Das Porträt: Stephan Humer

Alexander Grau

Professor Dr. Stephan Humer ist Internetsoziologe und Leiter des Forschungs- und Arbeitsbereichs Internetsoziologie am Fachbereich Wirtschaft und Medien der privaten Hochschule Fresenius Berlin. Nach seinem Studium der Soziologie, Psychologie, Publizistik und Kommunikationswissenschaften an der Freien Universität Berlin und anschließender Promotion gründete und leitete er den ersten Arbeitsbereich für Internetsoziologie im deutschsprachigen Raum, zunächst angesiedelt in der Digitalen Klasse der Universität der Künste Berlin. Neben klassischen soziologischen Fragestellungen wie der nach persönlicher Identität und Privatheit im digitalen Zeitalter befasst er sich auch intensiv mit verschiedenen Aspekten der Internetkriminalität, vom Cyberterrorismus bis zum Dschihadismus.

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 3/2019 (Ausgabe 89), S. 52-56

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Die sogenannte Digitalisierung hat die Gesellschaften weltweit verändert. Traditionelle Konzepte von Kommunikation, sozialem Miteinander, Arbeit, Beruf, Partnerschaft, Bildung und Konsum wurden und werden infrage gestellt. Die westlichen Industriegesellschaften sehen sich zudem vor erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen, die ihrerseits wieder unser Verständnis von Staat, Öffentlichkeit und Gesellschaft verändern werden. Umso erstaunlicher, dass die Digitalisierung und die gesellschaftlichen Umformungsprozesse, die sie auslöst, erst mit leichter Verzögerung in den Blickwinkel der deutschen Soziologie gerückt sind.

Das ist auch deshalb verwunderlich, weil Deutschland bekanntlich eine große soziologische Tradition hat, mit einer Vielfalt an Schulen, Methoden und Theorien. Doch mit dem Internet als Forschungsgegenstand tut man sich hierzulande schwer, sicher auch, weil den meisten Soziologen das tiefere informationstechnologische Wissen fehlt, um die technische Entwicklung in ihrem Umfang und ihren Möglichkeiten einzuschätzen. Stephan Humer kann daher in vielerlei Hinsicht als einer der Pioniere der deutschsprachigen Internetsoziologie gelten. 2012 gründete er an der Universität der Künste Berlin den ersten Arbeitsbereich für Internetsoziologie im deutschsprachigen Raum. 2016 zog die Forschungsstelle an die Fresenius Hochschule in Berlin-Mitte. Seine Internetdomain internetsoziologie.de besteht seit 1999, also seit einer Zeit, als der Begriff noch weitgehend unbekannt war. Sie basiert auf der Webseite humer.de von 1996, die somit zu den ältesten de-Domains zählen dürfte. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass Humer sich in seiner Kindheit als Programmierer und Nutzer intensiver mit Computern beschäftigte als andere der Generation C64. Dieser Computertechnologie seiner Jugend ist Humer nach wie vor verbunden, etwa als Mitbegründer des Magazins „Retro“, das sich mit der Geschichte von Computern, Spielen und der digitalen Kultur befasst.

Ende der 1990er-Jahre ging der gebürtige Westfale nach Berlin, um an der Freien Universität Soziologie, Psychologie, Publizistik und Kommunikationswissenschaften zu studieren. „Die Fächerkombination“, erinnert sich Humer, „war rein interessegeleitet. Ich habe mich damals gefragt, was mich im Kern, unabhängig aller Verwertungsgedanken, wirklich interessiert. Und das war die Soziologie, insbesondere die Analyse, die Methoden dazu.“ Auch an seinen Nebenfächern habe er festgehalten, obwohl es damals die Möglichkeit gegeben hätte, Jura im Nebenfach zu studieren, Ethnologie oder auch Volkswirtschaftslehre. Doch die Publizistik habe den Vorteil, rein technische Themen zu bearbeiten, die in der Soziologie oder Psychologie nicht behandelt würden.

Geprägt war die Berliner Publizistik in diesen Jahren besonders durch Gernot Wersig, der dort Ende der 1970er-Jahre vorausschauend die Informationswissenschaften etabliert hatte. Nachdem dieses Projekt an unterschiedlichen Widerständen gescheitert war, wurde Wersig 1995 Direktor des Instituts für Publizistik und Kommunikationswissenschaften. „Wersig“, erläutert Humer, „hat schon damals intensiv zum Thema ‚Internet‘ gearbeitet, zu den technischen Grundlagen, zu seinem Aufbau. Für mich war das besonders reizvoll, da ich diese Fragen schon immer miteinander verbinden wollte.“

Während seines Studiums wandte sich Humer insbesondere kultursoziologischen Fragen und Methoden zu, da man dort auch Themen aus dem Bereich „Medien, Fernsehen und Radio“ behandelte. „Das schien einfach besser zu meinen Interessengebieten zu passen und deshalb habe ich das damals weiterverfolgt.“
 

Digitalisierung und Imagination

Während der Studienzeit Stephan Humers in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre wurde das Internet in der deutschen Öffentlichkeit sichtbar und gewann an Präsenz. In seiner Diplomarbeit beschäftigte er sich mit der Rolle der Imagination für das Internet.

Viele Menschen haben damals geglaubt – und glauben es wohl noch –, dass ein Bild im Computer das Gleiche ist wie ein Bild im Fernsehen, nur ein bisschen schöner, schneller und besser. Die haben nicht verstanden, dass Analogtechnik und Digitaltechnik nicht viel gemeinsam haben und die Manipulationsfähigkeit eine ganz andere ist.“

Wenn ein Fernseher analoge Funkwellen empfange, dann empfange er eben analoge Funkwellen. Ganz anders sei das in der digitalen Technologie. „Ein wichtiger Ansatzpunkt, den man also immer im Hinterkopf behalten muss, ist, dass die Imagination im Rahmen digitaler Technologien noch einmal eine ganz andere Funktion hat als bei analogen Verfahren.“ Leider habe sich diese Einsicht bis heute nicht durchgesetzt. Das liege zum einen daran, dass die wichtigen technischen und gesellschaftspolitischen Debatten von Menschen jenseits der 50 geführt würden, die also noch im analogen Zeitalter sozialisiert wurden, allerdings seien die sogenannten Digital Natives auch nicht besser: „Die kratzen auch nur an der Oberfläche und durchschauen die Technik ebenso wenig. Und die Grenze dabei ist tatsächlich das sichtbare Bild. Die wischen eine App von A nach B oder installieren eine Software, aber verstehen nicht im mindesten, was da passiert.“

Allerdings sei dieses Desinteresse an der Technologie ein sehr deutsches Phänomen. „In anderen Kulturen und Gesellschaften gibt es eine viel größere Neugier und ein Interesse daran, diese Geräte auch mal auseinanderzunehmen und zu schauen, was hinter der Oberfläche steckt und wie das funktioniert. Hierzulande glaubt man, es würde reichen, auf einer Glasoberfläche herumzuwischen. Das ist ein großer Fehler.“
 

Entsprechend plädiert Stephan Humer für einen grundlegenden Kulturwandel in Deutschland. Lange Zeit habe man hier angenommen, die Digitalisierung komme deshalb so spät in den Köpfen an, weil es an den Rahmenbedingungen liege: Die Geräte sind zu teuer (Digital Divide) oder der Rechtsrahmen im Internet nicht sicher genug („Rechtsfreier Raum Internet“, Hacking, Cybercrime etc.). Beide Annahmen seien jedoch falsch. Es gebe einfach bisher keine kulturell verankerten Gründe, sich tiefer mit den neuen Technologien zu befassen.

Der Computer steht immer noch gegen alles, was in Deutschland einen hohen Wert besitzt: Tradition, Langlebigkeit, Dauerhaftigkeit, Genauigkeit. Das sind Attribute, die in der Computertechnologie so nicht funktionieren.“

In Deutschland würde, anders als etwa in Asien, das Spielerische fehlen. Und das habe vieles verhindert oder erschwert. Letztlich stehe die Digitalisierung sehr weitreichend immer noch für kulturelle Werte, die hierzulande abgelehnt würden.

Ein typisches Phänomen in Deutschland sei die einseitige Begeisterung für Spielekonsolen gewesen. „Anfang und Mitte der 1990er-Jahre“, erinnert sich Humer, „als die Technik besser wurde, wechselten viele Nutzer zu Konsolen. Ich persönlich fand das langweilig, weil man mit diesen Geräten nicht wirklich arbeiten konnte. Für Programmierung oder für Netzwerktechnologie haben sich aber nur ganz wenige Menschen interessiert.“ Dabei sei es ja genau die Netzwerktechnik gewesen, die deutlich gemacht habe, dass man es hier mit einer technologischen Revolution zu tun habe, die nicht mehr aufzuhalten sei.
 

Digitale Identitäten

Die Vernetzung einzelner Computer steigert nicht nur deren Leistungsfähigkeit, stellt ungeahnte Ressourcen zur Verfügung und eröffnet ungeahnte Kommunikationsmöglichkeiten, sondern hat damit die Gesellschaft nachhaltig verändert. Ein kulturelles Konzept, das sich unter den Bedingungen digitaler Vernetzung grundlegend ändert, ist dasjenige persönlicher Identität, dem sich Humer in seiner Promotion widmete. „Auch hier war erkennbar, dass man im deutschsprachigen Raum damals vor allem defensiv dachte. Das alles dominierende Thema war seinerzeit etwa der Datenschutz. Man hat also versucht, ein Maximum an Autonomie durch Abgrenzung zu wahren. Was man vollkommen übersehen hat, waren die gestalterischen Elemente.“ Interessant sei im späteren Verlauf gewesen, dass es die Industrie war, also die Anbieter, die diese gestalterische Seite aufgegriffen und dadurch auch Macht ausgeübt haben. Die Kunden hingegen hätten sich weitgehend passiv dazu verhalten. „Auch damals schon“, ergänzt der Soziologe, „gab es allerdings eine kleine Gruppe, die gut damit umgehen konnte und die entstehenden Spielräume genutzt hat. Würde man die Zahlen heute in vergleichbarer Weise analysieren, käme man vermutlich zu keinen sonderlich abweichenden Ergebnissen.“ Allerdings sei der Widerstand gegen gewisse Entwicklungen heute professioneller als noch vor zehn Jahren. Dass etwa die Datenschutz-Grundverordnung auf europäischer Ebene Prinzipien wie Privacy by Design oder Security by Design festschreibe, also die Verpflichtung, IT-Sicherheit schon in der Entstehung von Produkten und Lösungen zu berücksichtigen, sei solchen gewachsenen Strukturen geschuldet.

Auffallend sei allerdings auch hier, dass die Nutzer weitestgehend an der Oberfläche blieben, also etwa mit den Möglichkeiten verschiedener digitaler Identitäten spielten, dabei aber übersähen, dass diese Technologie auch gegenteilige Prozesse ermögliche. „Es hängt ganz klar an dem Technikverständnis, also dem Wissen, was da im Hintergrund passiert und wie man das im Zweifelsfall verhindern kann.“ Hier herrsche aber häufig ein gewisser Fatalismus, doch der sei definitiv unbegründet.

Wenn jemand sagt, irgendwann kennt Amazon mich besser als ich mich selbst, dann ist das Unsinn. Da kann man mit seinem eigenen Verhalten eine Menge machen. Aber sie brauchen dafür gewisse technische Grundkenntnisse.“

Gefragt sei hier auch die schulische Ausbildung. Dabei komme es gar nicht darauf an, dass jeder einen Computer auseinanderbauen oder programmieren könne, sondern um ein Verständnis dessen, was zwischen der Hardware- und der Anwendungsebene passiere. „Das ist wie das Lernen einer Sprache. Niemand, der eine Fremdsprache lernt, wird bereits nach kurzer Zeit die Qualitäten eines außergewöhnlichen Lyrikers erreichen. Darum geht es aber auch gar nicht. Es geht vielmehr um das Verständnis gewisser Zwischentöne – und das ist schwer genug. Der Informatikunterricht in der Schule muss keine Programmierer ausbilden, aber beispielsweise die Architektur von Computern und Netzwerken erklären.“

In seiner Forschung geht es Stephan Humer somit darum, eine soziologische, den unmittelbaren Lebensalltag betreffende Sicht auf die jeweils aktuelle Medientechnologie zu entwickeln und dabei diesen neuen Vergesellschaftungsbereich als eine weitere Gestalt allgemeiner Öffentlichkeit zu begreifen, in der Kräfte und Regeln gelten, die Freiheitsräume schaffen, aber auch die Gefahr des Freiheitsentzugs und der Kontrolle.
 

Die Zwänge der Digitalisierung

Die dezentrale und prinzipiell offene Architektur digitaler Netze bringt es mit sich, dass nicht nur Staaten, sondern auch kriminelle und fundamentalistische Organisationen das Netz nutzen, um Macht auszuüben, sei es im ökonomischen oder weltanschaulichen Sinne.

Auf Einladung eines Mitarbeiters der Fraunhofer-Gesellschaft begann sich Humer ab 2009 vor dem Hintergrund seiner technologisch-soziologischen Doppelkompetenz mit Fragen der Cybersicherheit und des Internetterrorismus zu beschäftigen. „Das blieb zunächst in unserem kleinen, exklusiven Forschungsrahmen. Was mich damals davon überzeugt hat, dass das eine wichtige Arbeit ist, bei der man erst einmal Grundlegendes erklären muss, war 2015, als der IS seine großen Erfolge medial und in den digitalen Strukturen hatte. Damals wurde deutlich, wie ahnungslos die Behörden waren.“ Europaweit sei bis dahin vieles, angefangen bei Twitter, von den zuständigen Stellen ignoriert worden.

Schon 2013 hatte Humer daher den Verein Netzwerk Terrorismusforschung mitgegründet, der knapp 500 Wissenschaftler verbindet, die im Bereich „Terrorismus, Extremismus und politische Gewalt“ arbeiten. „Seitdem ist es immer wieder die Aufgabe gewesen, klarzumachen, was im Internet geht, wie es geht und was nicht geht. Kann man etwa ein Kernkraftwerk hacken oder nicht? Das ist thematisch alles oftmals sehr basal, und das hat mich im Grunde am meisten erschrocken.“ Dementsprechend veranstaltet das Netzwerk Terrorismusforschung etwa Workshops und Tagungen zum Bilderkrieg im Netz, zur audiovisuellen Kommunikation des Dschihadismus oder zu dessen ideologischen Hintergründen und Erscheinungsformen.

Das grundlegende Problem sei jedoch nach wie vor, dass man in Deutschland zu zögerlich an das Phänomen der Digitalisierung herangehe, sei es im Bereich „Kriminalität“, sei es bezüglich ihrer friedlichen, ökonomischen Nutzung.

Wir drohen einfach den Anschluss an Asien und die USA zu verlieren. Zunächst brauchen wir Universitäten, die in diesen Bereichen wirklich konkurrenzfähig sind, denn weder haben wir die Masse an Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, noch werden die finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt.“

Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands könne man nicht dadurch herstellen, dass man Google reguliere oder Facebook zerschlage, sondern dass man frühzeitig in Menschen und Ressourcen investiere. Das sei aber mühsam und langwierig und stoße immer wieder auf Widerstand. „Man wähnte sich in Deutschland einfach in einer sicheren Position. Doch heute haben sie beispielsweise in der Automobilindustrie niemanden, der ohne digitale Partnerschaften mit Apple und Co. auskommt. Man hat einfach versucht, das 20. Jahrhundert fortzusetzen, und der Bevölkerung hat das auch durchaus gefallen.“

Das sei umso problematischer, als wir erst am Anfang grundlegender Transformationsprozesse stünden. Quantencomputer, selbstlernende Maschinen und KI würden noch viel grundlegender in das Leben der Menschen eingreifen. Wie das jedoch geschehe, würde nicht mehr in Deutschland und Europa bestimmt, sondern in den USA oder China. „Das ist für unsere Gesellschaft sicher neu. Wir werden vermutlich in einen Zustand der permanenten Defensive kommen und nicht mehr agieren, sondern reagieren. Das ist natürlich keine besonders schöne Perspektive.“

Entsprechend werde die deutsche Gesellschaft in Zukunft erheblichen Zwängen unterliegen, auch im sozialen Bereich. Die Löhne, gerade der Hochqualifizierten, würden teilweise signifikant steigen, bis in extreme Dimensionen, entsprechend würden die Einkommensunterschiede ebenso wie die soziale Ungleichheit größer, das sei letztlich unvermeidbar.

Momentan ist die deutsche Gesellschaft noch vergleichsweise eng beieinander. Doch durch die Globalisierung und Digitalisierung wird sich das weiter auseinanderentwickeln. Das ist nicht aufzuhalten. Vor allem nicht aus einer defensiven Position.“

Dr. Stephan Humer ist als Internetsoziologe Professor im Fachbereich Wirtschaft und Medien der privaten Hochschule Fresenius Berlin.

Dr. Alexander Grau arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist u.a. für „Cicero“, „FAZ“ und den Deutschlandfunk.