„Den Alltag zum Leuchten bringen“

Barbara Felsmann im Gespräch mit Nora Lämmermann, Simone Höft

Seit fünf Jahren engagiert sich die Förderinitiative „Der besondere Kinderfilm“, zu der mittlerweile 26 Partner aus Filmwirtschaft, Politik, Förderungen des Bundes und einiger Länder sowie öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern gehören, für mehr originäre Kinderfilme in Kino und Fernsehen. Mit Winnetous Sohn, ENTE GUT! Mädchen allein zu Haus und Auf Augenhöhe liefen bereits drei geförderte Filme im Kino. In Postproduktion befinden sich nun die Filmprojekte Invisible Sue vom Markus Dietrich sowie Unheimlich perfekte Freunde, das unter der Regie von Marcus H. Rosenmüller Anfang 2019 ins Kino kommen soll. Idee und Drehbuch für diesen Film stammen von Nora Lämmermann und Simone Höft. Mit ihnen sprach Barbara Felsmann während des Deutschen Kinder Medien Festivals Goldener Spatz.

Online seit 25.07.2018: https://mediendiskurs.online/beitrag/den-alltag-zum-leuchten-bringen/

Vollständiger Beitrag als:

Das Drehbuch zu Unheimlich perfekte Freunde ist Ihre dritte Zusammenarbeit. Wie kann man sich diesen kreativen Prozess vorstellen, wenn der eine Schreibtisch in München steht und der andere in Köln?

Simone Höft: Dank der Errungenschaft des Internets treffen wir uns virtuell.

Nora Lämmermann: Genau, quasi in 2-D jeden Tag auf Skype. Manchmal treffen wir uns auch persönlich. Kennengelernt haben wir uns bei der Akademie für Kindermedien in Erfurt. Als ich dann den Auftrag bekam, den zwölfteiligen Serienroman Landluft für Anfänger zu schreiben, habe ich mich an Simone gewandt, weil ich das Gefühl hatte, dass die Art, wie Simone schreibt, gut zu dem Stoff und zu meiner Erzählweise passt. Und das hat sich total bewahrheitet. Wir mögen ähnliche Sachen, und wir gehen ähnlich an Stoffe heran. Uns beiden ist Struktur wichtig, d.h., wir nähern uns oft über die Struktur und die emotionalen Bögen den einzelnen Szenen und dem detaillierten Schreiben.

S.H.: Bei solch einer Zusammenarbeit muss man auch Kritik annehmen können und selbst konstruktiv Kritik üben. Das ist oft schwierig bei Autorenduos, aber wir können es sehr gut. Wir schwingen ähnlich, haben ein ähnliches Empfinden für Stoffe und für das Setzen der Fokusse.

Das Drehbuch zu Unheimlich perfekte Freunde ist ein Originalstoff. Wie ist die Idee dazu entstanden?

S.H.: Als mein Sohn in die 4. Klasse kam und nun die Wahl der weiterführenden Schule diskutiert wurde, war ich erschüttert, was da auf einmal abging. Wie die Eltern ständig ausrasteten und die Kinder nur noch als wandelnde Defizite ansahen. Es ist ja schon frappierend, dass Neunjährige seitens der Schule damit konfrontiert sind, dass bereits jetzt angeblich die Weichen für die Zukunft gestellt werden. Und viele Eltern machen diesen Stress mit, sodass sich die Kinder defizitär und nicht mehr wertvoll fühlen.

N.L.: Meine Freunde haben auch Kinder, die jetzt diesen Übergang zum Gymnasium bewältigen müssen, und so wurde das Thema wieder für uns virulent. Die Kinder müssen so viel lernen und haben so viel Druck, dass kaum mehr Zeit zum Spielen bleibt. Wir dachten, eigentlich müsste man sich klonen können. Diese Wunschvorstellung und das Gefühl, dass man immer perfekt sein muss in dieser Leistungsgesellschaft, haben sich dann plötzlich verbunden zu der Idee, über einen Jungen zu erzählen, der sich einen Doppelgänger sucht, weil er dem Schulstress entfliehen möchte. Wir haben später bei unseren Recherchen gemerkt, dass wir mit diesem Thema tatsächlich einen Nerv treffen. Wir wollten die Geschichte aber unterhaltend und als einen Genrefilm, als eine Gruselkomödie, erzählen, die ein relevantes Thema behandelt, aber nicht  mit dem Zeigefinger auf diesen Missstand hinweist.

In dem Film gibt es aber nicht nur eine, sondern zwei Hauptfiguren.

N.L.: Bei der Weiterentwicklung des Stoffes haben wir uns dann für zwei Jungen und eine Freundschaftsgeschichte entschieden. Weil perfekt zu sein ja für jeden etwas anderes bedeutet. Jeder hat ein anderes Schwächenpaket. Während Frido besser in der Schule sein will, ist sein Freund Emil ja eher der Kluge, der aber mit seiner Helikopter-Mutter überhaupt nicht frei atmen darf. Und ihm ein perfektes und damit im Vergleich zu Frido ein genau gegenteiliges Spiegelbild zu geben, das sich einfach mal etwas traut, sich wehrt und eine körperliche Kraft hat, das fanden wir sehr reizvoll.

S.H.: Emil ist genauso ein Opfer dieser Leistungsgesellschaft. Obwohl er ein kluges Kind ist, wird er wie Frido drangsaliert, nur auf eine andere Weise. Bei der Arbeit haben wir begriffen, wie viele Facetten dieses Thema hat und dass man diese Geschichte nicht nur mit einer Figur erzählen kann.

Wie sind Sie zum „Besonderen Kinderfilm“ gekommen?

N.L.: Wir haben ein Treatment geschrieben, das lief uns relativ gut von der Hand, und dann haben wir die Produzenten von VIAFILM angesprochen.

S.H.: Wir kannten uns, weil wir bereits an einem anderen Projekt zusammenarbeiten.

N.L.: Benedikt Böllhoff und Max Frauenknecht haben das Projekt bei der Initiative eingereicht, wir haben die Drehbuchförderung bekommen, und dann musste es Schlag auf Schlag gehen. Im Juni 2015 zum Münchener Filmfest kam die Zusage, und Ende des Jahres musste die erste Drehbuchfassung abgegeben werden. Das war schon recht sportlich, aber es lief sehr gut, weil wir das Gefühl hatten, dass die Figuren sich aus sich heraus erzählen.

S.H.: Schwierig war allerdings, dass wir so viel erzählen mussten, schon allein durch die beiden Figuren und deren Doppelgänger. Wir hatten eine wahnsinnige Fülle, die wir total zusammendampfen und miteinander verzahnen mussten. Ende 2015 stand dann die erste Fassung, im Februar 2016 hatten wir den Pitch und beim nächsten Filmfest in München war die Bekanntgabe, dass wir die Produktionsförderung erhalten. Ab einem bestimmten Zeitpunkt arbeitete auch noch Marcus H. Rosenmüller mit am Drehbuch. Er hat den Spaßfaktor verstärkt, wollte einfach – wie wir ja auch – richtige Lacher im Film haben.

Insgesamt haben Sie acht Drehbuchfassungen erarbeitet. Wie hält man das durch?

N.L.: Das Gute war, dass wir immer wussten: Der Film wird gemacht. Das war das eine, und das zweite war die Entscheidung, die Dramaturgin Beate Völcker dazuzuholen, eine Außenstehende, die strukturell mitdenkt.

Warum sind originäre Stoffe so wichtig? Oder geht es eher um zeitgenössische?

S.H.: Es geht nicht nur um die Originalität der Drehbücher, sondern um gegenwärtige Stoffe, um Probleme, die Kinder im Alltag bewegen. Es gibt ja auch gute Buchvorlagen, die eine gesellschaftliche Relevanz haben. Ansonsten glaube ich, dass wirklich viele Autoren Stoffe mit sich herumtragen, die noch nicht in Buchform gegossen, aber am Puls der Zeit sind. Deshalb ist es wichtig, dass Originaldrehbücher verfilmt werden.

N.L.: Die Initiative „Der besondere Kinderfilm“ ist auch eine Gegenströmung zu dieser Auffassung in der Filmbranche, eine Bestsellerverfilmung und die Verfilmung großer Marken würden automatisch einen Markterfolg und damit finanzielle Sicherheit bringen. „Der besondere Kinderfilm“ bestärkt die Filmemacher darin, dass Geschichten auch erzählenswert sind und langfristig Publikum generieren können, wenn sie noch keine Marke sind.

S.H.: Außerdem meine ich, dass Kinder die gleichen Rechte haben wie Erwachsene. Für das erwachsene Publikum gibt es die Arthaus-Filme, die haben es auch nicht einfach im Kino. Und warum soll es das für Kinder nicht geben?

N.L.: Das sehe ich genauso. Hinzu kommt, dass es sich bei einem Originaldrehbuch ja nicht per se um einen Arthaus-Film handeln muss. Wir versuchen in unserem Film ja auch eine Brücke zu schlagen, eben ein relevantes Thema unterhaltend zu erzählen. Es ist ein Vorurteil, zu meinen, weil ein Stoff originär ist, kann es kein Mainstream sein. Irgendwann sollten diese Einteilungen endlich wegfallen!

S.H.: Ich hoffe zudem, dass die Initiative in Zukunft auch Filme fördert, die eine andere Ästhetik bieten. Bei vielen deutschen Kinderfilmen sieht es ja aus wie in einem riesigen, bunten „Bonbon“-Laden! Das regt mich manchmal richtig auf, dass man sich nicht mal an eine andere Ästhetik wagt.

N.L.: Auch dass sich so ein bestimmtes Bild von Kinderfilm in den Köpfen verfestigt hat, wo die Eltern und die erwachsenen Figuren nur Karikaturen und bunte, überzeichnete Wesen sind. Eltern werden entweder nicht ernst genommen oder sie sind diese Überbehütenden. Aber man darf kaum fehlbare Menschen erzählen, und das ist schade.

Warum haben es originäre, zeitgenössische Stoffe in Deutschland so schwer?

S.H.: Das hat sicher etwas mit dem Stellenwert des Kindes in unserer Gesellschaft zu tun. Das Kind ist ja entweder Preispokal oder es darf nicht stattfinden, man soll es am besten gar nicht hören. Kinder werden hier gnadenlos unterschätzt, die werden „verkindscht“. Originaldrehbücher sind oftmals die schwierigeren Stoffe, und die traut man Kindern nicht zu.

N.L.: Ja, man hat oft so eine bullerbümäßige Vorstellung von Kindheit und will nicht sehen, dass die Kinder all diese schwerwiegenden Fragen des Lebens ja stellen.

S.H.: Es hat auch etwas mit dieser extremen Individualisierung zu tun, die mit einer großen Egozentrik einhergeht. Die Eltern sitzen vielfach zu Hause in ihren tollen linksliberalen, goldenen Käfigen und interessieren sich eigentlich nicht für die Welt. Und die Realität, die Missstände in der Welt wollen sie auch von ihren Kindern fernhalten.

N.L.: Das ist übrigens der große Unterschied zu z.B. skandinavischen und britischen Kinderfilmen, weil genau das da möglich ist. Man spürt förmlich, dass die wahrhaftiger sind und ins echte, pralle Leben greifen.

Welche Hilfe haben Sie durch die Initiative erfahren?

S.H.: Das Tolle ist die Planbarkeit. Man schreibt nicht ins Blaue, sondern man hat zu einem relativ frühen Zeitpunkt das Projekt finanziert und weiß, es wird realisiert. Und alle arbeiten miteinander daran, dass es auf einen guten Weg gebracht wird.

N.L.: Das hält die Energien hoch. Das ist nicht zu unterschätzen! Etwas herausfordernd waren die ersten Redaktionssitzungen mit sechs oder sieben Redakteuren und jeder sieht den Film anders. Das war nicht leicht für uns als Autorinnen. Aber da ist die Initiative ziemlich reflektiert. Ab dem dritten Treffen wurde der Kreis dann kleiner und wir trafen uns nur noch mit der federführenden Redaktion, die das Feedback der anderen Redaktionen vorher eingesammelt hatte. So konnten wir konzentriert ins Detail gehen und szenentechnisch arbeiten. Und für die letzte Fassung haben wir uns dann noch einmal zu einer großen Redaktionsschlussrunde zusammengefunden.

Was könnte sich in Zukunft im Rahmen des „Besonderen Kinderfilms“ noch verändern, wobei die Betonung auf dem „besonderen Film“ liegt?

S.H.: Dass die Initiative durch ihr Förderprogramm dieses vorherrschende Klischee, wie Kinderfilm zu sein hat, noch mehr aufbricht. Dass man da in die Vollen geht und mehr zulässt, experimentierfreudiger ist und aus dem Leben schöpft. Den Alltag zum Leuchten bringen, das ist das, was die Filme, auch die Kinderfilme, aus Großbritannien extrem gut können. Die soziale Realität erzählen, aber mit tollen Kinobildern und einer Wahnsinnsatmosphäre – das würde ich mir für hiesige Kinderfilme auch wünschen.
 

Nora Lämmermann ist Autorin und Dramaturgin vorrangig für Kinder- und Jugendfilme.

Simone Höft hat als Autorin und Regisseurin zahlreiche Projekte für das Kinderfernsehen realisiert und verfasst Konzepte, Dreh- und Synchronbücher für Trick- und Realserien sowie -filme.

Barbara Felsmann ist freie Journalistin mit dem Schwerpunkt „Kinder- und Jugendfilm“ sowie Autorin von dokumentarischer Literatur und Rundfunk-Features.