein stilles Erdbeben für Kommunikation und Beziehungsleben. Jugendliche leiden darunter – und beginnen sich zu wehren. Es wird Zeit, dass Opferhilfe und Medienpädagogik in einen Dialog treten.

Printausgabe tv diskurs: 22. Jg., 4/2018 (Ausgabe 86), S. 12-15

Vollständiger Beitrag als:

„Wissen Sie eigentlich, wie verdammt anstrengend es ist, auf Insta immer cool rüberzukommen?“, zischt ein 13-jähriges Mädchen. Das Kind äußert sich entnervt über das soziale Medium Instagram. Sie tut es auf einem Workshop, den Innocence in Danger mit Schülerinnen und Schülern sowie Lehrkräften der bischöflichen Schulen im Bistum Essen durchführt. Es ist der Ausbruch eines Digital Natives, der uns immer öfter begegnet – und der den scheinbaren Konsens durchbricht, dass sich Kinder und Jugendliche im Netz pudelwohl und sicher fühlen.

Die Wahrheit ist im Zeitalter digitaler Medien, Messenger und sozialer Netzwerke eine andere: Sich im Netz permanent zu präsentieren und auszustellen – der „digitale Exhibitionismus“ (Weiler 2014) –, wird nahezu gesellschaftliche Pflichtaufgabe. Sie überfordert viele Kinder und Jugendliche. Die sozialen Netzwerke verändern das Miteinander grundlegend. „Social Media tötet dein Mitgefühl, Social Media macht dich unglücklich“, fasst es Jaron Lanier (2018) überspitzt zusammen. Unter Jugendlichen gilt die Regel: „Kein WhatsApp, keine Party.“ Das bedeutet: Wer dabei sein will, muss bei WhatsApp oder mindestens „on“ sein. Beziehungsleben und Kommunikation werden revolutioniert. Jeder spürt es. Nur kennen wir die genauen Mechanismen nicht. Und wir wissen heute auch noch nicht, wie sich digitale Medien langfristig auf die Entwicklung von Bindung und Beziehung auswirken werden. Social Media ist ein gigantischer Menschenversuch.

Einer von drei Internetnutzern weltweit ist minderjährig. Ein Drittel der 6- bis 9-Jährigen, zwei Drittel der 10- bis 11‑Jährigen und neun von zehn der 12- bis 13‑Jährigen besitzen ein eigenes Smartphone. Ab dem 14. Lebensjahr besitzen 99% ein eigenes Smartphone (MPFS 2017a; 2017b). Sie gehören der „Generation Selfie“ (Bauer Media Group 2016) an. Sie setzen sich mit ihrem Bedürfnis nach Anerkennung, ihrem Erprobungsdrang und ihrem Kommunikationsverhalten häufig Risiken aus, die sie in ihrem Alter noch gar nicht erkennen (können).
 


Im Umgang mit sexueller Gewalt und sexuellem Kindesmissbrauch ist es in den Debatten rund um die Medienpädagogik wie überall. Alle finden es irgendwie wichtig, aber es fällt oft schwer, über dieses Thema zu sprechen.

Wir wollen keine Angst machen und dürfen uns nicht nur auf die Risiken konzentrieren.“

Das hören wir von Innocence in Danger oft. Leider führt dieser Satz nicht selten dazu, dass Risiken marginalisiert und bagatellisiert werden – und so sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche umso leichter geschieht.

Fachstellen gegen (sexuelle) Gewalt haben immer noch viel zu große Mühe, sich der Digitalisierung von Leben und Beziehung zu widmen. Das bedeutet aus meiner Sicht, dass die Präventionsarbeit der Fachstellen die Digitalität als neues Grundphänomen des Lebens zu wenig würdigt. In den Workshops der Medienpädagogen wiederum wird zu wenig auf das Phänomen sexueller Gewalt eingegangen.

Dabei gilt: Die digitalen Medien haben auch das Phänomen sexueller Gewalt fundamental verändert. Nie war das soziale Nahfeld so groß wie heute. Nie hatten es Täter und Täterinnen leichter, mit Kindern in Kontakt zu kommen. Internet und Social Media erleichtern und potenzieren sexualisierte Gewalt gegen Kinder.

Wir wissen, dass Missbrauch-Täter und ‑Täterinnen stets alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzen. Digitale Medien sind für sie ein geradezu ideales Tatwerkzeug: Sie ermöglichen es Tätern und Täterinnen, von allen unbemerkt tief in die Privatsphäre des Kindes einzudringen – auch zu Hause. Kein Missbraucher muss heute mehr eine Türschwelle überschreiten, er kommt durchs Netz. Eine Untersuchung (Internet Watch Foundation 2018) zu sogenanntem „Livestream-Missbrauch“ – Missbrauch via Webcam – zeigt, dass das Kind in 96% der Fälle zu Hause bzw. im eigenen Zimmer missbraucht wird. 98% der Opfer sind jünger als 13 Jahre alt. Rechnet man die Daten der MiKADO-Untersuchung (die im Auftrag des Bundesfamilienministeriums erhoben wurde) hoch, haben in Deutschland ca. 728.000 Erwachsene sexuelle Onlinekontakte zu ihnen unbekannten Kindern (Hochrechnung basierend auf MiKADO und der ARD/ZDF-Onlinestudie 2015). Es zeigt sich, dass sexuelle Onlinekontakte zwischen Erwachsenen und einem Kind in 100% der Fälle zu einem physischen sexuellen Kindesmissbrauch führen – sofern es zu einer analogen Verabredung kommt (vgl. MiKADO). Das bedeutet: Virtuelle sexuelle Dialoge mit Kindern führen in der echten Welt immer zu Missbrauch.

Das Smartphone wird also zum ultimativen Tatmittel. Über das Smartphone ist der Täter/die Täterin immer dabei. Egal, wohin Kinder und Jugendliche gehen – der Täter/die Täterin ist schon da. Er/sie schmeichelt, lockt, manipuliert, droht – und erpresst.

Wie sollen Kinder und Jugendliche die Strategie des sogenannten Cybergroomings durchschauen? Was sollen wir ihnen raten? Ein Grundproblem geschriebener digitaler Kommunikation ist, dass ich mein Gegenüber nicht in seiner Gesamtheit erfassen und erfahren kann. Wichtige Signale wie Körperhaltung, Mimik, Gestik, Tonlage oder auch Geruch fehlen. Der Einsatz von Emoticons versucht diese Lücke zu füllen und eine emotionale Atmosphäre zu kreieren. Gerade weil digitale Kommunikation so komplex ist, laden Chats geradezu zu Missverständnissen ein. Wie genau ist es gemeint, wenn da z.B. steht: „Super gemacht [Smiley-Emoticon], mal wieder alle anderen in den Schatten gestellt“. Ist das ein Kompliment? Oder doch ein Vorwurf? Ist das [Smiley-Emoticon] ein echtes Lächeln oder nicht? Dieser Satz ist schon ausgesprochen schwer zu deuten, geschrieben lädt er ein zu einer Vielzahl von Interpretationen. Genau diese Interpretationsvielfalt können Täter und Täterinnen sich wunderbar zunutze machen. Zweideutige Kommentare, versehen mit Smileys, untergraben Grenzen und leiten Manipulation ein.

Das bedeutet: Bei allem „Hurra“ über die in der Tat fantastischen Möglichkeiten digitaler Kommunikation dürfen wir nicht vergessen, dass selbst medienkompetente Kinder und Jugendliche strategisch handelnden erwachsenen Tätern und Täterinnen unterlegen sind.
 


Sexuelle Peergewalt

Die Veränderungen der Beziehungsgestaltung verändern auch die sogenannte Peergewalt, das ist Gewalt unter Gleichaltrigen. Der Anteil derer, die sich über digitale Wege übergriffig und gewalttätig verhalten, steigt bei Kindern und Jugendlichen. Die Verbreitung hämischer, verleumderischer oder intimer Inhalte entwickelt digital eine wuchtvolle Eigendynamik. Wir müssen dem unbedingt etwas entgegensetzen, um Kinder zu schützen und Täterkarrieren zu vermeiden (vgl. z.B. Maschke/Stecher 2018, S. 12).
 

Sexting

Derzeit subsumiert die (Fach-)Öffentlichkeit unter dem Begriff „Sexting“ alle Formen digitalen sexuellen Handelns sowie digitaler sexueller Gewalt. Das bedeutet: Niemand weiß, was ganz genau gemeint ist, wenn von Sexting gesprochen wird. Geht es um harmloses „digitales Knutschen“ oder „digitale sexuelle Gewalt“ oder gar irgendwie um „Cybermobbing“? Diese Sprachverwirrung verunsichert. Wie soll ich mich jemandem anvertrauen, wenn mir während der vergangenen Jahre durchweg erklärt wurde, dass Sexting zwar irgendwie Sex – und damit eine legitime, verbreitete Ausdrucksform –, aber auch Gewalt ist – und damit grenzüberschreitend und inakzeptabel? Und dass es auf jeden Fall auch meine Schuld ist, wenn da etwas schiefläuft?

Sexting ist eine digitale Form sexuellen Handelns. Sexting bedeutet das digitale Teilen sexueller Inhalte – Text, Bild oder Film zwischen zwei oder mehr Menschen. Geschieht dieses Teilen einvernehmlich und freiwillig, ist es eine sexuelle Handlung – die wie jede sexuelle Handlung auch mit Risiken verbunden ist. In diesem Fall freilich wird das digitale Dokument selbst – der Text, das Bild, der Film – zum Risiko. Denn es besteht stets die Möglichkeit, dass dieses Dokument einseitig weiterverbreitet und/oder als Druckmittel genutzt wird.

Es stellt sich also die Frage: Wie sehr vertraue ich dem/der anderen, achtsam und gut mit meiner Intimität umzugehen? Es gilt, mit Kindern und Jugendlichen zu erarbeiten, wie vertrauensvolle digitale Beziehungsgestaltung funktionieren kann und wo ihre Grenzen sind.

Tu das nicht. Wenn du es doch tust, wundere dich nicht über die Konsequenzen.“

So kann man heutige Präventionsbotschaften zusammenfassen. Und genau daran erkennen wir, wie komplex und überfordernd diese Themen auch für die Gesellschaft sind. In unserer Ohnmacht übertragen wir alle Verantwortung auf die Schultern der digital anwendungsbegabten Kinder und Jugendlichen. Darüber vergessen wir zu häufig, dass sie weder kognitiv noch emotional dazu in der Lage sein können. Gleichzeitig fällt auf, dass sich die Präventions- und Aufklärungsbotschaften in aller Regel an potenzielle Opfer wenden – nicht aber an diejenigen, die verbreiten. Dabei stellen die Verbreiterinnen und Verbreiter den weitaus größeren Teil des Problems dar.
 

Sharing ist nicht immer gleich caring: Sharegewalt und Sharegewaltigung

Sharegewalt (www.stoppt-sharegewalt.de) – „sharing“, englisch für Teilen, beinhaltet Gewalthandlung – beschreibt jegliche Formen digitaler Gewalthandlungen: Hate Speech, Cybermobbing, Trollen, Sharegewaltigung etc. Um die jeweilige Dynamik der Sharegewalt besser zu verstehen, gilt es, zwischen den verschiedenen Gewaltformen weiter zu differenzieren.

Sharegewaltigung – zusammengesetzt aus dem englischen „share“ für teilen und Vergewaltigung – ist es, wenn z.B. ein selbst generiertes, intimes Bild bereits unter Druck entsteht und/oder ohne Wissen bzw. Einverständnis an Dritte weitergeleitet wird. Der Begriff stellt den sexuellen Gewaltaspekt einer solchen Handlung in den Vordergrund. Verantwortlich für die Tat ist der Täter bzw. die Täterin, nicht das Opfer.

In diesen Fällen stellen wir allerdings immer wieder fest, wie schnell es zu Rollenverkehrung bzw. Schuldumkehr kommt. Sowohl Jugendliche als auch Erwachsene sind im Gros der Meinung:

Ach, da sind die ja auch irgendwie selber schuld, wenn die so Nacktselfies verschicken.“

Betroffene von Sharegewaltigung machen die Erfahrung, im Stich gelassen zu werden – von ihrer Peergroup und den Erwachsenen.
 


Fazit

Die Schnittstelle zwischen Medienpädagogik und Prävention sexueller Gewalt ist zu wichtig, als dass sie unbesetzt bleiben darf. Es besteht eine große Chance darin, den Phänomenen gemeinsam zu begegnen, voneinander zu lernen und in Kooperation gut funktionierende Programme zu entwerfen. Sie sollen Mädchen und Jungen in die Lage versetzen, sich so sicher wie möglich digital zu bewegen. Kinder und Jugendliche brauchen Menschen, die ihnen einerseits die Freude an den digitalen Möglichkeiten zugestehen, sie gut begleiten – und sie zugleich auf mögliche Risiken aufmerksam machen. Sie brauchen erwachsene Bezugspersonen, die sie schützen, ihnen Grenzen setzen und fest an ihrer Seite stehen. Kurzum, sie brauchen Erwachsene, die sie verstehen, ihnen zuhören und helfen – auch in der digitalen Welt.

Das bedeutet: Die Erwachsenen müssen sich mit diesen Phänomenen auseinandersetzen und Antworten finden. Wir dürfen nicht länger „Anwendungskompetenz“ mit „Medienkompetenz“ oder gar „Lebenskompetenz“ verwechseln. Sowohl für die Prävention als auch Intervention gilt: Pädagogische und psychosoziale Fachkräfte müssen die Dynamik digitaler Beziehung und Gewalt in Betracht ziehen. Präventionsbotschaften müssen differenzieren und dürfen Opfer nicht für ihr Leid verantwortlich machen und Täter bzw. Täterinnen damit aus ihrer Verantwortung entlassen.

Hilfestellung und psychosoziale Begleitung müssen sich der besonderen Herausforderung bewusst sein, die durch digitale Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen wie auch selbst generierter, intimer Bilder entsteht. Die Ausrede: „Ach, die kennen sich doch mit den Geräten viel besser aus als ich“ gilt längst nicht mehr.
 

Literatur:

ARD/ZDF-Onlinestudie 2015: Abrufbar unter: http://www.ard-zdf-onlinestudie.de/archiv-1997-2016

Bauer Media Group: BRAVO Dr.-Sommer-Studie 2016. Liebe! Körper! Sexualität!. München 2016

Internet Watch Foundation: Trends in Online Child Sexual Exploitation: Examining the Distribution of Captures of Live-streamed Child Sexual Abuse. Cambridge 2018

Lanier, J.: Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst. Hamburg 2018

Livingstone, S./Carr, J./Byrne, J.: One in three: Internet governance and children’s rights (Global Commission on Internet Governance. Paper Series: NO. 22. 2015) (letzter Zugriff: 29.08.2018)

Maschke, S./Stecher, L.: Sexuelle Gewalt: Erfahrungen Jugendlicher heute. Weinheim/Basel 2018

Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (MPFS): KIM-Studie 2016. Kindheit, Internet, Medien. Basisstudie zum Medienumgang 6- bis 13-Jähriger in Deutschland. Stuttgart 2017a

Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (MPFS): JIM 2017. Jugend, Information, (Multi-) Media. Basisstudie zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland. Stuttgart 2017b

Universität Regensburg: MiKADO. Missbrauch von Kindern: Aetiologie, Dunkelfeld, Opfer. Forschungsprojekt, gefördert vom BMFSFJ (letzter Zugriff: 29.08.2018)

Weiler, J. von: Im Netz. Kinder vor sexueller Gewalt schützen. Freiburg im Breisgau u.a. 2011

Weiler, J. von: „Selfies als pädokriminelle Handelsware“. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19.03.2014