„Deutschland täte es gut, die globale Vernetzung mehr im Blick zu haben.“

Claudia Mikat im Gespräch mit Julia Pohle

Bedeutung und Image des Internets haben sich gewandelt. Vom Raum der Freiheit und Gleichheit ist das Netz in der Wahrnehmung vieler Menschen zu einem Medium der Manipulation und gesellschaftlichen Polarisierung geworden, das gesetzliche Regulierung braucht. Medienregulierung reagiert zunehmend national auf die Phänomene, der „europäische Weg“ scheint dagegen auf eine stärkere Aufsicht des globalen Internets zu setzen. tv diskurs sprach mit Dr. Julia Pohle, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) in der Forschungsgruppe „Politik der Globalisierung“ und Mitglied des Lenkungskreises des Internet Governance Forums Deutschland (IGF-D), über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft bei der Regulierung von Medien und dem Internet.

Printausgabe tv diskurs: 24. Jg., 2/2020 (Ausgabe 92), S. 36-39

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Medienregulierung findet immer mehr über Internetregulierung statt. Geht Medienpolitik heute in Digitalpolitik auf?

Nein, aber es gibt seit jeher Überlappungen. Zu Beginn der 2000er‑Jahre wurde in der Politik diskutiert, wie man mit dem Internet als Regulierungsgegenstand umgehen soll und ob es sich eher um eine Telekommunikations- oder eine Medientechnologie handelt. Es kam zu einer künstlichen Aufteilung in Medien- und Teledienste. Die einen wurden über die Medienregulierung der Länder geregelt, die anderen über die Kommunikationspolitik des Bundes – eine künstliche Zweiteilung der Internetdienste, die sich teilweise bis heute findet. Teile der Digitalpolitik sind auch Teil der Medienpolitik, vor allem die Regulierung der großen Plattformen oder von Medieninhalten im Internet. Die zwei Politikfelder verfolgen auch oft ein gemeinsames Ziel: den freien Kommunikationsraum im Internet für den Informationsaustausch und die demokratische Meinungsbildung zu schützen.

Die Bund-Länder-Zuständigkeit durchzieht Medien- und Digitalpolitik. Würden Sie die Kompetenzen lieber gebündelt sehen?

Es macht aus meiner Sicht Sinn, die Kompetenzen komplett beim Bund anzusiedeln und nicht aufzusplittern. Digitalisierung ist eine Querschnittsaufgabe, aber trotzdem muss es einen klaren Fluchtpunkt geben. Deshalb bin ich eine große Verfechterin der Idee eines nationalen Digitalministeriums. Momentan kocht jedes Ministerium seinen eigenen kleinen Digitalbrei und ordnet ihn den Prioritäten seines Politikfeldes, beispielsweise der Sicherheits- oder Bildungspolitik, unter. Wenn es ein Digitalministerium gäbe, würde das sicher zu Kompetenzgerangel mit den großen Ministerien führen. Aber dann könnte endlich das Gespräch darüber beginnen, was für ein Internet und welche Art von Digitalisierung wir in Deutschland wollen. Diese grundsätzliche Verständigung werden wir nicht erreichen, wenn wir die Diskussion digitaler Themen separat in jedem Ministerium und auch noch auf Länderebene führen.
 


Staatliche Regulierung muss versuchen, ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Interessen herzustellen. Sie muss abwägen, wann ein Recht schützenswerter ist als ein anderes.



Medienregulierung ist ein sensibles Handlungsfeld, weil Grundrechte aufeinandertreffen und miteinander in Konflikt stehen. Welche Funktion hat hier Regulierung?

Staatliche Regulierung muss versuchen, ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Interessen herzustellen. Sie muss abwägen, wann ein Recht schützenswerter ist als ein anderes. Regulierung muss Rahmen vorgeben, was erlaubt und verhältnismäßig ist, und die Einhaltung dieser Regeln auch kontrollieren. Es gibt im Digitalbereich viele Akteure, die das Ziel des freien Meinungsaustauschs vorspiegeln, in Wirklichkeit aber wirtschaftliche Interessen verfolgen. Hier darf es nicht dem Nutzer überlassen bleiben, die Interessen der Anbieter digitaler Dienste abzuwägen, sondern die Politik muss eingreifen und sicherstellen, dass bestimmte Rechte geschützt werden.

Sie sind Mitglied des Lenkungskreises des Internet Governance Forums Deutschland. Können Sie den Begriff „Governance“ kurz erklären?

Government und Governance sind zwei Modi der politischen Steuerung. Government ist die klassische hierarchische Steuerung durch die Regierungsorgane, also „top down“. Es werden verbindliche Regeln geschaffen und durchgesetzt. Governance ist ein viel weiterer Begriff, der den ganzen Komplex der Aushandlungs-, Koordinierungs- und Abstimmungsprozesse von zumeist unverbindlichen Regelungen umfasst. Daran sind nicht nur staatliche, sondern auch private und zivilgesellschaftliche Akteure beteiligt, die im Austausch miteinander Regeln nicht von oben herab, sondern eher „bottom up“ schaffen.
 


Government und Governance sind zwei Modi der politischen Steuerung.



Das globale Internet Governance Forum (IGF) ist wie seine nationalen Ableger ein Beispiel für eine Governance-Struktur und für den sogenannten Multi-Stakeholder-Ansatz: Wie kann man sich die Arbeit konkret vorstellen?

Das internationale Internet Governance Forum ist die weltweit größte Multi-Stakeholder-Konferenz zu Themen der Digitalpolitik und findet seit 2006 unter UN-Schirmherrschaft einmal im Jahr statt. Globale Akteure aus Politik, Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Technik kommen zusammen und tauschen sich über vorher festgelegte thematische Blöcke aus. Nationale Ableger des globalen Forums gibt es in vielen Ländern, sie funktionieren nach den gleichen Prinzipien: Es geht darum, ein offen zugängliches Forum für einen nicht hierarchischen Austausch über digitalpolitische Fragen zu schaffen.

Können Sie auch Einfluss nehmen?

Das IGF ist ein reines Diskussionsforum, es werden keine bindenden Entscheidungen ausgehandelt oder getroffen – und doch lässt sich Einfluss nehmen. Die Diskussionen, die beim IGF stattfinden, werden durchaus gehört und können Inspiration für spätere politische Entscheidungen sein. So hat Angela Merkel z.B. im vergangenen Jahr, als Deutschland das globale IGF in Berlin ausgerichtet hat, zum ersten Mal klare Aussagen darüber getroffen, wie wichtig es ist, trotz des Strebens nach digitaler Souveränität das globale Internet an sich zu schützen und nicht im nationalen Alleingang zur Fragmentierung des Regelwerkes beizutragen. Sie hat auch betont, wie wichtig es ist, neben den staatlichen Vertretern möglichst viele Akteure mit in die Entscheidungsfindung einzubeziehen. Solche Aussagen sind oft Lippenbekenntnisse, aber es war doch zumindest ein Statement, das so von hochrangigen deutschen Politikern bisher kaum zu hören gewesen war.

Was können staatliche Vertreterinnen und Vertreter aus den Diskussionsrunden im IGF konkret mitnehmen? Was können sie vom Governance-Ansatz lernen?

Man kann auf einem Internet Governance Forum mit vielen verschiedenen Stakeholdern neue Eindrücke von Interessenslagen bekommen und dabei z.B. erfahren, wie stark sich die globale Zivilgesellschaft weltweit für die gleichen Prinzipien und Werte einsetzt. Man lernt, dass es eine starke, gut vernetzte Bewegung gibt – vergleichbar mit der Klimabewegung, wenn auch kleiner –, die in vielen Ländern mit ähnlichen Problemen konfrontiert ist und diesen mit gleichartigen Wertvorstellungen begegnet wie wir hier. Internetpolitik in Deutschland wird leider oft sehr national gedacht, als ob das Netz an den deutschen Grenzen enden würde. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) von 2017 ist ein gutes Beispiel dafür. Da wurden Regelungen geschaffen, die nur für Deutschland gelten, ohne über die globalen Auswirkungen ernsthaft nachzudenken. Das NetzDG hat mittlerweile 13 Länder zu ähnlichen Gesetzen inspiriert, vor allem Autokratien, die es begeistert als Mittel zur Zensur übernehmen. Bei solchen Initiativen täte es Deutschland gut, über den eigenen Tellerrand zu schauen und die globale Vernetzung mehr im Blick zu haben.

Lange galt das Netz als Raum der Freiheit, heute wird eher betont, es sei kein rechtsfreier Raum. Warum hat sich die Haltung gegenüber dem Internet so stark verändert?

In den späten 1990er- und frühen 2000er‑Jahren war die Vorstellung eines freien und offenen Internets vorherrschend. Das galt es zu schützen. Dazu trugen auch die sozialen Netzwerke der großen digitalen Plattformen bei, indem sie offene Kommunikationsräume schufen. Die Tatsache, dass es einen digitalen Ort gab, um sich offen auszutauschen, war anfangs vor allem für Länder mit einem ansonsten stark kontrollierten und zensierten Mediensystem wesentlich. Der Arabische Frühling wurde aus diesem Grund oft irreführend als „Facebook-Revolution“ bezeichnet, was die Wirkkraft der sozialen Medien aber sicher überbetonte. Die Snowden-Enthüllungen im Jahr 2013 haben jedoch viele desillusioniert und zu einem Umdenken geführt. Die Notwendigkeit, das freie und offene Internet gegen staatliche oder wirtschaftliche Vereinnahmung zu verteidigen, war immer weniger überzeugend, denn es stellte sich auf einmal die Frage, ob es dieses freie Internet überhaupt noch gibt. Stattdessen wurde der Ruf lauter, dass der Staat die Rechte seine Bürgerinnen und Bürger im Digitalen stärker schützen solle – und zwar sowohl vor Unternehmen, die Daten sammeln, als auch vor ausländischen Geheimdiensten. Hinzu kamen Episoden, in denen eindeutig Manipulation und Desinformation über digitale Medien stattgefunden hat, z.B. die US-Präsidentschaftswahl oder die Brexit-Abstimmung in 2016. All das verstärkte den Wunsch der Nutzer nach mehr Schutz und führte auf staatlicher Seite zu der Einsicht, Verantwortung übernehmen zu müssen.

Die Snowden-Enthüllungen und der Cambridge-Analytica-Skandal haben deutlich gemacht, dass Staat oder Geheimdienste beim Datensammeln dieselben Methoden anwenden wie private Unternehmen. Wo sehen Sie Ihre Daten lieber, bei einem Wirtschaftsunternehmen oder dem Staat?

Das kommt darauf an, mit welchem Interesse die Akteure agieren. Wenn ich sie denn überhaupt hergeben muss, würde ich hier in Deutschland meine Daten eher dem Staat anvertrauen, weil ich davon ausgehe, dass sich der Staat dem Gemeinwohl verpflichtet sieht. Bei Unternehmen, die ein rein wirtschaftliches Interesse haben, habe ich nicht so viel Vertrauen. Das kann sich aber, wie wir in vielen Ländern gesehen haben, aufgrund der politischen Situation auch schnell ändern.

Setzt der „europäische Weg“ mit der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) im Gegensatz zum Liberalismus der USA auf mehr Staat und auf stärkere Aufsicht des globalen Internets?

Absolut. Europa stellt in dieser Hinsicht einen Gegenpol zu den USA dar. Es lassen sich unterschiedliche Wertigkeiten beobachten. In den USA ist Freedom of Expression und die Freiheit des Einzelnen das höchste Gut, in Europa steht eher der Schutz der Privatsphäre oder des kollektiven Gemeinwohls im Vordergrund. Tatsächlich vertrauen wir in vielen europäischen Ländern dem Staat deutlich mehr, als es in den USA der Fall ist, wo die Menschen mehr sich selbst und dem Markt vertrauen und staatliche Regulierung generell recht negativ bewerten.

Aber das kann sich natürlich auch in Europa mit jeder Wahl und dem Vorrücken der Populisten ändern. In Deutschland ist der Schutzgedanke gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern sehr stark ausgeprägt, gerade was den Datenschutz betrifft. Das hat mit der deutschen Geschichte zu tun, mit der Erfahrung durch zwei Diktaturen innerhalb der letzten 100 Jahre. Während der Staat in Deutschland daher viel mehr den Auftrag hat, auch die individuellen Rechte der Bürger zu schützen, sind andere europäische Länder wie z.B. Frankreich viel etatistischer und zentralisierter. Dem Staat werden dort Eingriffe erlaubt, die der deutsche Föderalismus nicht zulassen würde.

Ist zu befürchten, dass der deutsche Staat seinen Schutzwillen unbotmäßig ausdehnen könnte?

Die Ideen und Regelungen, inwieweit der Staat in Krisensituationen, wie der aktuellen Coronapandemie, auf die Kommunikations- und Bewegungsdaten der Bürger zugreifen können sollte, zeigen, dass man stets den Anfängen wehren muss. Das Gute ist, dass es hier in Deutschland grundsätzlich sehr kritische Reaktionen der Zivilgesellschaft gibt, sobald sich der Staat bestimmte Kompetenzen erlaubt.

Was brauchen wir für eine grundrechtsorientierte digitale Transformation?

Wir brauchen vor allem eine stärkere Regulierung der Internet-Intermediäre, wobei mehr auf deren wirtschaftliche Interessen geschaut werden müsste, anstelle zu versuchen, die negativen Konsequenzen ihrer Geschäftsmodelle auszugleichen. Momentan werden die digitalen Plattformen in die Pflicht genommen, Fehlentwicklungen zu korrigieren und z.B. bestimmte Inhalte zu löschen. Das ist auch sinnvoll. Aber dass diese Inhalte, auch Desinformation oder Hassrede, überhaupt dort auftauchen und sich so wahnsinnig schnell verbreiten können, liegt an dem zugrunde liegenden Geschäftsmodell.
 


Wenn die Verpflichtung zu einer sachlichen und ausgeglichenen Berichterstattung in Regulierung gegossen würde, wäre das ein Schritt in die richtige Richtung.



Wie ließe sich das Geschäftsmodell regulieren?

Im Prinzip muss das ganze Geschäftsmodell hinterfragt werden: Will unsere demokratische Gesellschaft es zulassen, dass Geld damit verdient wird, möglichst gut vorauszusagen, was bestimmte Nutzer sehen wollen, und sie konstant damit zu füttern – egal, was es ist? Wollen wir das nicht, müssen die Firmen ihr Modell grundrechtskonformer gestalten, ohne dadurch bankrott zu gehen. Es gibt positive Beispiele, denken Sie an den Umgang mit Informationen zu Corona. So arbeiten derzeit die großen Plattformen heftig daran, Falsch- und Paniknachrichten zu blocken, zu löschen oder ihnen objektivere, von öffentlichen Medien verfasste Sachbeiträge gegenüberzustellen. In diesem Fall kommt die Initiative von den Plattformen selbst, aber wenn die Verpflichtung zu einer sachlichen und ausgeglichenen Berichterstattung in Regulierung gegossen würde, wäre das ein Schritt in die richtige Richtung. Ein anderer Weg wäre, die Verbreitung von Inhalten einzuschränken, indem man Nachrichten nicht über eine bestimmte Anzahl hinaus weiterleiten darf. Whats-App erprobt das seit einiger Zeit.

Der Ansatz des NetzDG ist also verfehlt?

Das NetzDG ist nicht komplett verfehlt. Es ist schon richtig, dass Falschnachrichten und Hassrede gelöscht werden müssen. Aber das Gesetz geht einerseits in vielerlei Hinsicht zu weit. Die Entscheidung über die Löschung von Inhalten unter Zeitdruck sollte nicht allein in die Verantwortung von Unternehmen gelegt werden, weil das zu übermäßigen Löschungen führen könnte. Andererseits greift das Gesetz zu kurz, weil es z.B. bei strafrechtlich relevanten Inhalten nicht ausreicht, diese zu löschen – sie sind auch strafrechtlich zu verfolgen. Dazu braucht es aber eine institutionalisierte Zusammenarbeit mit den staatlichen Behörden. Der Versuch, Inhalte durch Filtern oder Löschen zu regulieren, ist eine Sisyphusarbeit, die schon aufgrund der Menge kaum zu bewältigen sein wird.

Lässt sich der Gegensatz zwischen globalem Netz und nationalstaatlicher Regulierung sinnvoll auflösen?

Nein. Das wäre so, als würde man die Spannung zwischen Globalisierung und nationalen Wirtschaftsinteressen auflösen wollen. Aber man könnte bei Regulierungsansätzen die globale Dimension der digitalen Vernetzung stärker in den Blick nehmen. Das wäre ein Anfang.

Dr. Julia Pohle ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) in der Forschungsgruppe „Politik der Globalisierung“ und Mitglied des Lenkungskreises des Internet Governance Forums Deutschland (IGF-D).

Claudia Mikat ist Geschäftsführerin der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).