Der große Bruch
In Ihrem Buch dreht sich alles um Disruption. Was genau verstehen Sie darunter?
Ich verwende das Wort als Synonym für plötzliche Zerstörung und die Aufhebung alter Ordnungen. Der Begriff stammt aus der Evolutionsbiologie, wird heutzutage jedoch vor allem im Zusammenhang mit der digitalen Wirtschaft benutzt. Ich will mit meinem Buch zeigen, dass Disruption keine rein technologische Kategorie ist. Disruption ist vielmehr ein Phänomen unserer Zeit, einer Zeit, die sich nicht mehr inkrementell, also Schritt für Schritt entwickelt wie etwa in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. In vielen Bereichen spielen Traditionen keine Rolle mehr oder sind sogar hinderlich. Wir haben es also nicht mit einem Prozess, sondern mit einem abrupten und möglicherweise schmerzhaften Bruch zu tun.
Aber gab es technologische Umwälzungen nicht immer schon, von der Druckerpresse bis zur Dampfmaschine?
Diese Erfindungen haben Entwicklungen ausgelöst, die sich über einen langen Zeitraum hinzogen. Die digitale Beschleunigung erreicht jedoch auf einen Schlag alle Bereiche: Wirtschaft, Politik, Kultur und Freizeit. Zur Zeit der Industrialisierung konnte sich die Gesellschaft über Jahrzehnte auf die Veränderungen einstellen.
Sie haben für diesen Unterschied ein treffendes Bild gefunden: Fortschritt hieß früher, dass neue Gebäude auf alten Fundamenten errichtet worden sind; Disruption bricht dagegen mit der Vergangenheit. Inwiefern?
Lassen Sie mich das an einem Beispiel aus dem Finanzbereich erläutern, weil ich hier selbst Disruptor war. Die klassischen Industrien verwechseln Disruption und Digitalisierung. Bei der Disruption geht es jedoch nicht darum, bislang analoge Prozesse zu digitalisieren; hier wird vielmehr mit digitalen Möglichkeiten etwas völlig Neues geschaffen. In dieser Hinsicht grenzt sich Disruption auch von einer Revolution ab, die ja sehr wohl etwas Neues auf den Trümmern des Alten errichtet. Der Baustil mag sich von der früheren Epoche unterscheiden, aber das Handwerk und die Fortschritte der alten Baumeister sind genauestens studiert worden.
Und das ist heute anders?
Natürlich, denken Sie doch nur an die Automobilindustrie: Der Elektromotor ist alles andere als eine Weiterentwicklung des Verbrennungsmotors. Die klassische Ingenieurskunst der deutschen Autofertigung wird bei Fahrzeugen mit Elektroantrieb nicht mehr benötigt. So ähnlich verhält es sich auch in fast allen anderen Bereichen. Viele Menschen schnuppern gern an neuen Büchern. Früher haben sich Verlage u.a. tatsächlich auch über den Geruch ihrer Bücher und die Auswahl des Papiers definiert. So etwas spielt im Zeitalter des E-Books keine Rolle mehr.
Sie schreiben, das Zeitalter der Disruption habe gerade erst begonnen. Viele Menschen fühlen sich aber schon jetzt überfordert. Was kommt noch auf sie zu?
Die Coronakrise zeigt es: Wir erleben derzeit eine ganz merkwürdige Situation. Auf der einen Seite haben wir den Eindruck einer entschleunigten Phase. Ich spreche in diesem Zusammenhang vom „Nutella-Deutschland“. Wer das Glück hat, entspannt im Homeoffice arbeiten zu können, befindet sich in einem Zustand, wie er in der alten, beschützten BRD geherrscht hat: Wir verbringen viel Zeit mit unserer Kernfamilie, und um 20.00 Uhr schauen wir die Tagesschau. Das ist natürlich trügerisch, denn gleichzeitig erfährt der technologische Fortschritt durch die Krise eine dramatische Beschleunigung, wie sich z.B. an den vielen Videokonferenzen und den sprunghaft gestiegenen Umsätzen des Onlinehandels zeigt.
Wo ist das Problem? Wenn Videokonferenzen dazu führen, dass weniger geflogen wird, ist das doch ein Fortschritt.
Das stimmt. Aber ich mache mir Sorgen, dass wir als Gesellschaft auf diese Veränderungen nicht vorbereitet sind und stattdessen versuchen, einen längst nicht mehr möglichen Status quo zu bewahren. Ich vermisse den positiven Blick in die Zukunft. Die Politik suggeriert: „Wenn die Krise vorbei ist, wird alles wieder so wie früher.“ Warum formulieren wir es nicht andersrum und denken darüber nach, was wir wollen? Diese prospektive Sicht auf die Welt kommt mir viel zu kurz. Ja, wir haben möglicherweise Angst vor dieser disruptiven Zeit, und das ist auch verständlich, weil wir gerade in der westlichen Welt sehr von den letzten Jahrzehnten profitiert haben; aber der disruptive Bruch bietet auch die Chance, etwas Neues zu kreieren. Entsprechende Visionen sind in der Politik jedoch nicht zu erkennen.
Vor 200 Jahren sorgte die Romantik als Reaktion auf die Industrialisierung für eine Verklärung des Mittelalters. Erleben wir gerade mit der Sehnsucht nach einer vermeintlich guten alten Zeit und dem Aufschwung des Rechtspopulismus etwas Ähnliches?
Definitiv, und das beschränkt sich keineswegs allein auf die AfD. Viele aktuelle Begrifflichkeiten stammen aus der Vergangenheit, wenn jetzt z.B. ein neuer „Marshallplan“ für Europa gefordert wird. Auch die von vielen Politikern vermisste „Ordnungsmacht USA“ entstammt politischen Konzepten längst vergangener Zeiten. Genau das ist aber das Problem: Wir haben keine Idee von der Zukunft.
Sie stellen fest, die Disruption sei ohnehin nicht aufzuhalten, geschweige denn rückgängig zu machen. Deshalb sollen wir sie mitgestalten. Aber wie?
Erst einmal ist es wichtig, offen und neugierig zu sein. Wer Angst vor der Zukunft hat, kann sie nicht gestalten. Das ist weniger eine Frage des Alters als vielmehr eine Frage der Mentalität. Ich selbst habe zwar eine durchaus skeptische Haltung zur Digitalisierung, wenn ich mir beispielsweise die Polarisierung durch Social Media, die Gleichschaltung der Ästhetik oder die Dominanz einer Handvoll von Hyperunternehmen anschaue; trotzdem plädiere ich für einen kritischen Optimismus. Ich erlebe in meinem Umfeld Menschen, die gegenüber der Digitalisierung entweder völlig unkritisch sind oder in eine ideologische Abwehrhaltung verfallen. Ich empfehle den Mittelweg: Wir sollten die Routinen und Zwänge, die durch die Digitalisierung entstanden sind, infrage stellen und das Smartphone auch mal ausschalten. Der Weg in die Zukunft ist beschwerlich und kompliziert, weil man ständig abwägen muss. Aber wenn die Zeiten anspruchsvoll sind, müssen wir auch an uns selbst einen höheren Anspruch haben. Viele Menschen ziehen es jedoch vor, im bequemen Schwarz-Weiß-Denken zu verharren.
Sie verlangen unter Hinweis auf Goethes Zauberlehrling von der Politik, dass sie die Eigendynamik des Fortschritts zähmt. Wie soll ihr das gelingen? Ist sie nicht dazu verdammt, immer nur reagieren zu können?
Ich bin ein begeisterter Marktwirtschaftler. Trotzdem frage ich mich, ob es nicht an der Zeit ist, die kapitalistischen Dogmen der Industrialisierung im digitalen Zeitalter infrage zu stellen. Ich erwarte vom Staat, dass er die Interessen der Bürger gegenüber den digitalen Hypermonopolen verteidigt; da bin ich oldschool. Ich glaube an das Primat der Politik bis hin zur globalen Bürgergesellschaft. Schauen Sie sich doch nur an, welchen Einfluss Google und Apple auf die sogenannte Corona-App haben! Das ist ein dramatisches Zeichen dafür, dass wir in vielen Bereichen gar nicht mehr autonom handeln können.
Sie prognostizieren sogar eine politische Krise: Die Mehrheit könnte kippen, wenn die Politik nicht angemessen auf die disruptiven Herausforderungen reagiert. Ist das nicht übertrieben?
In allen westlichen Gesellschaften gibt es populistische Bewegungen, einige sind sogar erschreckend erfolgreich. Bei uns ist die gebildete und tendenziell eher liberal eingestellte Mittelschicht noch relativ resilient gegenüber solchen Strömungen. Ich lehne die AfD entschieden ab, doch ich halte sie für ein Korrektiv, das uns am Ende zu besseren Demokraten machen kann. Die Sicherheit der Mittelschicht und ihre damit verbundene Abgrenzung zur AfD können sich aber sehr schnell verändern, wenn sie eine kollektive Deklassierung erfährt, und diese Gefahr besteht durchaus. Die digitale Wirtschaft wird den Arbeitsmarkt extrem polarisieren. Auf der einen Seite wird es sehr gut bezahlte Angestellte im Technology-Bereich geben, Programmierer, Manager, Data-Analysten; auf der anderen Seite den Niedriglohnbereich. Die Angehörigen der bisherigen Mittelschicht aus dem alten „Nutella-Deutschland“ werden unter Druck kommen: Die einen finden keine Arbeit mehr, die anderen erleben eine kulturelle Deklassierung, weil ihre Arbeit nicht mehr so wertgeschätzt wird wie früher. Wenn sie sich dann auch noch ihr gewohntes Leben nicht mehr leisten können, besteht die Gefahr, dass sich diese Mehrheit frustriert von unserem Gesellschaftsmodell abwendet und die Mehrheit eben kippt.
Sie setzen große Hoffnungen in soziale Netzwerke als Medien der Aufklärung. Sind Facebook und Co. nicht eher Plattformen für Hass und Verschwörungstheorien?
Mittelfristig geht von Social Media in der Tat eine große Gefahr für unsere Gesellschaft aus. Gerade im Mediendiskurs können solche Plattformen aber auch ein Korrektiv sein. Wir führen heute viele Debatten, die es zu Zeiten des klassischen Journalismus nicht gegeben hätte. Bewegungen wie „Fridays for Future“ oder #MeToo wären ohne Social Media nicht möglich gewesen.
Alle Skandale der letzten Jahre sind aber nach wie vor durch klassische Medien aufgedeckt worden.
Das muss auch der Anspruch sein, den wir mit der digitalen Zeit verbinden. Derzeit befinden wir uns noch in einer Phase, in der vor allem niedrige Instinkte angesprochen werden, aber dafür darf man nicht das Medium verantwortlich machen. Jeder kennt die Erfahrung, dass es schwerer ist, einem anderen etwas ins Gesicht zu sagen, als es ihm zu schreiben. Deshalb machen es sich viele Menschen in ihrer Komfortzone bequem und greifen andere Leute an. Soll man dagegen mit Zensur und Verboten angehen? Ein Blick in die Geschichte zeigt: Alle neuen Technologien haben sich irgendwann zivilisiert, aber sie haben sich nie rückgängig machen lassen. Ich war selbst lange skeptisch gegenüber Facebook, bis ich 2014 im Iran erlebt habe, dass dieses Netzwerk für die Menschen dort das Fenster zur Welt ist.
Wir müssen also nur Geduld haben?
Ohne die Druckerpresse hätte Luther seine Gedanken nicht verbreiten können, aber es hätte auch den Dreißigjährigen Krieg nicht gegeben. Trotzdem hat der Buchdruck langfristig für Aufklärung, Information und Transparenz gesorgt; er war die Voraussetzung für die Zugänglichkeit von Wissen und Bildung. Eine ähnliche Entwicklung werden wir hoffentlich bei Social Media erleben. Ein erhebliches Problem sind allerdings die Monopolstellung und die daraus resultierende Dominanz einzelner Unternehmen. Deshalb plädiere ich dafür, wettbewerbspolitisch hart durchzugreifen, dass es Konkurrenzangebote gibt.
Oder dass die Konzerne zerschlagen werden?
Ja, im letzten Schritt auch das. Als Erstes fordere ich allerdings eine konsequente Besteuerung, als Zweites eine scharfe Regulierung, die die Anbieter zwingen würde, technische Schnittstellen zu öffnen. Zerschlagung würde in erster Linie die Rückabwicklung von Fusionen bedeuten; das Problem Facebook ist in Kombination mit Instagram und WhatsApp viel größer geworden.
Viele Menschen sehen dieses Problem überhaupt nicht.
Das hat damit zu tun, wie wir auf Daten schauen. Sehen wir Daten als öffentliches oder als privates Gut? Die Konzerne betrachten sie jedenfalls vor allem als ein Wirtschaftsgut, und die meisten Menschen überlassen Facebook, Google und Co. ihre Daten, ohne weiter darüber nachzudenken; und außerdem auch noch unentgeltlich.
Deshalb fordern Sie ein „Daten-#MeToo“. Wie soll das aussehen?
Die Frage ist ja: Warum tolerieren wir die Datenkraken? Shoshana Zuboff schreibt in ihrem Buch Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus von einer ständigen Übergriffigkeit, die sich irgendwann normalisiert habe. Hier sehe ich die Parallele zu #MeToo: Dort ging es ebenfalls um eine Übergriffigkeit, die Frauen und Männer irgendwann nicht mehr hinnehmen wollten. Deshalb müssen wir dringend auch die unterschwellig kultivierte Übergriffigkeit, die Facebook, Google u.a. ausüben, kritisch hinterfragen. Kritik gibt es natürlich schon, aber die findet vor allem im Feuilleton oder durch Netzaktivisten statt. Was wir brauchen, ist eine Mainstream-Bewegung.
Meist gibt es eine Galionsfigur, mit der solche Bewegungen identifiziert werden: Greta Thunberg steht für „Fridays for Future“. Wen sehen Sie an der Spitze des „Daten-#MeToo“? Wäre ein Weltstar wie Tom Hanks denkbar?
Greta Thunberg ist ein gutes Beispiel für die Heldenkultur unserer Zeit. Sie hätte sich in den 1990er-Jahren nicht als Anführerin einer derartigen Bewegung geeignet. Auch das ist eine Errungenschaft von Social Media: Außenseiter können zu Ikonen und Anführern einer sinnvollen Bewegung werden – und diese Entwicklung ist gut. Jemand wie Tom Hanks wird also eher nicht an der Spitze einer solchen Bewegung stehen. Die Initiative für ein „Daten-#MeToo“ muss ohnehin von der digital affinen Jugend ausgehen. Paradoxerweise hält sich diese Jugend für schwach, dabei ist sie so mächtig wie noch nie zuvor, weil sie die digitalen Medien auf ganz andere Weise beherrscht als die meisten Älteren. Eine junge Frau wäre als Role Model am besten geeignet.
Aber ist die Jugend beim Thema „Datenschutz“ nicht eher unkritisch?
Das ist richtig, die Älteren haben aus der analogen Tradition und ihrem Geschichtsbewusstsein heraus eine deutlich kritischere Haltung. Gerade deshalb müsste die Anführerin oder der Anführer einer „Daten-#MeToo“-Bewegung vor allem die eher unskeptische junge Zielgruppe ansprechen. Aber solche Bewegungen haben auch immer viel mit dem Momentum zu tun. #MeToo konnte nur funktionieren, weil eine Mehrheit sexuelle Belästigung nicht mehr als Kavaliersdelikt betrachtet, sondern als Machtmissbrauch.
Andreas Barthelmess (Foto: Oliver Betke)
Tilmann P. Gangloff (Foto: privat)