Das Porträt: Marc Ziegele

Alexander Grau

Marc Ziegele ist Juniorprofessor für politische Online-Kommunikation. Vermutlich gibt es nur wenige Lehrstühle in Deutschland, die ein aktuelleres Thema bearbeiten. Denn nicht erst die Coronakrise hat gezeigt, wie sehr sich nicht nur die klassischen Kommunikationswege, sondern auch die Landschaften der Medienakteure verändert haben. Die klassischen Medien kommen unter Rechtfertigungsdruck, alternative Medien reklamieren für sich, Bewahrer der Demokratie zu sein, der Ton wird mitunter rau, die großen Internetanbieter reagieren mit Löschungen und Fact Checking. In seinen Forschungsprojekten untersucht der an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf lehrende Kommunikationswissenschaftler diese überaus komplexen und heterogenen Phänomene.

Printausgabe tv diskurs: 24. Jg., 3/2020 (Ausgabe 93), S. 58-61

Vollständiger Beitrag als:

Die Einsicht, dass die politische Kommunikation dank der digitalen Medien in den letzten Jahrzehnten demokratischer geworden ist, kann als Gemeinplatz gelten. Zugleich hat sich damit die alte Weisheit bestätigt, dass Demokratisierungsprozesse mitunter auch eine Schattenseite haben. Soziale Medien, Internetforen, Blogs und auch die Kommentarseiten der traditionellen Medien mutierten in den letzten Jahren zunehmend zu Orten hochemotionalisierter Debatten oder sogar zu Plattformen unverhohlener Beleidigungen.

Die politischen Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, sind offensichtlich: Grundsätzlich sollte in einem liberalen Gemeinwesen davon ausgegangen werden, dass Menschen das Recht haben, falsche, unsinnige oder absurde Meinungen zu vertreten. Jeder muss das Recht haben, Verschwörungstheoretiker zu sein. Einerseits schützt das Strafgesetzbuch (StGB) zwar vor Beleidigungen, daraus lässt sich aber nicht ein Recht auf gesittete Kommunikation ableiten. Es gibt keinen Rechtsanspruch auf gutes Benehmen. Andererseits umfasst das Recht auf freie Meinungsäußerung keine Herabsetzungen und Diskriminierungen. Was jedoch als Herabsetzung und Diskriminierung zu werten ist, darf nicht allein auf subjektiven Befindlichkeiten beruhen. Schon Jean-Paul Sartre wusste: „Die Hölle, das sind die anderen.“
 

Spielmarketing

Einer, der die komplexen Entwicklungen und Debatten um die sozialen Medien, um Meinungsfreiheit, Aggressivität im Netz, Verschwörungstheorien und Radikalisierung seit Jahren erforscht, ist der Düsseldorfer Kommunikationswissenschaftler Marc Ziegele. Seit 2018 hat er eine Juniorprofessur für politische Online-Kommunikation inne. Dort untersucht er die Qualität von Diskussionen in sozialen Netzwerken, Ursachen und Folgen von Medienvertrauen und arbeitet an der Entwicklung und Erprobung automatischer Verfahren zur Erkennung bzw. Vorhersage ziviler und unziviler Diskussionsverläufe.

Sein Studium absolvierte Ziegele an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. „Ich bin im hessischen Taunus aufgewachsen und zum Studium nach Mainz gegangen“, erzählt der Kommunikationswissenschaftler. „Ursprünglich wollte ich etwas studieren, das Medien und Wirtschaft thematisch miteinander verbindet. Der Studiengang ‚Medienmanagement‘ in Mainz war da eine ganz gute Kombination. Allerdings habe ich schnell gemerkt, dass mich das Wirtschaftliche weniger interessiert als das Kommunikationswissenschaftliche.“

Insbesondere, so Ziegele, habe er die empirische Forschung vermisst.

Wir haben uns vor allem mit Kennzahlen und betriebswirtschaftlichen Indikatoren beschäftigt, nur selten aber damit, was die Menschen dazu antreibt, Medien zu nutzen, oder zu untersuchen, wie sie wirken.“

Ziegeles Diplomarbeit, in der er sich mit der Rolle von Computerspielen als Werbeträger beschäftigte, markiert daher einen Übergang. „Ich hatte damals eine sehr interessante Vorlesung über die kommunikationswissenschaftlichen Aspekte von Computerspielen bei Christoph Klimmt gehört, in der es auch um das Wirtschaften mit Computerspielen ging, insbesondere das In-Game-Advertising, also das Platzieren von Werbung in digitalen Spielen.“ Damals habe es über diesen Bereich wenig Forschung gegeben, weshalb er sich entschlossen habe, die Werbung in Computerspielen mit einer Kombination aus medienpsychologischer Wirkungsforschung und betriebswirtschaftlichen Fragen näher zu analysieren. Das Ergebnis: Aufgrund seiner Untersuchungen konnte Ziegele zeigen, wie wirkungsvoll Product-Placement in Spielen ist. „Damals war es tatsächlich noch so, dass die Spielehersteller sich Lizenzen für Logos und Markennamen von Firmen gekauft haben, damit ihr Spiel authentischer wirkt. Eigentlich hätte es umgekehrt sein müssen, und inzwischen ist das ja auch so. Firmen können heute virtuelle Werbebanner in Spielestadien genauso mieten wie echte Werbebanner in einem echten Stadion.“ Ein ähnliches Umdenken habe bezüglich Werbeeinblendungen in Spielen eingesetzt. Während viele Spielehersteller noch vor zehn Jahren Spielunterbrecherwerbung vehement abgelehnt hätten, sei es bei vielen Onlinespielen mittlerweile gang und gäbe, zwischen einzelnen Spiellevels Werbung zu schalten. „Es ist schon interessant zu beobachten, wie dieses Wirtschaftsmodell sich weiterentwickelt hat“, so Ziegeles Fazit.
 

Nachrichten und ihre Kommentare

Nach seiner Arbeit über Werbung in Computerspielen wandte sich Ziegele endgültig rein kommunikationswissenschaftlichen Fragen zu. So befasste er sich in seiner Promotion mit dem Diskussionswert von Onlinenachrichten. „Mich hat damals beschäftigt, dass zwar unheimlich viele Menschen Nachrichten im Netz zu kommentieren scheinen, im Grunde aber recht wenig über diese Menschen bekannt ist: Wer ist das? Warum machen sie das? Weshalb haben manche Nachrichten Tausende von Kommentaren, andere nur ein paar Dutzend?“ Entsprechend untersuchte der Wissenschaftler in seiner Promotion, was eine Nachricht für Menschen diskussionswürdig macht. Dabei ging es Ziegele nicht nur um den Inhalt der Nachricht, sondern auch um deren Präsentation, um die jeweilige Plattform. „Es lassen sich drei bis vier Bereiche identifizieren, die die Bereitschaft steigern, eine Nachricht zu kommentieren“, erklärt der Kommunikationswissenschaftler. „Da sind zunächst die Eigenschaften der Nachrichten selbst, dann die Architektur der Plattform, auf der die Nachricht erscheint, schließlich die Eigenschaft bereits vorhandener Kommentare und dann die persönlichen Eigenschaften des Nutzers auf der Motivationsebene.“

Nachrichten würden dann besonders diskussionswürdig, wenn sie für den Rezipienten eine besondere Relevanz hätten. Diese Relevanz sei nicht notwendigerweise identisch mit einem persönlichen Nutzen oder mit persönlicher Betroffenheit, es reiche aus, dass sich der Nutzer in seinem persönlichen Wertesystem symbolisch angesprochen fühle und damit involviert sei. „Insofern gibt es zwei Motivationsmuster: auf der einen Seite das persönliche Tangiertsein etwa des VW-Arbeiters, der einen Artikel über VW kommentiert, auf der anderen Seite gesellschaftliche Reizthemen, anhand derer das Zusammenleben in der Gesellschaft diskutiert wird“. Bei Letzteren hätten viele Menschen tief verankerte Meinungsschemata im Kopf. Häufig würde dann allein ein Schlüsselwort ausreichen, um ein Kommentarbedürfnis zu triggern. „Das betrifft vor allem die latenten Konflikte, die in einer Gesellschaft dauerhaft bearbeitet werden, ungelöste Fragen, bei denen es nicht ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ gibt, sondern die im Sinne des Konzepts der öffentlichen Meinung von Elisabeth Noelle-Neumann immer kontrovers diskutiert werden.“

Auf der Architekturebene würden vergleichsweise einfache Einrichtungen die Diskussionstätigkeit bestimmen, etwa ob man sich für die Kommentarfunktion persönlich registrieren müsse oder nicht. Auch der Aufbau der Kommentarfunktion, etwa ob man direkt auf die Anmerkung anderer Nutzer reagieren könne, würden das Diskussionsverhalten deutlich beeinflussen. Entsprechend habe auch die Möglichkeit, sich anonym zu äußern, einen Einfluss auf das Kommentierungsgeschehen.

Die seit Jahren zunehmende Aggressivität im Netz möchte der Wissenschaftler allerdings nicht allein auf die Möglichkeit anonymer Kommentare zurückführen. Hier kämen mehrere Faktoren zusammen. Zum einen würde das Netz lediglich das sichtbar machen, was ohnehin in einer Gesellschaft vorhanden sei. Auch früher hätten Menschen sich respektlos und beleidigend geäußert, nur sei man mit diesen meistens nicht in Kontakt gekommen. Ein zweiter Punkt sei tatsächlich die Anonymität, doch deren Rolle sei in der Wissenschaft umstritten: „Die Forschung dazu ist alles andere als eindeutig. In der Öffentlichkeit wird häufig so getan, als würde eine Klarnamenpflicht das Verhalten zivilisieren, doch die Forschung zeigt, dass solche Effekte sehr gering sind“. Viel entscheidender sei die Entfremdung durch die digitale Kommunikation selbst, also dass man dem anderen nicht gegenübersitzt und ihn daher nicht als Mensch wahrnimmt. „Ob der Teilnehmer in einem Forum Rolf Meier heißt oder Häschen_83 ist dem Gegenüber relativ gleichgültig.“ Im Grunde verhalte sich das wie beim Autofahren, wenn man einen anderen Verkehrsteilnehmer in einer Art beschimpfe, wie man es von Angesicht zu Angesicht nie tun würde.

Noch entscheidender als die unpersönliche Kommunikation sei für die Aggressivität im Netz jedoch das Aufeinanderprallen von unterschiedlichen Sozialmilieus, die sich in der analogen Welt nie begegnen würden. Die eigene Lebenswelt sei aber von überragender Bedeutung für die persönliche Identität. Sie infrage zu stellen, sei somit hochproblematisch.

In den sozialen Netzwerken findet ein Überlebenskampf der Lebenswelten und Identitäten statt – und der wird entsprechend hart und kontrovers ausgetragen.“

Kennzeichnend für soziale Netze sei eine Doppelstruktur. Einerseits würden sich in isolierten Teilöffentlichkeiten homogene Meinungsmilieus bilden. Diese recht homogenen Meinungsmilieus werden jedoch in den Öffentlichkeiten, die klassische Nachrichtenmedien bilden, schnell mit anderen Meinungen konfrontiert, was zu entsprechenden Emotionsausbrüchen führe. „Dafür gibt es nicht immer eine Lösung. Teilweise ist das der Preis für die Heterogenität und Vielfalt der Meinungen in einer pluralistischen Gesellschaft. Die Menschen etwa nach Teilöffentlichkeiten zu sortieren, wäre unserer Gesellschaft sicher nicht zuträglich.“

Die Menschen müssten vielmehr lernen, dass ein Argument oder auch einfach eine andere Meinung nicht einen Angriff auf die eigene Person darstelle.

Man muss den Menschen möglichst früh beibringen, zu argumentieren und Kritik auch zu ertragen.“

Eine weitere Möglichkeit zur Befriedung der politischen Onlinekommunikation, die Ziegele und sein Team untersuchen, ist der Einsatz von Moderatoren. „Eine Erkenntnis aus der Sozialpsychologie ist eben auch, dass die Menschen sich online an den scheinbar vorherrschenden Gruppennormen orientieren. Wenn sie wahrnehmen, dass in den ersten fünf Kommentaren Radau gemacht wird, dann wird das als akzeptiertes Verhalten aufgefasst und entsprechend repliziert.“

Allerdings sei der Ton, der von den etablierten Medien vorgegeben werde, auch nicht immer integrativ, und das gelte nicht nur für die Boulevardmedien. „Auch die seriösen Medien stecken gerne in Schubladen: hier wir Liberalen, dort die Wirrköpfe und Verschwörungstheoretiker. Mit diesen Dichotomien lassen sich zwar gute Storys bauen, doch tragen so auch die etablierten Medien dazu bei, dass gewisse Bevölkerungsgruppen sich stigmatisiert fühlen und sich radikalisieren.“ Diese Form der Abwertung erzeuge dann wieder negative Emotionen, die emotionalere, kürzere und unzivilere Kommentare hervorbrächten.
 

Lügenpresse

Seit 2016 untersucht Ziegele mit ehemaligen Kollegen aus Mainz das Vertrauen der Menschen in die Medien.1 Die Umfragen, so Ziegele, würden deutlich zeigen, dass das Vertrauen der Menschen in die klassischen und etablierten Medien konstant hoch sei. Von einer Zäsur oder „Erosion“ des Vertrauens könne keine Rede sein. Entsprechend könnten die meisten Menschen einschlägigen Lügenpresse-Vorwürfen wenig abgewinnen. „Diese Vorwürfe waren 2016 auf einem Hoch“, erläutert der Wissenschaftler. „Damals gab ein Viertel der Befragten an, dass an dem Lügenpresse-Vorwurf etwas dran sei. Seitdem aber ist das wieder auf unter 20 % abgesunken.“ Allerdings gebe es auch eine ähnlich starke Gruppe, die entsprechenden Vorwürfen zumindest teilweise zustimme. Insgesamt ergebe sich so ein Anteil von fast 40 % der Bevölkerung, der den Lügenpresse-Vorwürfen ganz oder zumindest teilweise zustimme und damit für die Angebote sogenannter alternativer Medien und dort eventuell verbreiteter Verschwörungstheorien anfällig sei. „Man kann auch zeigen“, ergänzt Ziegele, „dass ein gewisser Medienzynismus – also der Glaube, Medien würden betrügen und mit den Mächtigen unter einer Decke stecken – mit der Nutzung alternativer Medien einhergeht“.

Allerdings müsse man auch im Blick behalten, dass das Vertrauen der Menschen in die Medien themenspezifisch sei. Bei Themen wie Migration oder Islam, also ideologisch aufgeladenen Symbolthemen, seien die Bürger gegenüber den etablierten Medien deutlich skeptischer als in Bezug auf weltanschaulich eher neutrale Fragen wie Berichte über die Mietentwicklung oder den Dieselskandal.

„Am Anfang der Coronakrise war übrigens ein ähnliches Phänomen zu beobachten“, erinnert sich Ziegele. „Mitte März hatten die Menschen ein extrem hohes Vertrauen in die Medien und die Regierung. Die Medien wurden hier als Verbündete in dem gemeinsamen Kampf gegen das Virus wahrgenommen. Zwei Wochen später war dieses Phänomen schon wieder rückläufig, da die Debatte um Lockerungen zunehmend ideologischer wurde.“ Die Homogenität der Krisenwahrnehmung habe sich im Laufe des April deutlich ausdifferenziert und damit auch die Einschätzung der Rolle der Medien. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stelle, sei, ob solche Effekte Produkte einer zunehmend differenzierten Medienberichterstattung seien. „Wenn dem so ist“, so Ziegele, „kann die Konsequenz daraus allerdings nicht sein, in Zukunft weniger differenziert zu berichten.“ Allerdings sei auch nicht auszuschließen, dass die traditionellen Medien der Ausdifferenzierung der Meinungsbildung hinterhergelaufen seien. „Aus meiner persönlichen Sicht ist es problematisch, dass die Etablierten in dieser Situation ernst zu nehmende Kritiker der Regierung ignoriert haben. Das ist nur Wasser auf die Mühlen derjenigen, die dahinter eine Verschwörung wittern.“

Hinter diesem Verhalten gerade auch der öffentlich-rechtlichen Medien stehe kein böser Wille, vielmehr sähen sich viele Journalisten in der Verantwortung, die Menschen vor möglicherweise schädlichen Ansichten zu bewahren. „Ob Medien eine solche Funktion einnehmen sollen – aber auch das ist meine persönliche Meinung –, müsste man stärker diskutieren. Denn die Schleusen sind ohnehin offen, wenn man sich die teilweise siebenstelligen Klickzahlen von manchen alternativen Medien anschaut.“ Natürlich, so Ziegele, müsse man auch hier differenzieren, da insbesondere bei YouTube eine Menge sehr fragwürdiger Leute unterwegs seien, das dürfe aber nicht dazu führen, kritische Meinungen auszuschließen, nur weil sie bei YouTube artikuliert würden.

Eine angemessene Methode, mit fragwürdigen Überzeugungen umzugehen, sei daher auch nicht, diese einfach zu löschen, sondern, so die Einschätzung des Wissenschaftlers, diese zu kommentieren.

Wenn krude Ansichten unwidersprochen stehen bleiben, kann das dazu führen, dass sie von anderen Nutzern übernommen werden. Auch das Kommentieren ist natürlich nicht unproblematisch, aber es ist besser, als Beiträge einfach zu löschen.“

Genau mit dieser Frage, wie die Qualität von Onlinediskussionen durch Kommentatoren verbessert werden kann, wird sich Ziegele zusammen mit einer Nachwuchsforschergruppe auch in den nächsten Jahren beschäftigen. „Ein Teil der Arbeit wird dabei auch sein, Algorithmen zu entwickeln, die Community-Manager dabei unterstützen, Kommentare zu identifizieren, auf die man eingehen sollte.“ Das Ziel solle dabei immer sein, Kontroversen auch zuzulassen, ohne jedoch Beleidigungen und Abwertungen zu tolerieren.
 

Anmerkung:

1) Die Untersuchungsergebnisse sind abrufbar unter: https://medienvertrauen.uni-mainz.de

Dr. Marc Ziegele ist Juniorprofessor für politische Online-Kommunikation an der Heinrich- Heine-Universität Düsseldorf

Dr. Alexander Grau arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist u.a. für „Cicero“, „NZZ“ und den Deutschlandfunk.