Das Zeitalter der Wahrheit
Ein praxeologischer Blick
1. Praxeologie der Wahrheit – analytische Parameter
Eine Diskussion dieser These sollte daher zunächst damit beginnen, die „Wahrheit“ in den konkreten Situationen und Szenen aufzusuchen, in denen sie auftaucht, angerufen oder geleugnet wird: Denn sie ist stets in eine Praxis eingebettet, im Rahmen derer überhaupt erst entschieden wird, was als Wahrheit in Anspruch genommen oder der Kritik unterworfen wird und was mit ihr gemacht wird. Und sie wechselt das Regime, folgt z.B. den Logiken von Glaubensgemeinschaften, der Scientific Community oder der modernen Massenkommunikation. Und wenn sich mit dem Regimewechsel auch die Techniken und Verfahren der Wahrheitsfindung ändern, die Wahrheitsfiguren und Wahrheitstheorien, so steht zu fragen, ob sich damit auch das Verständnis und die Funktion von Wahrheit grundsätzlich ändern.
Diesen Zusammenhängen widmet sich das Programm einer Praxeologie der Wahrheit (PdW). Ihr Ausgangspunkt ist zunächst die Annahme, dass die Konstitutionsprozesse von Wahrheit mit solchen von Subjektivität wechselseitig verschränkt sind und sich in actu beobachten lassen. So setzen Wahrheitsfindung und Berufung auf Wahrheit einerseits Subjektivierungsformen und ‑programme voraus, bedingen und befördern diese, Subjektivierungsprozesse andererseits sind ohne Bezugnahme auf bestimmte Wahrheitsformen nicht denkbar.
Damit unterscheidet sich die Praxeologie der Wahrheit diametral von klassischen philosophischen Wahrheitstheorien, denen die Wahrheit als ein erkenntnistheoretisches Grundkonzept subjektungebunden und zeitlos gilt: Ist etwas wahr, dann gilt das immer – und unabhängig von der Person, die das behauptet. Demgegenüber geht die PdW lediglich davon aus, dass es für das Funktionieren des Wahrheitsspiels unumgänglich ist, Wahrheit als zeit- und subjektungebunden in Anschlag zu bringen. Überzeitlich und überindividuell aber ist Wahrheit nur in den Spielregeln dieser Praxis.
Wann wird Wahrheit ins Spiel gebracht? Wer bringt sie ins Spiel?
Die entscheidenden Fragen, die im Zusammenhang mit der Wahrheit gestellt werden müssen, sind demnach „wann?“ und „wer?“: Wann wird Wahrheit ins Spiel gebracht? Wer bringt sie ins Spiel? Und, so müsste man weiterfragen: Was für einen Effekt hat das? Was passiert, wenn sich jemand auf die Wahrheit beruft? Was bedeutet das für die beteiligten Personen?
Um diese Fragen zu beantworten und den historischen Wandel von Wahrheitsregimes zu beobachten, unterscheiden wir drei zentrale analytische Parameter eines „doing truth“: Wahrheitsszenen, Wahrheitsfiguren und Wahrheitsassemblagen.1 Idealtypisch wären z.B. der Prozess, das Gericht und die Richterin; die Prophezeiung, das Orakel und der Prophet; das Verhör, die Ermittlung und die Kriminalistin …
Die Entstehung oder Ablösung neuer Wahrheitsszenen, der damit verbundenen Skripte und Verfahren, die Entstehung und Ablösung von (bestimmten hegemonialen) Wahrheitsfiguren und der mit ihnen jeweils verbundenen Eigenschaften (wie Gottesnähe, Wahrhaftigkeit, Akkuratesse etc.) lassen die historischen Dimensionen der Assemblagen von Wahrheitspraktiken, ihrer Theoretisierung und Institutionalisierung in verschiedenen Wahrheitsregimes zutage treten. So liefert etwa die aktuelle Destabilisierung der Wahrheitsfiguren der Wissenschaftler*in und der Journalist*in Hinweise auf einen Wandel von Wahrheitsregimes, den auch die noch junge korrespondenztheoretische Praktik des Faktenchecks zu belegen scheint.
Die praxeologischen Parameter der Szene, Figur und Assemblage lassen sich anhand einer (fiktiven) Gerichtsszene verdeutlichen: Bei einem Gericht haben wir es mit einer Wahrheitsassemblage zu tun, einer spezifischen Verschränkung von Akteuren und Dingen im Rahmen eines institutionalisierten Wahrheitsregimes (z.B. der deutschen Rechtspraxis). Hier treffen verschiedene Wahrheitsfiguren aufeinander, u.a. beispielsweise die klassischen Figuren des Richters und des Zeugen, die noch relativ junge Figur der Sachverständigen etc. Der Prozess als Wahrheitsszene setzt bei einer bestimmten, auch räumlich repräsentierten, Subjektkonstellation an, verwendet bestimmte Medien, verfährt mittels bestimmter Praktiken und folgt einem bestimmten Skript – den Verfahrensschritten.
Auch eine Gerichtsverhandlung ist dabei nicht lediglich eine Szene, im Rahmen derer über Wahrheit entschieden wird, hier werden vielmehr durch Anrufung der Wahrheit Subjekte zugerichtet, bewertet und eingeordnet. Das beginnt bereits mit der Aufforderung: „Schwören Sie, die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit, so wahr Ihnen Gott helfe!“, mit der der Zeuge im Hinblick auf seine Wahrheitsfähigkeit subjektiviert wird.
Für die Praxeologie der Wahrheit ist dies der vielleicht entscheidende Punkt: Die Berufung auf Wahrheit setzt etwas in Gang. Es macht kaum Sinn, die Wahrheit, um die es hier geht, als etwas Überzeitliches und Subjektungebundenes zu begreifen: In dieser Szene bedeutet die Anrufung der Wahrheit vielmehr Stress bzw. sozialen Druck, sich zu etwas zu bekennen, sich konform zu verhalten.
2. Wahrheit produziert Stress
Wenn nun die Anrufung der Wahrheit Stress produziert, eskalierend wirkt, da sie eine Weise ist, jemanden dazu zu nötigen, sich zu positionieren, dann lässt sich die Anrufung von Wahrheit auch als eine identitätspolitische Technik begreifen, die zur Integration sozialer Gruppen führt, die in einen Deutungsstreit um die Realität treten. Insofern stimmt die Aussage, dass es keine Wahrheit im Plural geben kann – allerdings nicht, weil die Wahrheit unteilbar und universal, überzeitlich und übersubjektiv gültig wäre, denn sie ist weder ontologisch noch epistemologisch zu bestimmen. Wahrheit ist weder etwas, das wir entbergen müssen, das ans Licht kommt, das triumphiert, noch gibt es so viele Wahrheiten, wie es Menschen gibt. Wahrheit ist schlicht ein sozialer Operator.
Wahrheit ist weder etwas, das wir entbergen müssen, noch gibt es so viele Wahrheiten, wie es Menschen gibt. Wahrheit ist schlicht ein sozialer Operator.
Versteht man Wahrheit als sozialen Operator, der im Rahmen spezifischer Assemblagen auf eine bestimmte Weise wirkt, dann geraten natürlich vor allem die sozialen Medien in den Blick. In dieser Hinsicht sind besonders zwei Dinge interessant: 1. deren spezifische Aufmerksamkeitsökonomie und 2. die sozialpsychologischen Effekte der Anrufung von Wahrheit.
Es gibt Spruchweisheit – „Wahrheit tut weh!“ –, die tatsächlich wahr zu sein scheint, denn sie verweist darauf, dass die Frage nach der Wahrheit eine Irritation der präreflexiven Praxis darstellt und gegebenenfalls ein Unwohlsein im Sinne der Theorie der kognitiven Dissonanz Leon Festingers hervorruft. Wird mit der Wahrheit einer Position auch die Stellung eines Subjekts angegriffen, so erzeugt dies eine Dissonanz, die entweder durch Revision der betreffenden Position oder durch Vergrößerung der sozialen Gruppe, innerhalb derer die Position geteilt wird, reduziert werden kann. Die soziale Gruppe, so Festinger, stellt sowohl eine Quelle kognitiver Dissonanz wie auch ihrer Beseitigung dar: Einerseits können abweichende Meinungen Dissonanz induzieren, andererseits „besteht einer der effektivsten Wege der Beseitigung von Dissonanz darin“, Personen zu finden, „die mit den Kognitionen übereinstimmen, die man beizubehalten und aufrechtzuerhalten wünscht.“ Ein Streit über die Wahrheit von Aussagen oder Überzeugungen induziert also Dissonanz, die durch Integration oder Bildung neuer sozialer Gruppen reduziert werden kann (Festinger 20122).2
Im Zeitalter der Social Media hat dieser Ansatz nun ein neues Gewicht bekommen, denn je leichter die Zirkulation von Glaubensinhalten und je leichter der Prozess der Erweiterung einer sozialen Gruppe, desto effektiver die Dissonanzreduktion und damit auch die Aufrechterhaltung eines Glaubenssystems. Und die Social Media bieten genau einen solchen unmittelbar und einfach zugänglichen idealen Resonanzraum konsonanter Kognitionen. Gleichzeitig, und auch dies ist von entscheidender Bedeutung für zeitdiagnostische Überlegungen, bedeuten das Anwachsen, die Stabilisierung und die Vervielfältigung sozialer Gruppen und ihrer je eigenen Glaubenssysteme eine Zunahme potenziell abweichender Kognitionen und damit eine Zunahme von Dissonanz. Damit verändert sich auch die Kommunikations- und Konfliktkultur, es wird ein Prozess positiver Rückkopplung in Gang gesetzt, in dem sich die Zunahme von Dissonanz und deren Überwindung selbst verstärken.
3. Wahrheit 2.0
Dieser Prozess wird nun aufgrund der Logik der digitalen Wahrheitskommunikationen noch forciert. Neben der Delegitimierung uns vertrauter moderner Wahrheitsfiguren, wie der der Wissenschaftler*in oder der Journalist*in, lässt sich eine Dezentralisierung, Multiplikation und Demokratisierung von Kommunikation bzw. ihren Kanälen beobachten – mit einer bis dato unbekannten Fülle an Aussagen mit Wahrheitsanspruch, denen bereits aufgrund ihrer schieren Menge nicht mehr mit den klassischen Überprüfungsverfahren begegnet werden kann.
Eine solche „big data truth“ (oder Wahrheit 2.0) hat weniger etwas mit altehrwürdigen philosophischen Erkenntnislehren als vielmehr mit algorithmisch gesteuerten Aufmerksamkeitsökonomien zu tun. In einer Zeit ungefilterter direkter Kommunikation und immer leichter zugänglicher Information folgen selbst wissenschaftliche Tatsachen (und das, was als solche präsentiert wird) zunehmend dem Code von Information/Nichtinformation, der (laut Niklas Luhmann) bereits das System der modernen Massenmedien kennzeichnet. Selektoren wie Überraschung, Konflikt oder Normverstöße zeigen sehr deutlich, wie Wahrheitsszenen und die sie beflügelnden kognitiven Dissonanzen heute funktionieren: Als Eskalationsmaschine führt die Anrufung von Wahrheit zu Konflikten; und die Zurückweisung von Informationen, die mit den herrschenden Normen eines Wahrheitsregimes korrespondieren, kann Aufmerksamkeit generieren, so sie z.B. als skandalös verstanden wird und damit „ein Gefühl der gemeinsamen Betroffenheit und Entrüstung“ erzeugt (vgl. Luhmann 19962, S. 62).
Als Eskalationsmaschine führt die Anrufung von Wahrheit zu Konflikten …
Das heißt: Wenn Informationen zirkulieren, kann ihnen also erneut Nachrichtenwert verliehen werden, indem sie als „wahr“ oder „falsch“ qualifiziert werden, denn so können Reaktionen hervorgerufen werden, die den Nachrichtenwert lebendig halten. Und angesichts des digitalen Strukturwandels der Öffentlichkeit muss diese bereits für die klassischen Massenmedien geltende Analyse sogar noch zugespitzt werden, denn die Funktionsweisen von Suchmaschinen und Social Media ermöglichen eine weiter beschleunigte Zirkulation von Information und eine Vervielfältigung der nun zusammenfallenden „Autorenadressaten“ von Nachrichten. Auch das Wahrheitsspiel um Fake News, der Tanz der Faktenchecker um „wahr“ und „falsch“, generiert selbst wieder Aufmerksamkeit (und zeitigt ökonomische Effekte), teilweise automatisch in Form algorithmisch gesteuerter Selbstverstärkungsprozesse (vgl. Harsin 2015).
Dass politische Positionen aufgrund der niedrigeren „Kosten der Partizipation am politischen Diskurs“ extremer werden, wie Philip Manow mit Blick auf die Logik der „digitalisierten Demokratie“ argumentiert (Manow 2020), ist also nur die eine Seite der Medaille. Die im Rahmen von Wahrheitsszenen ausgelösten kognitiven und sozialen Prozesse sind die andere, denn die Stabilisierung von Gemeinschaften und ihrer je spezifischen Identitäten kann gerade durch die Grenzziehung zwischen „wahr“ und “„falsch“ gefördert werden. So ist die Anrufung von Wahrheit zugleich Ursache und Konsequenz gesellschaftlicher Desintegration, Ausdruck und Verstärker einer Zersplitterung von Glaubenssystemen und einer Polarisierung politischer Auseinandersetzungen (im Sinne des Freund-Feind-Denkens Carl Schmitts).
Ebenso wie die Moralisierung vertreibt die Anrufung von Wahrheit damit die politische Auseinandersetzung von der Sachebene, vertreibt die Diplomatie, die Verhandlung, den Kompromiss. Sie zerstört mit der Offenheit von Wissen ebenso die Voraussetzungen für epistemische Normalität wie mit der Flexibilität von Geltungsansprüchen die Voraussetzung des Fortbestandes normativer Geltung. Und um diese Zusammenhänge analytisch handhabbar zu machen, so der Vorschlag, müssen wir uns auf die entsprechenden Akteure und ihre Praktiken, auf das „doing truth“ konzentrieren.
Anmerkungen:
1) Vgl. Kleeberg, B./Suter, R. (2014), wo statt Wahrheitsassemblagen allerdings Wahrheitstheorien als dritter Parameter fungieren.
2) Festinger, L.: A Theory of Cognitive Dissonance. Stanford 1957, hier zitiert nach der deutschen Ausgabe: Theorie der kognitiven Dissonanz. Bern 20122, S. 177. Festinger attestiert (S. 178 f.) solchen Meinungsunterschieden eine geringere Dissonanzstärke, die sich auf „objektive, nicht soziale Belange betreffende kognitive Elemente“ beziehen. „Wo sich demnach der Inhalt der Meinung auf eine ‚prüfbare physikalische Realität‘ bezieht, wird durch soziale Meinungsverschiedenheiten eine geringe Dissonanz erzeugt werden.“ Anders sei es, wenn nur sehr wenige Elemente einer Überzeugung mit der physikalischen Realität korrespondieren: Die Äußerung einer entgegengesetzten Meinung werde hier eine „größere Gesamtdissonanz“ hervorrufen. Und je „größer die Anzahl der Leute, von denen man weiß, dass sie mit der von einem selbst vertretenen Meinung übereinstimmen, desto geringer ist die Stärke der Dissonanz, die aufgrund des Nichtübereinstimmens mit einigen anderen Leuten induziert wird.“ Festingers Beispiel hier ist der Glauben an die Reinkarnation, aber es scheint mir naheliegend, den Klimawandel einzusetzen, auch die Covid-19-Pandemie zumindest bis zum Herbst 2020.
Literatur:
Festinger, L.: Theorie der kognitiven Dissonanz. Bern 20122
Harsin, J.: Regimes of Posttruth, Postpolitics, and Attention Economies. In: Communication, Culture & Critique, 2/2015/8, S. 327 – 333
Kleeberg, B./Suter, R.: Doing Truth. Bausteine einer Praxeologie der Wahrheit. In: Wahrheit. Zeitschrift für Kulturphilosophie, 2/2014/8, S. 211 – 226
Luhmann, N.: Die Realität der Massenmedien. Opladen 19962
Manow, P.: (Ent-)Demokratisierung der Demokratie. Berlin 2020
Der Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den der Autor am 17. November 2021 auf dem medien impuls „Mediales Erzählen und die Wahrheit“ gehalten hat.