Das veränderte Bild von Jugend im Jugendmedienschutz
Ein Streifzug durch 64 Jahre Indizierung von Medien
Der Jugendmedienschutz in Deutschland ist ein hohes Gut. Abgeleitet aus dem Grundgesetz (GG) und im Jugendschutzgesetz (JuSchG) und Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) gesetzlich geregelt, zielt er darauf ab, Kinder und Jugendliche von Medieninhalten fernzuhalten, die sie in ihrer Entwicklung und Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit beeinträchtigen oder (schwer) gefährden können. Die hiermit anvisierte, möglichst „effektive Reduzierung medieninduzierter Entwicklungsrisiken“ (Dreyer 2013, S. 67) ist die bisher längste Zeit einer normativ-pädagogischen Perspektive verpflichtet gewesen, in der dem Bewahren eine doppelte Bedeutung zugewiesen wird: hier das Erhalten bestehender Normen und Werte bei der Erziehung, dort das Beschützen Heranwachsender vor möglichen schädlichen Einflüssen.
In diesem Zugang regiert weniger ein kompetenz- und ressourcenorientierter Blick, sondern vielmehr eine defizitorientierte Sicht auf junge Menschen. Diese werden als in ihrer Entwicklung noch nicht „abgeschlossen“ und daher besonders beeinflussbar gesehen. Vor allem Kinder, aber auch Jugendliche haben demnach noch Schwierigkeiten, die Folgen ihres Handelns „richtig“ abzuschätzen, sie werden bei ihrem mehr von Neugierde und Leichtsinn als von Vorsicht und Umsicht gekennzeichneten Medienumgang dann zuweilen mit problematischen Inhalten (Sex, Gewalt, Extremismus etc.) konfrontiert. Weitgehend unbehelligt von ihren Erziehenden etablieren sie sogar selbst riskante Umgangsformen und Verhaltensweisen (Sucht, Mobbing, Sexting etc.) (vgl. Hajok 2014).
Dieser besondere Schutzbedarf von Heranwachsenden wird bis heute nicht in Abrede gestellt. Es lässt sich allerdings ein markanter Wandel der Perspektive erkennen, mit der die Jugendschützerinnen und Jugendschützer in den letzten Jahrzehnten auf die Jugend geblickt haben. Ein sehr guter Indikator hierfür sind die Entscheidungen der Bundesprüfstelle, deren Argumentationen zur Indizierung jugendgefährdender Medien seit 1954 auch ein ganz bestimmtes Bild von Jugend transportieren. Im Ergebnis einer systematischen Analyse (vgl. Hildebrandt 2015) lässt sich eine veränderte Sicht der Jugendschützerinnen und Jugendschützer erkennen, die der Jugend zu Beginn aus einer normativ-reglementierenden Haltung heraus enge Grenzen setzte, bevor differenzierter und in vielen Punkten liberaler auf Heranwachsende geschaut wurde (vgl. Hajok/Hildebrandt 2017). Wir skizzieren nun einige markante Entwicklungen und wenden uns zum Schluss noch kurz der Frage zu, welche Sicht die Jugend eigentlich auf den Jugendmedienschutz hat.
Eine neugierige Jugend – (noch) ohne gefestigte moralische Widerstandskraft (1950er-/1960er-Jahre)
Was machen Jugendliche eigentlich mit Medien? Diese Perspektive steht in den 1950er-Jahren noch im Schatten einer anderen Frage, die den Jugendmedienschutz zu dieser Zeit umtrieb: Wie vermögen die Medieninhalte auf Heranwachsende und ihre Entwicklung „einzuwirken“? Die frühen Indizierungsentscheidungen der Bundesprüfstelle spiegeln hier eine Sichtweise auf Jugend wider, die von der Vorstellung leicht zu beeinflussender, passiver Rezipienten geprägt ist. Regelmäßig werden Jugendliche als (lebens-)unerfahren, urteilsunsicher, unkritisch und ohne gefestigte moralische Widerstandskraft beschrieben, deren Weltbild-, Wert- und Rechtsvorstellungen sich noch aufbauen müssen. Ob Kriminalroman, Westernheft oder Tarzan-Comic: Eine zentrale Sorge, die von den Jugendschützerinnen und Jugendschützern bei den Verhandlungen dieser ersten Prüfobjekte immer wieder zum Ausdruck gebracht wird, ist die Befürchtung, dass sich die „unreifen Jugendlichen“ in gewissen Schilderungen „nicht mehr zurechtfinden“ und die dort beschriebenen Inhalte nicht verkraften können (siehe A in Liste am Ende des Beitrags).
Konkret wird argumentiert, dass etwa Kriminalromane, wenn sie ein verzerrtes Bild von Polizei und Rechtsstaat vermitteln, oder auch Schriften, die sich gegen die geltende Sexualethik mit ihren Auffassungen von Ehe oder Prostitution stellen, den Heranwachsenden die Einordnung in die soziale Wirklichkeit erschweren. Diese „Verwirrung des Geistes“ bzw. der Phantasie Jugendlicher steht in den 1950er-Jahren im Fokus angenommener Medienwirkungen (vgl. Hildebrandt 2015, S. 51) und wird auch in den 1960er-Jahren noch so thematisiert. „Jugendliche lesen und betrachten oberflächlich und vordergründig“, halten die Jugendschützerinnen und Jugendschützer in einem Indizierungsentscheid dieser Zeit noch fest (B). Nur vereinzelt sprechen sie den Heranwachsenden Kompetenzen hinsichtlich der Urteilsfähigkeit zu und begründen die Nichtindizierung eines Werkes z.B. so: „Die Wirklichkeitsfremde des Romans ist auch von jugendlichen Lesern zu erkennen“ (C).
Bereits in den 1950er-Jahren spielt die vermeintliche Neugierde der Jugendlichen für alles Verbotene eine gewichtige Rolle: Eine „reißerische, Sensationen versprechende Aufmachung“ (D) von Kriminalromanen und Aufdrucke wie „für Jugendliche nicht geeignet“ oder „Sonderband“ auf Sittenromanen erscheinen den Jugendschützerinnen und Jugendschützern für Jugendliche besonders attraktiv. Durch eine reißerische Gestaltung etwa von Bildbänden würden sie des Öfteren auch zur „Aufwendung eines höheren Kaufpreises verführt“ (E). Neben dem Fokus auf verrohend wirkende Medieninhalte versucht man, insbesondere vor einer sexual-ethischen Verwirrung bzw. Desorientierung zu bewahren – ausgehend von der Annahme, dass Jugendliche durch entsprechende Medieninhalte sexuell „aufgereizt“ werden bzw. eine „ungünstige Beeinflussung der sexuellen Phantasie“ (F) erfahren oder die Medieninhalte eine „Zerstörung des natürlichen Schamgefühls“ (G) bewirken. Vor diesem Hintergrund werden der Jugend nicht nur Sittenromane und Leihbücher vorenthalten, sondern auch Werbekataloge für Unterwäsche. Und es wird erkannt, dass sich Jugendliche nicht isoliert in der Medienwelt bewegen. Ein Entscheid hält Ende der 1960er-Jahre hierzu fest: „Gerät das die Neugier junger Menschen erregende Buch in den Bereich von Schülern und Schülerinnen, dann liegt es außerordentlich nahe, daß es von Hand zu Hand weitergereicht wird“ (H). Gerade Comichefte werden als beliebte Tauschobjekte in Schulklassen identifiziert, sodass im Falle verrohender Darstellungen (vor allem von Gewalt) eine Indizierung unbedingt geboten erscheint.
Eine (zunehmend) aktiv rezipierende Jugend auf der Suche nach Identität (1970er-/1980er-Jahre)
In den 1970er- und 1980er-Jahren prägen neue Herausforderungen die Sicht der Jugendschützerinnen und Jugendschützer auf Jugendliche: Hervorzuheben sind einerseits von der „sexuellen Revolution“ initiierte gesellschaftliche Entwicklungen mitsamt ihren Auswirkungen auf Gesetze und einer „Sexwelle“ in den Medien als Folge. Andererseits sind es die Entwicklungen in der Welt der Medien, der Videoboom zu Beginn der 1980er-Jahre, der mit Horror-, Kannibalen-, Zombie-, Action-, Sexfilmen als eine immense Gefahr für die Jugend angesehen wird. Später geraten dann die ersten Computerspiele in den Fokus. Zunehmend stützen die Jugendschützerinnen und Jugendschützer ihre Sicht auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Erkenntnisse der Lerntheorie, die bereits Ende der 1960er-Jahre argumentativ hinzugezogen worden waren, halten nun vermehrt Einzug in die Entscheidungen. So wird befürchtet, dass sich Kinder und Jugendliche an – aus Sicht des Jugendmedienschutzes fragwürdigen – Helden in Romanen orientieren und deren Verhalten und die dargestellten Muster übernehmen. Ebenso wird befürchtet, dass Modelle in Filmen (z.B. aus der Reihe Schulmädchen-Report) als Grundlage für Imitation, Identifikation und „Lernen am Erfolg“ dienen (I).
Im Vergleich zu den früheren Dekaden fließen nun deutlich häufiger aktuelle Erkenntnisse psychologischer bzw. psychoanalytischer und sexualwissenschaftlicher Forschung in die Argumentation für oder gegen die Annahme einer Jugendgefährdung ein. Dabei sind die Vorstellungen von der Entwicklung Heranwachsender in den 1970er-Jahren vorwiegend von der Frage geprägt, wie die Sicherheit eines persönlichen Identitätsbewusstseins erlangt werden kann. Mit Verweis auf den Psychoanalytiker Brocher halten die Jugendschützerinnen und Jugendschützer Anfang der 1970er-Jahre etwa fest, dass Jugendliche der Sexualität und sexuellen Betätigung „nicht nur freudig und vergnügt gegenüber“ stünden und die Angst beider Geschlechter voneinander größer sei, als von Erwachsenen vermutet (J).
In dieser Sicht tragen Angstgefühle dazu bei, dass die „sinnvolle Sublimierung des sexuellen Triebverlangens und die Integration des Sexuellen in die Gesamtpersönlichkeit nachhaltig gestört, wenn nicht verhindert“ werde (K). Sexualerziehung dürfe sich daher auch nicht allein auf die biologische Wissensvermittlung beschränken, sondern müsse in verantwortungsbewusster Weise Jugendliche dabei unterstützen, Sexualität in gesamtgesellschaftliche Bezüge einzubetten. Verwiesen wird beispielsweise auf die Richtlinien für die Sexualerziehung in den Schulen des Landes Nordrhein-Westfalen 1974, wonach Sexualerziehung das Verständnis für die „menschliche und soziale Bedeutung der Partnerschaft in Ehe und Familie“ (L) zu vermitteln habe.
Hier schiebt sich eine Sichtweise in den Vordergrund, die eine Unterstützung Heranwachsender bei der Erlangung ihres persönlichen Identitätsbewusstseins stark macht. Die Zeit indizierter Unterwäschekataloge und der Versuche einer Bewahrung Jugendlicher vor nahezu jeglicher Darstellung von Nacktheit ist nun lange vorbei – sexualisierte Darstellungen allein sind nicht mehr zwangsläufig ein Indizierungsgrund. Vielleicht etwas kleinlaut und mit leicht knirschendem Unterton ist Mitte der 1980er-Jahre zu lesen: „Entsprechend den heutigen Wertvorstellungen und der Enttabuisierung des Sexuellen sind derartige Bild- und Textbeiträge noch im Rahmen des Vertretbaren, wenn auch nicht im Rahmen des Wünschenswerten“ (M).
Mit dieser veränderten Sicht formt sich bei den Jugendschützerinnen und Jugendschützern zunehmend das Bild aktiv auswählender jugendlicher Rezipientinnen und Rezipienten, wie es sich differenzierter im (kommunikations‑)wissenschaftlichen Diskurs der Zeit bereits etabliert hat. In den Entscheiden der Bundesprüfstelle wird nun auch mit dem Begriff der Jugendaffinität argumentiert – und zwar nicht nur bezogen auf die inhaltliche Nähe eines Mediums zur Jugend, sondern z.B. bezogen auf die Zugänglichkeit, wie etwa durch einen günstigen Mietpreis von Filmen in Videotheken.
Eine medienerfahrene Jugend auf dem Weg zu (mehr) Eigenverantwortlichkeit (1990er-/2000er-Jahre)
Die Entscheide der 1990er-Jahre spiegeln vermehrt die Erfahrungen wider, die Jugendliche in den vergangenen Jahrzehnten mit verschiedenen Medien gemacht haben: Ob bei Comics, Magazinen, Videos oder Computerspielen – die Jugendschützerinnen und Jugendschützer erkennen, dass mediale Inhalte oftmals nicht auf ahnungslose und unerfahrene Heranwachsende treffen. Dementsprechend argumentieren sie vor allem bei Nichtindizierungen auch mit den Medienerfahrungen der Heranwachsenden. So werden einem in den 1990er-Jahren zur Prüfung vorgelegten Film beispielsweise Züge einer Bud-Spencer-Verfilmung attestiert, „so daß Jugendliche die von dem Helden propagierten Ideologien nicht ernst nehmen werden“ (N). Zu einer Sex-Zeitschrift wird ausgeführt, dass „die den Abbildungen hinzugefügten Texte […] so dümmlich [sind], dass auch Jugendliche ihre Fadenscheinigkeit durchschauen können“ (O).
Doch wer annimmt, dass sich der Jugendschutz nun von klaren Linien und Vorgaben entfernt oder Grenzen in der Spruchpraxis aufweicht, der irrt. Vielmehr differenziert sich das wahrgenommene Gefährdungspotenzial von Medien in den 1990er- und 2000er-Jahren merklich aus. Dass Kinder und Jugendliche in ihrem Entwicklungsprozess „noch leicht zu beeinflussen sind“ (P), wird in den 2000er-Jahren insbesondere im Hinblick auf die Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Gefährdungspotenzial von Liedtexten, die zum Rassenhass anreizen und Gewalt propagieren, akzentuiert. Zwar sei es für Heranwachsende auch wichtig, im Rahmen ihrer persönlichen Entwicklung Positionen einnehmen zu dürfen, die nicht von der Erwachsenenwelt akzeptiert werden: „Anders zu sein und sich anders zu verhalten, gegen bestimmte Normen zu verstoßen, zu provozieren, zumindest spielerisch die Erwachsenenwelt zu ärgern“ (Q). Bestimmte Inhalte wie pornografisches Material oder explizite Gewaltdarstellungen werden Heranwachsenden aber nach wie vor mit einer Indizierung vorzuenthalten versucht.
Etwa bis Mitte der 1990er-Jahre stützen sich die Jugendschützerinnen und Jugendschützer auf Forschungserkenntnisse der 1980er-Jahre. Mit Bezug auf die lerntheoretisch orientierte Wirkungsforschung wird es beispielsweise als evident angesehen, dass mit „gehäufter Rezeption gewalthaltiger Filminhalte die Wahrscheinlichkeit der Verrohung, Abstumpfung, Desensibilisierung gegenüber ‚real erfahrbarer, alltäglicher Gewalt‘ zunimmt“ (R). In den 2000er-Jahren sind es im Wesentlichen drei Bereiche, auf die sich die Wirkungsvermutungen konzentrieren: erstens die Befürchtung von Nachahmungen eines medial repräsentierten Verhaltens – etwa bei Liedtexten mit aggressiver Wortwahl (S). Zweitens wird eine kognitive Beeinflussung wie eine „ethische Begriffsverwirrung“ (T) oder eine unreflektierte Übernahme rassistischen Gedankenguts unterstellt. Und drittens ist da die Sorge vor negativen emotionalen Wirkungen, wie eine Beeinträchtigung der Empathie (z.B. durch Darstellungen von Leid und Tod bei Tieren und Menschen). Werte wie Toleranz, Respekt und Solidarität geben wesentliche Orientierung für die Erziehungsziele in den 2000er-Jahren und lassen die Jugendschützerinnen und Jugendschützer auch besondere Herausforderungen formulieren: „Die Erziehung muss geprägt sein von Hinleitung zu Eigenverantwortlichkeit und Gemeinschaftsfähigkeit. Gemeinschaftsfähigkeit stellt eine Absage an die zunehmende Individualisierung und Entsolidarisierung dar“ (U).
Eine Jugend, von der (mehr) Partizipation gewünscht wird (2010er-Jahre)
In den letzten Jahren hat die Sicht auf Jugend stark unter dem Eindruck der veränderten Medienzugänge gestanden. Der Jugendschutz versucht, Medieninhalte von einer Generation fernzuhalten, die einen nahezu uneingeschränkten Zugriff auf alles Erdenkliche hat – einfach dadurch, dass das Smartphone zum ständigen Begleiter geworden ist und ohne große Hürden einen Zugang ins offene Netz ermöglicht. Internetangebote haben Druckschriften, Filme und Musik-CDs als Prüfschwerpunkte längst abgelöst. Neben pornografischen Inhalten, die auch im letzten Jahr wieder im Mittelpunkt standen, werden vermehrt extremistische Inhalte als eine besondere Gefahr für die Jugend gesehen und haben sich neue Gefährdungspotenziale etabliert, etwa durch die Onlineshops für Legal Highs (vgl. Hannak u.a. 2018).
Unterm Strich attestieren die Jugendschützerinnen und Jugendschützer auch in den 2010er-Jahren der Jugend noch eine (leichte) Beeinflussbarkeit, da sich die Heranwachsenden noch im geistigen und charakterlichen Reife- und Entwicklungsprozess befinden. Insbesondere in Entscheiden zu Liedtexten des Gangsta-Raps und des Rechtsrocks werden mögliche (Aus-)Wirkungen auf das Denken, Fühlen und Handeln differenziert angeführt. Nach 25 Jahren liegen dem Jugendschutz nun auch erneut zahlreiche Sexfilme zur Überprüfung vor, die in den 1980er-Jahren indiziert wurden. Diese werden regelmäßig von der Liste jugendgefährdender Medien gestrichen, wenn die Filmszenen als so realitätsfern und überzeichnet angesehen werden, dass sie „von heutigen Kindern und Jugendlichen in keiner Weise als vorbildhaft für das eigene Leben und Verhalten angesehen werden können“ (V). Ähnliches trifft auch auf zuvor indizierte Video- und Computerspiele mit einer – mittlerweile – als überzogen und realitätsfern eingestuften Darstellung von Gewalt zu.
Wie bereits in der Dekade zuvor spielen die Erziehungsziele eine große Rolle für die Identifizierung von Aspekten, die die heutige Sicht des Jugendmedienschutzes auf Jugend prägen. Dabei werden nicht nur die Grundsätze der Friedenspädagogik, sondern auch die normativen Erwartungen in bestimmten Entwicklungsbereichen, etwa der sexuellen Entwicklung, betont. Die Nichtindizierung eines Aufklärungsbuches mit expliziten Fotos wird beispielsweise wie folgt begründet: „Es ist ausdrücklich nicht geeignet, die sexuelle Entwicklung Jugendlicher zu stören, sondern es fördert nach Ansicht des Gremiums gerade eine ungestörte sexuelle Entwicklung, in der der Mensch in seiner Ganzheit die zentrale Rolle spielt und eben nicht zum beliebig auswechselbaren Objekt sexueller Begierde wird“ (W).
Wesentliche Erziehungsziele in der Gesellschaft werden in den Entscheiden der 2010er-Jahre etwa darin gesehen, dass „Kinder und Jugendliche lernen sollen, andere Menschen zu tolerieren und zu respektieren, auch wenn diese anderen Rassen, Religionen oder Ideologien angehören“ (X). Eine Förderung ihrer Solidarität und Partizipation sowie der Sinn für gegenseitigen Respekt werden begrüßt. Jugend soll sich „an der Gesellschaft reiben dürfen und diese herausfordern“ (Y). Junge Menschen dürften nicht die konsequente Botschaft vermittelt bekommen, dass „Demütigungen und Rücksichtslosigkeit und eine auf der Bereitschaft zur kompromisslosen und willkürlichen Gewaltanwendung basierende Überheblichkeit Umgangsformen sind, die von der Gesellschaft toleriert würden“ (Z). Mit diesem Fokus geht es heute, fast 65 Jahre nach Gründung der Bundesprüfstelle, nicht mehr nur darum, Jugendliche vor gefährdenden Medieninhalten zu schützen, sondern ihnen gleichzeitig einen konstruktiven und kritischen Umgang mit Medien zu ermöglichen.
Perspektivenwechsel: die Sicht der Jugend auf den Jugendmedienschutz
Jugendliche haben natürlich ihre eigene Sicht auf die Dinge – und diese ist mit Blick auf den Anspruch des Jugendmedienschutzes durchaus spannend. Denn es ist keineswegs so, dass die Jugend dem Jugendmedienschutz im Allgemeinen und den diversen Maßnahmen und Schutzinstrumenten im Speziellen negativ gegenübersteht – oder sie sogar grundsätzlich ablehnt. Zwar nehmen junge Menschen den Anspruch und die gesetzlichen Grundlagen des Jugendmedienschutzes nicht unbedingt wahr, sie erwarten aber von der Erwachsenengeneration und nicht zuletzt von den Medien, dass sie ihnen gegenüber fürsorglich sind (vgl. Hajok/Lauber 2013).
Empirische Zugänge zeigen entsprechend auch, dass Jugendliche letztlich eine ambivalente und differenzierte Sicht sogar auf die restriktiv-bewahrenden Instrumente haben, mit denen wir mögliche Beeinträchtigungen und Gefährdungen von vornherein von ihnen fernhalten wollen – und damit ihren Medienumgang faktisch einschränken. Etablierte Instrumente wie die in der Offlinewelt etablierten Altersfreigaben treffen sogar auf weitgehende Akzeptanz (insbesondere zum Schutz von Kindern vor ungeeigneten Inhalten). Die leichten Umgehungsmöglichkeiten und fehlenden wirksamen Schutzinstrumente im Onlinebereich werden demgegenüber kritisiert und Forderungen nach präventiven Angeboten (vor allem an der Schule) und einem angemessenen medienerzieherischen Handeln der (noch besser aufzuklärenden) Eltern artikuliert (vgl. Hajok/Lejeune 2014).
Auch bezüglich des Onlinebereichs ist den meisten Heranwachsenden ein wirksamer Schutz wichtiger als ein leichter Zugang zu allen Internetangeboten. Sie selbst agieren hier aber weiterhin recht unbefangen und haben nicht in erster Linie mögliche Gefahren im Blick. In einer Zeit, in der Medien immer mehr zu Austausch und Vernetzung genutzt werden, verorten sie diese weniger im Bereich inhaltlicher Risiken durch den (ungewollten) Kontakt mit expliziten Darstellungen von Gewalt, Sexualität, Extremismus etc., sondern vielmehr im Verhalten anderer Heranwachsender (vgl. Brüggen u.a. 2017). Hierin unterscheiden sie sich nicht nur von der Sicht ihrer Eltern, sondern auch vom konkreten Handeln der Jugendschützerinnen und Jugendschützer. Trotz der gewandelten Perspektiven auf die Jugend stellt dieses noch immer vor allem auf die Risiken des Kontakts mit (standardisierten) Medieninhalten ab, die Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung und Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit beeinträchtigen oder (schwer) gefährden können.
Literatur:
Brüggen, N./Dreyer, S./Drosselmeier, M./Gebel, C./Hasebrink, U./Rechlitz, M.: Jugendmedienschutzindex: Der Umgang mit onlinebezogenen Risiken. Ergebnisse der Befragung von Heranwachsenden und Eltern. Berlin 2017
Dreyer, S.: Rechtliche Grundlagen des Jugendmedienschutzes. In: H. Friedrichs/T. Junge/U. Sander (Hrsg.): Jugendmedienschutz in Deutschland. Wiesbaden 2013, S. 65-82
Hajok, D.: Veränderte Medienwelten von Kindern und Jugendlichen. Neue Herausforderungen für den Kinder- und Jugendmedienschutz. In: BPjM-Aktuell, 3/2014/22, S. 3-17
Hajok, D./Hildebrandt, D.: Jugendgefährdung im Wandel der Zeit: Perspektiven des Jugendmedienschutzes auf das Gefährdungspotenzial von Medien und den besonderen Schutzbedarf von Kindern und Jugendlichen. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 1/2017/12, S. 71-87
Hajok, D./Lauber, A.: Jugendmedienschutz im Spannungsfeld unterschiedlicher Akteure und Interessen. In: JMS-Report, 2/2013/36, S. 2-6
Hajok, D./Lejeune, R.: Gefahrenbewusstsein und Perspektive Jugendlicher auf den Jugendmedienschutz in Onlinemedien. In: JMS-Report, 1/2014/37, S. 2-6
Hannak, M./Hajok, D./Liesching, M.: Pornografische Medieninhalte als Schwerpunkt der Spruchpraxis 2017. In: BPjM-Aktuell, 1/2018/26, S. 7-13
Hildebrandt, D.: Wandel der Vorstellungen von Jugendlichen im Jugendmedienschutz in Deutschland. Eine inhaltsanalytische Auswertung von Entscheiden der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM). Magisterarbeit. Universität Erfurt 2015
Daniel Hajok (Foto: privat)
Daniel Hildebrandt (Foto: privat)