Das Porträt: Felix Stalder

Alexander Grau

Dr. Felix Stalder ist Professor für Digitale Kultur und Theorien der Vernetzung an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Nach seinem Studium in Basel ging er an die University of Toronto, Kanada. Dort wurde er promoviert und arbeitete anschließend an einem Postdocprojekt an der Queen’s University in Kingston. 2003 kehrte er in die Schweiz zurück. Neben seiner Forschung an der ZHdK ist er Mitglied des World-Information Institute in Wien. Unter der Adresse felix.openflows.com unterhält Stalder zudem einen eigenen Blog.

Printausgabe tv diskurs: 22. Jg., 3/2018 (Ausgabe 85), S. 78-81

Vollständiger Beitrag als:

Seit der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern wissen wir: Medienrevolutionen sind in der Lage, ganze Kulturen zu verändern – und zwar nachhaltig. Die Welt des 16. Jahrhunderts war eine andere als diejenige des 15. Jahrhunderts. Und Gutenberg hatte daran einen nicht geringen Anteil.

Also ist es naheliegend, davon auszugehen, dass auch die sogenannte digitale Revolution unsere Kultur verändern wird. Und das bedeutet eben nicht nur, einen MP3-Player anstelle eines Vinylplattenspielers zu benutzen. Kulturen sind Symbolsysteme, die die Normen, Rituale und Gepflogenheiten einer Gesellschaft standardisieren. Ändern sie sich aufgrund ökonomischer, sozialer oder technischer Transformationsprozesse, beginnen sich ganze Weltbilder umzuformen. Zugleich sind Medien auch Teil unserer Kultur. Was bedeutet: Medien verändern nicht nur unsere Weltsicht, sondern zugleich unsere Wahrnehmung ihrer selbst.

Grund genug also, sich, wie der Schweizer Medienwissenschaftler Felix Stalder, mit der „Kultur der Digitalität“ zu befassen – so der Titel seines gleichnamigen, vor zwei Jahren bei Suhrkamp erschienenen Buches. Diese ist für Stalder in gut kulturpluralistischer Tradition durch eine „Vervielfältigung kultureller Möglichkeiten“ gekennzeichnet, einem Prozess, der Ende des 19. Jahrhunderts, also lange vor der Erfindung des Computers, begonnen habe.

Stalder ist von Haus aus Soziologe, und das merkt man seiner Analyse der Kultur der Digitalität und ihrer Entwicklung an. Denn Stalder argumentiert niemals monokausal.

Wer Digitalisierung als ein rein technisches Phänomen versteht, hat sie nicht begriffen. Sie ist eingebunden in ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle Prozesse.

Vorstellungen etwa von Transparenz, Offenheit und Flexibilität, die eng mit dem Phänomen der Digitalisierung verbunden werden, sind tatsächlich älter und wurzeln in den Emanzipationsbewegungen der 1960er-Jahre, teilweise in gesellschaftlichen Veränderungen, die bis in das späte 19. Jahrhundert zurückverweisen. Stalder macht in seiner Forschung diese reziproken Abläufe plastisch.
 

Bargeld und Überwachung

Geboren wurde Felix Stalder in Basel, wo er auch zur Schule ging und schließlich Geschichte, Soziologie und Kunstgeschichte studierte. „Nebenher habe ich mich viel mit Medien beschäftigt, habe ein alternatives Kino betrieben, ein Filmfestival mit organisiert, habe mich dann mit digitalen Medien beschäftigt und schließlich mit dem Internet. Das war Anfang der 1990er-Jahre, als noch nicht klar war, ob Internet und Virtual Reality nun dasselbe sind oder nicht.“

Nach dem Studium beteiligte er sich zunächst am Aufbau eines Internet-Serviceproviders. Das war in den Anfangsjahren des World Wide Webs, als es Internetzugänge fast ausschließlich an den Universitäten gab. „Ich habe dann aber keine richtige Lust auf Business gehabt“, erklärt Stalder, „weshalb ich 1996 nach Kanada an die University of Toronto gegangen bin. Da gab es das McLuhan Program in Culture and Technology und ich war schon damals an der Schnittstelle von Kultur und Technologie sehr interessiert.“

Im Jahr 2001 schloss Stalder dann seine Dissertation in Toronto ab. Seine Promotionsschrift befasste sich mit einem nach wie vor hochaktuellen Thema: Alternativen zum Bargeld. „Es ging eigentlich um eine Technologiestudie im Rahmen eines groß angelegten Feldversuchs, elektronisches Bargeld einzuführen. Für die Banken ist das Handeln mit Bargeld extrem teuer, also versuchte man damals, mittels eines Prepaidsystems das Zahlen mit Bargeld elektronisch zu imitieren.“

Im Kern befasste sich Stalders Studie mit der Digitalisierung eines Massenmediums, in dem Fall des Bargeldes, verbunden mit der hochpolitischen Frage, wie hier neue, private Formen von Geld generiert und verwendet werden.

Entsprechend lag es nahe, dass sich Felix Stalder nach seiner Promotion Fragen der Kontrolle und Überwachung zuwandte. Ab 2002 arbeitete er als Postdoc an dem „ Surveillance Project“, einer am Department of Sociology der Queen’s University in Kingston angesiedelten Forschungsinitiative.

Mir ging es nicht um die Überwachung des digitalen Raumes, das war damals noch nicht so ausgeprägt, sondern um die Überwachung mithilfe digitaler Daten, also etwa durch Treue-, Bonus- oder Kundenkarten.“

Im Zentrum stand dabei zunächst die Idee, Überwachen als ein gesellschaftsstrukturierendes Prinzip zu verstehen. Dabei knüpft Stalder an Michel Foucaults Überlegungen an. In seiner berühmten und umstrittenen Schrift Überwachen und Strafen hatte der französische Philosoph argumentiert, dass Unterdrückung und Überwachung nicht einfach nur Repressionsmaßnahmen sind, sondern zugleich jeden Einzelnen und damit auch die Gesellschaft strukturieren. So schaffen sie erst Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse, die einer Gesellschaft Gestalt geben.

Und tatsächlich kann man argumentieren, dass die Überwachung mit digitalen Daten zumindest zwei von Foucault beschriebene Machtinstrumente anwendet: Sie schließt Menschen in einen virtuellen Raum ein, der leicht zu überwachen ist, und weist dem Individuum eine feste Funktion zu.
 

Urheberrecht und Open Source

Nach seinem Forschungsaufenthalt in Kanada ging Felix Stalder 2003 zurück in die Schweiz, an die Zürcher Hochschule der Künste, um dort ein Programm zu neuen Medien in den Künsten mit aufzubauen. „Ich habe immer viel mit Künstlern gearbeitet“, erläutert Stalder, „mich interessieren die experimentellen Untersuchungsformate, die die Kunst sein kann, die enorme Freiheit im Zugang zur Welt, den sie eröffnet. Die Wissenschaft ist oft sehr fokussiert auf ihre Methoden. Künste eröffnen eine spekulative, quer zu den Disziplinen verlaufende Dimension.“

Dieses Interesse für Kunst, Film und die Möglichkeiten interaktiver Techniken führte den Medienwissenschaftler zu einer intensiven Auseinandersetzung mit Fragen des Urheberrechts. In einer Reihe von Vorträgen und Publikationen vertritt der Schweizer eine sehr konsequente, provozierende, manche würden vielleicht sagen: radikale Haltung. Gegen die große Mehrheit der Autoren, Komponisten und Künstler, insbesondere aber gegen die Politik einschlägiger Interessenverbände plädiert Stalder für eine radikale Öffnung des Urheberrechts.

Mit dem Aufkommen des Internets Mitte der 1990er-Jahre war eigentlich klar, dass die alte Balance, die das Urheberrecht zwischen einer sehr genau kontrollierten kommerziellen Verwertung und einer schwach kontrollierten amateurhaften Verwertung geschaffen hat, nicht mehr funktionieren würde.“

Das hatte zunächst ganz einfache technische Gründe. So beschränkte sich die laienhafte Verwertung von Kunstwerken – etwa von Musik – im Wesentlichen auf einen ganz engen privaten Bereich, in dem beispielsweise selbst aufgenommene oder gemixte Kompaktkassetten zirkulierten.

Diese technisch bedingte Begrenzung der Verbreitung wurde durch die digitalen Medien und ihre Vernetzung ebenso aufgehoben wie die Trennung zwischen Rezipient und Produzent: „Es ist meine Entscheidung, ob ich auf meinem Computer einen Musikfile mit einem Player öffne, dann bin ich Rezipient, oder mit einem Audioeditor, dann bin ich Produzent.“

Auf diese Entwicklung gab es zwei Reaktionen: Die einen plädierten dafür, die Möglichkeiten der Wahrung der Rechte der Produzenten bis in den privaten oder semiöffentlichen Raum auszudehnen und diesen flächendeckend zu kontrollieren. Die anderen argumentierten, dass man angesichts der neuen Technik ein neues Set von Regeln brauche, um das Recht der Autoren auf Anerkennung und Verwertung zeitgemäß zu realisieren.

Mir war von Anfang an klar, dass das bisherige Prinzip der Wahrung von Autorenrechten in ihrer bisherigen Form eine extreme Ausweitung der Kontrolle bedürfte, die in einer demokratischen Gesellschaft problematisch ist.“

Die eigentliche Frage sei, so Stadler, wie man es schafft, eine emotionale Bindung zwischen dem Nutzer und dem Nutzungsgegenstand zu generieren. Das beste Beispiel dafür, wie so etwas funktionieren kann, sei Wikipedia, die einerseits frei nutzbar sei, die Nutzer auffordere, mitzuarbeiten und auch noch Spenden sammle.

Die Vorbehalte gegen eine Öffnung des klassischen Urheberrechts basierten auf romantischen Vorstellungen von Autorenschaft, die schon im vordigitalen Zeitalter falsch gewesen seien: „Die Idee, dass ich als Autor mit einem leeren Blatt beginne und dann ein fertiges Werk schaffe, das dann unverändert durch die Gesellschaft zirkuliert und an jedem Zirkulationspunkt erfasst wird, halte ich für ein unangemessenes Modell.“

Im Zeitalter von Vernetzung und Internet aber, wo alles aufeinander aufbaut, sei die Vorstellung, dass etwas ohne Vorgänger ist und vollständig abgeschlossen sein kann, problematisch.

Darüber hinaus weist Stalder darauf hin, dass das Urheberrecht Ausdruck seiner Zeit sei, also des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Auch damals habe man schon die damaligen Möglichkeiten der Weiterverwertung eingearbeitet, etwa im Zitatrecht, ohne das Rezensionen oder Wissenschaft gar nicht möglich wären. Nun aber sei es notwendig, das Urheberrecht den ganz neuen Bedingungen digitaler Kommunikation anzupassen.

Das bedeutet nicht, dass alles gratis sein muss. Aber die rechtlichen Hürden höher zu machen, halte ich für falsch.“

Deutlich wird, dass Stalder einen engen Zusammenhang zwischen einer offenen Gesellschaft und dem offenen Zugang zu intellektuellen Ressourcen sieht, unabhängig davon, ob es sich um Software handelt, um wissenschaftliche Arbeiten, Literatur oder Kunst. Diese Sicht der Dinge hat allerdings auch eine unbestreitbar politische Konnotation, denn im Kern geht es hier um wesentlich mehr als um irgendwelche Urheberrechtsfragen, sondern um Vorstellungen des Zusammenlebens und der Gesellschaft, die Stalder als Konflikt zwischen den Vertretern einer demokratischen Offenheit und eines autoritären Traditionalismus zuspitzt. Vorstellungen über das Zusammenleben kann man auch unter die Frage nach der Kultur subsumieren. Und so ist es kein Zufall, dass Stalder sich genau diesem Thema genauer gewidmet hat.

Darüber, was Kultur nun genau ist, lässt sich länger diskutieren. Stalder hat hier, wie er selbst sagt, einen pragmatischen Weg gewählt. „Für mein Buch habe ich Kultur als Aushandlungsprozesse über geteilte Bedeutungen definiert. Die Frage lautet: Wie kommt eine Gruppe zu gemeinsamen Werten? Wie finden diese Aushandlungsprozesse statt? Kultur ist die Summe von all dem.“ Für Stalder beschränkt sich Kultur somit nicht auf die Normierung selbst, sondern schließt die Prozesse mit ein, die zu ihr hinführen. Und genau diese Aushandlungsprozesse haben sich, so Stalder, in den letzten Jahrzehnten erheblich verändert.

Dabei arbeitet der Medienwissenschaftler vor allem drei Formen des kulturellen Austauschs und Ausdrucks heraus, die spezifisch für die Kultur der Digitalität sind, sich aber an den Rändern der Gesellschaft schon seit den 1950er-Jahren, teilweise früher, herausgebildet haben. Nicht die technische Entwicklung ist also nach Stalder allein verantwortlich für das Entstehen einer Kultur des Digitalen, bei genauerem Hinsehen stellt sich die Sache komplizierter dar.

Wir haben oft das Gefühl, dass neue Technologien plötzlich über bis dahin relativ stabile Gesellschaften hereinbrechen. Das scheint mir aber eine falsche Beschreibung zu sein. Ich habe versucht zu zeigen, dass viele gesellschaftliche Formen und Institutionen schon vor einer neuen technologischen Entwicklung in eine Krise geraten. Beispielsweise hat das Aufbegehren der homosexuellen Bewegung Mitte des 20. Jahrhunderts mit Digitalisierung zunächst gar nichts zu tun.“

Faktisch aber habe hier eine Gruppe beschlossen, neue Verhandlungsmethoden und ‑zusammenhänge zu entwickeln, um andere Werte in die Gesellschaft zu tragen. Dies geschehe zunächst im Modus der Selbstartikulation, indem eine Sprache für die eigenen Anliegen entwickelt werde. Das Ergebnis sei eine Form gesellschaftlicher Pluralisierung, mit der traditionelle Formen gesellschaftlicher Orientierung – Medien, Museen, Bildungsinstitutionen – immer schlechter umgehen könnten.

Anders formuliert: Einer zunehmenden Zahl an Weltdeutungen und Perspektiven standen Mitte des 20. Jahrhunderts traditionelle Institutionen gegenüber, die, so Stalders These, diese Vielfalt nicht mehr abbilden konnten. Als Reaktion darauf bildeten sich Gegenöffentlichkeiten, die sich allerdings aufgrund der technischen Entwicklung auf traditionelle Medien wie Zeitschriften, Film oder Theater beschränkten. Zugleich bildete sich ein enormes Bedürfnis nach neuen Kommunikationsformen, die über Vielfalt und Vernetzung funktionieren.

Nicht das Internet, nicht der Computer hat also diese neuen Formen der Kommunikation geschaffen“, fasst Stalder seine Überlegungen zusammen, „sondern das Internet hat diesen Kommunikationsformen eine Infrastruktur geschaffen, die schließlich gesellschaftlich dominant wurde.“

Dabei übersieht Stalder nicht, dass es bei der Entwicklung der Kultur des Digitalen auch sehr traditionelle und mächtige Akteure gab: „In den 1960er-Jahren war der klassische Industrie- und Wohlfahrtsstaat in einer Krise, man war daran interessiert, Produktions- und Verwaltungsabläufe neu zu organisieren. Ökonomische Interessen und soziale und kulturelle Interessen ergänzten sich hier.“

Ein Problem der Lebenswirklichkeit vieler Menschen sei dabei der enorme Informationsüberfluss und die Vielzahl an Ordnungsmechanismen, die in der Summe Unordnung produzieren. Hier müssten sowohl Individuen als auch Institutionen versuchen, neue Orientierungslinien zu generieren. Soziale Medien seien in diesem Sinne nichts anderes als Verfahren, die es ermöglichen, auszuwählen und diese Auswahl mit anderen zu teilen.

„Was wir zurzeit erleben“, hebt Stalder hervor, „ist zugleich die krisenhafte Dimension eines solch tiefen Wandels. Die Antwort darauf kann allerdings weder ein ‚Der-Markt-wird’s-schon-Richten‘ sein noch ein Zurück in eine autoritäre Gesellschaft.“ Gerade vor dem Hintergrund des engen Zusammenspiels sozialer und technischer Entwicklungen sei es nötig, Demokratie zeitgemäß neu zu denken und weiterzuentwickeln.

Dr. Felix Stalder ist Professor für Digitale Kultur und Theorien der Vernetzung an der Hochschule der Künste in Zürich.

Dr. Alexander Grau arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist u.a. für „Cicero“, „FAZ“ und den Deutschlandfunk.