Desinformation als Bedrohung für die Demokratie

Vom Umgang junger Menschen mit Falschaussagen und Verschwörungserzählungen

Barbara Weinert im Gespräch mit Johanna Börsch-Supan

„Das Coronvirus gibt es nicht“– „Das Virus ist eine Erfindung von Bill Gates“. Viele Jugendliche und junge Erwachsene wurden im vergangenen Jahr regelmäßig mit solchen und ähnlichen Falschaussagen und Verschwörungserzählungen konfrontiert. Dabei fühlt sich ein Teil von ihnen im Umgang mit derartigen Fehlinformationen unsicher. Dies ist das Ergebnis einer Studie der Vodafone Stiftung Deutschland. tv diskurs sprach mit Dr. Johanna Börsch-Supan, Leiterin des Bereichs „Strategie und Programm“ bei der Vodafone Stiftung, über die Informationsbedarfe der Jugendlichen, die Rolle des deutschen Bildungssystems und die Notwendigkeit von Vertrauen in politische Institutionen und etablierte Medien.

Online seit 15.03.2021: https://mediendiskurs.online/beitrag/desinformation-als-bedrohung-fuer-die-demokratie/

 

 

 

Die Jugend in der Infodemie ist der Titel Ihrer aktuellen Studie. Werden junge Menschen tatsächlich mit so vielen Fehl- und Falschinformationen konfrontiert?

Den Begriff „Infodemie“ hat die Weltgesundheitsorganisation geprägt, um zu verdeutlichen, dass sich gerade während der Corona-Pandemie Fehlinformationen ebenso rasch und weltweit verbreiten wie das Virus selbst. Offenbar wird auch auf der Ebene internationaler Organisationen mit Sorge betrachtet, dass es in den letzten Monaten eine erhöhte Zahl von Falschmeldungen gab. Deshalb hat die Vodafone-Stiftung die Bezeichnung aufgegriffen. Wenn wir uns konkret die erhobenen Daten anschauen, können wir zwei Dinge beobachten: Zum einen sagen 76 % der 14- bis 24-Jährigen in Deutschland, dass sie mindestens einmal in der Woche mit Falschnachrichten konfrontiert werden. Wir haben diese Frage auch in den Jahren 2018 und 2019 gestellt und sehen, dass dieser Wert seit 2018 um 50 % gestiegen ist. Der Trend geht also eindeutig nach oben. Wir haben zudem abgefragt, ob es 2020 mehr Desinformation und Falschnachrichten gab, und auch hier antworteten 73 % mit einem „Ja“. Zum anderen – und das ist noch besorgniserregender – steigt die Kompetenz im Umgang mit Desinformation nur sehr langsam. Vor allem in Zeiten von Corona sagen die Jugendlichen, dass es ihnen sehr schwerfällt, zwischen glaubwürdigen und unglaubwürdigen Inhalten zu unterscheiden. Die Schere zwischen der Informationsmasse und dem Umgang damit macht es also problematisch.
 


76 % der 14- bis 24-Jährigen in Deutschland [sagen], dass sie mindestens einmal in der Woche mit Falschnachrichten konfrontiert werden.



Eine mögliche Ursache dafür liegt sicherlich darin begründet, wie Wissenschaft bzw. wissen­­­­schaftlicher Erkenntnisgewinn selbst funktioniert: Da existieren verschiedene Anschauungen nebeneinander, erste Erkenntnisse werden revidiert, andere weiterentwickelt. Hier zwischen falschen und richtigen Informationen zu unterscheiden, ist teilweise recht anspruchsvoll.

Genau, die Nachrichtenlage ist unübersichtlich und ändert sich beinahe täglich. Es handelt sich zudem um komplexe wissenschaftliche Erkenntnisse, die oft nicht einfach zu erklären sind. Und wir haben bisher noch nie als ganze Nation – oder sogar als gesamte Weltbevölkerung – quasi live verfolgt, wie Wissenschaft zu einem Thema, das uns alle betrifft, neue Erkenntnisse generiert. Der wissenschaftliche Prozess findet unter der Lupe der Öffentlichkeit statt, die mit der Arbeitsweise der Forschung aber gar nicht vertraut ist. Zudem wurden 2020 nicht nur die Corona-Pandemie, sondern auch viele andere Themen durch die Wahl in den USA extrem politisiert. Donald Trump hat das Mediengeschehen lange Zeit durch Desinformation dominiert und dadurch zusätzlich Unsicherheit hineingebracht. Und als dritten Punkt darf man nicht außer Acht lassen: Die Pandemie geht mit handfesten Einschränkungen unserer Freiheiten einher. Wenn man Menschen in ihren Freiheiten einschränkt oder angreift, ist es sehr viel leichter, Unzufriedenheiten über vermeintlich einfache Erklärungen zu schüren.

In den erhobenen Daten zeigt sich jedoch auch, dass es ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber den etablierten Medien gibt.

Dieser Punkt hat mich tatsächlich nachdenklich gestimmt. Auf die Frage, mit welchen gesellschaftlichen Gruppen oder mit welchen Medien Desinformationen assoziiert werden, wurden eben auch klassische Medien genannt. Dabei sind die Medien der Kern dessen, was unsere Demokratie ausmacht, die vierte Säule der Macht. Ich glaube, das müssen wir gut im Auge behalten. Bei aller Erklärbarkeit, warum die Lage im Moment unübersichtlich ist, müssen wir ganz gezielt daran arbeiten, Vertrauen in die Institutionen und in die Medien aufzubauen. Das Besorgniserregende ist eine gewisse Müdigkeit und Unsicherheit, die sich auch gegenüber Mainstreammedien zeigt, ob hier korrekt berichtet wird.

Die Kompetenz im Umgang mit Informationen scheint Ihrer Studie zufolge vor allem eine Frage des Bildungshintergrundes zu sein.

Ja, das zieht sich leider durch viele Bereiche in Deutschland, und das haben wir auch hier noch einmal gefunden. Grob gesagt lässt sich zusammenfassen: Je höher der formale Bildungshintergrund, desto sicherer fühlen sich junge Menschen im Umgang mit Desinformation. Es wurden konkret einige Falschaussagen zur Corona-Pandemie abgefragt, und je höher der Bildungsstand war, desto eindeutiger konnten die Befragten diese auch identifizieren. Ein Beispiel: „Das Coronavirus gibt es gar nicht.“ 5 % derer, die einen hohen formalen Bildungsabschluss haben, sind sich unsicher gewesen, ob diese Meldung wahr oder falsch ist, aber es waren 22 % mit (angestrebtem) niedrigem formalen Bildungsabschluss, die sich hier unschlüssig waren. Da gibt es also eine wahnsinnige Spaltung auf der Grundlage des Bildungshintergrundes. Zudem gibt es die Tendenz, dass dieses Thema an Gymnasien viel häufiger und gründlicher besprochen wird als an anderen Schulformen.
 


Wenn man Menschen in ihren Freiheiten einschränkt oder angreift, ist es sehr viel leichter, Unzufriedenheiten über vermeintlich einfache Erklärungen zu schüren.



Falschinformationen haben 2020 im Zuge der Corona-Pandemie sicherlich einen Boom erlebt, aber im Grunde existieren sie seit Menschengedenken. Warum zeigt sich im Bildungssystem da eine solche Lücke?

Wir haben schon viel darüber nachgedacht, was hier eigentlich an der Institution Schule fehlt. Ich glaube, einerseits hat sich gar nicht so viel verändert, weil es – wie Sie sagen – Desinformation, Propaganda und falsch aufgesetzte Quellen gibt, seitdem Menschen Dinge aufschreiben. Es gibt schon immer komplexe Zusammenhänge, die man analysieren und in simplere Worte zusammenfassen muss. Und es ist auch schon immer ein grundsätzlicher Teil der Schulausbildung gewesen, den Schülerinnen und Schülern beizubringen, verlässliche Quellen zu suchen und Texte auf Informationsgehalt zu analysieren. In meinen Augen ist es egal, ob das analog oder digital ist. Der Unterschied im Digitalen ist sicher die Geschwindigkeit: Alles ist weitaus schneller, dezentraler und unübersichtlicher. Plötzlich können Informationen innerhalb weniger Minuten oder Stunden Auswirkungen auf das private und öffentliche Leben haben. Meiner Meinung nach brauchen Schulen hier ein Update, weil sie auf die Lebenswirklichkeit ihrer Schülerinnen und Schüler in solch einer digitalen Informationsumgebung reagieren müssen.

Was genau wünschen sich die jungen Menschen in diesem Kontext?

Ich denke, im Wesentlichen brauchen junge Menschen Orientierungshilfen, um zu verstehen, wie das System aussieht, das sie umgibt, und um zu lernen, wie sie darauf reagieren können. Wir haben die Jugendlichen in der Studie auch danach gefragt, welche Form von Unterstützung sie sich wünschen. Über alle Bildungs- und Altersgruppen hinweg wollen sie besser verstehen, wie die Algorithmen hinter sozialen Medien funktionieren und wie die persönlichen Daten genutzt werden. Es ist ganz wichtig, die Funktionsweise von sozialen Medien und Suchmaschinen zu kennen und zu verstehen, nach welcher Logik uns Informationen zugespielt werden oder Geschichten viral gehen. Wenn man das besser durchschaut, kann man auch verlässlicher einsortieren, ob es tatsächlich eine inhaltliche Relevanz hat. Zudem wollen die jungen Menschen konkrete Beispiele aus ihrem Leben oder dem Umfeld ihrer Freunde diskutieren und reflektieren. Das heißt, es besteht eine große Notwendigkeit, mit Kindern und Jugendlichen darüber zu sprechen, was sie jeden Tag sehen. Als dritten Punkt wurde der Wunsch nach Handwerkszeug genannt, um zum Beispiel zu überprüfen, ob es sich um eine Falschnachricht handelt. Wie kann ich auf Hassbotschaften reagieren? Wann zeige ich etwas an? Wie kann ich mich selbst schützen? Wie kann ich meine Daten sicher gestalten? All dies treibt junge Menschen um. Interessanterweise sagen sie auch, dass diese Inhalte nicht ins Elternhaus oder in den Freundeskreis, sondern in die Schulen gehören.

… alles sehr reflektierte und nachvollziehbare Wünsche.

Ja – und insgesamt sehen wir hier auch relativ wenig Panik, sondern einen recht offenen Umgang damit, wo Aufklärungsbedarf besteht und wo Unterstützung gewünscht wird. Wir haben es hier nicht mit einer Generation zu tun, die sagt: „Lass mich in Ruhe!“, sondern vielmehr mit einer Generation, die in Desinformation und Verschwörungserzählungen eine Bedrohung für die Demokratie sieht und lernen möchte, besser damit umzugehen.
 


Über alle Bildungs- und Altersgruppen hinweg wollen [die Jugendlichen] besser verstehen, wie die Algorithmen hinter sozialen Medien funktionieren und wie die persönlichen Daten genutzt werden.



Welche Impulse würden Sie auf der Grundlage der Studienergebnisse gern an Politik und Bildung weitergeben?

Ganz offensichtlich ist, dass es mehr Bildung und Aufklärung in diesem Bereich geben muss. Hier sind die Schulen ganz stark gefragt, aber auch außerschulische Lernorte oder zivilgesellschaftliche Projekte können eine Rolle spielen. Man kann aber auch von einer anderen Seite auf die Ergebnisse schauen: Wenn 81 % der Befragten sagen, dass die Verbreitung von Desinformationen eine Gefahr für unsere Demokratie ist, dann ist es aktuell eine wichtige Aufgabe der Politik sicherzustellen, dass der gesellschaftliche Diskurs – analog wie digital – funktioniert. Es muss gesprochen werden, nicht in vielen separaten Filterblasen, sondern miteinander. Regierungshandeln muss erklärt werden, um vorzubeugen, dass Unwahrheiten verbreitet werden, wenn unpopuläre Entscheidungen anstehen. Komplexe Themen müssen immer wieder evidenzbasiert erklärt und transparent gemacht werden. Ich glaube, dass diese Art der Kommunikation in die Bevölkerung hinein und mit der Bevölkerung extrem wichtig ist, um Vertrauen aufzubauen. Junge Erwachsene haben ein großes Interesse daran mitzugestalten und politisch aktiv zu sein, aber sie haben eben nicht das Gefühl, gehört oder eingebunden zu sein. Ich denke, dass sich Menschen auch Verschwörungserzählungen zuwenden, weil sie mit der Menge an Informationen überfordert sind, weil sie keine klare Orientierung haben und Unsicherheit verspüren. Wenn Politik mehr Klarheit schafft und eine Form von Informationssicherheit herstellen kann, sind das auch Wege gegen Desinformation. Insofern ist Bildung sehr wichtig, aber auch Politik muss klarer kommunizieren lernen, um eine Deutungshoheit und Vertrauen zu schaffen.

Dr. Johanna Börsch-Supan leitet den Bereich „Strategie und Programm“ bei der Vodafone Stiftung.

Barbara Weinert arbeitet im Bereich „Wissenschaftskommunikation“ an der Universität Passau. Sie war langjähriges Mitglied der tv-diskurs-Redaktion und schreibt heute als freie Autorin für das Magazin.