„Die Demokratie muss jeden Tag gepflegt werden!“

Barbara Weinert im Gespräch mit Andre Wilkens

Die Gründungsväter der Europäischen Union verfolgten ein Ideal: ein vereintes Europa des Friedens und des Wohlstandes. Heute, mehr als 65 Jahre nach dem Beginn der wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit der europäischen Länder scheint nationalstaatliches Denken vielerorts wieder an erster Stelle zu stehen. Der Politikwissenschaftler Andre Wilkens liefert jetzt mit seinem neuen Buch Der diskrete Charme der Bürokratie. Gute Nachrichten aus Europa einen interessanten Beitrag zur Europa-Debatte. tv diskurs sprach mit ihm über die „Idee Europa“ und den Anteil der Medien am positiven oder negativen Bild der EU.

Online seit 04.05.2017: https://mediendiskurs.online/beitrag/die-demokratie-muss-jeden-tag-gepflegt-werden/

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In meiner Facebook-Timeline wurde mir vor Kurzem ein Zitat von Hans-Dietrich Genscher aus dem Jahr 2015 angezeigt: „Die Zukunft ist Europa. Eine andere haben wir nicht.“

Da stimme ich absolut zu! Für mich ist klar: Die Europäische Union ist alles andere als perfekt, vieles funktioniert nicht, und es gibt sicherlich wahnsinnig viel zu meckern. Nichtsdestotrotz ist es immer noch das Beste, was wir in Europa bisher hinbekommen haben. Früher war Europa der Mittlere Osten der Welt, wo Konflikte schnell in Gewalt und Kriege ausuferten, die sich tief ins nationale Bewusstsein und die europäische Geschichte eingegraben haben. Seit Gründung der EU bekommen wir das viel zivilisierter auf die Reihe. Einige der Verordnungen, die Bürokraten auf europäischer Ebene verabschieden, sind durchaus ulkig, aber ehrlich gesagt, ist es mir viel lieber, dass sich Bürokraten über die Krümmung von Bananen und Gurken Gedanken und meinetwegen Verordnungen machen, als dass wir uns mit Soldaten bekriegen.

Nationalstaatliche Gedanken sind derzeit wieder en vogue. Woran liegt das? Verlieren die Grauen des Zweiten Weltkrieges über die Jahre an Wirkkraft oder handelt es sich um eine Art Demokratiemüdigkeit?

Ich glaube, an all diesen Themen ist etwas dran. Tatsächlich gibt es eine gewisse Müdigkeit. Wir haben eine recht lange Strecke erlebt, in der es immer aufwärts ging und man sich um strukturelle Dinge eigentlich nicht kümmern musste. Die Zeit, in der alles besser wurde, ohne dass sich jemand wirklich dahintergeklemmt hat, ist aber schon seit ein paar Jahren vorbei. Es ist kein Selbstläufer mehr, sondern die Demokratie muss jeden Tag gepflegt werden, und wir müssen uns ganz deutlich vor Augen führen, welches Leben wir ohne Demokratie, Rechtsstaat und EU führen würden.

Ist die europäische Idee für viele vielleicht zu abstrakt, um sich tatsächlich mit ihr identifizieren zu können?

Das hängt meiner Meinung nach ganz davon ab, wie man Geschichten erzählt und Narrative bildet. Ich habe mir vor Kurzem noch einmal die Geschichte der Schweiz angeschaut und wie sich der Bundesstaat in einem Zeitraum von über 800 Jahren hinweg gebildet hat – eine wirklich lange Zeit. Die Kantone haben noch immer eine sehr starke Identität, trotzdem gibt es die Schweiz als Konstrukt mit einer gemeinsamen Außen- und Handelspolitik, große Entscheidungen werden gemeinsam getroffen. Wenn sich die Schweizer im Ausland befinden, sind sie Schweizer. Im Inland haben sie die Identität ihrer Kantone. Das ist doch ein gutes Beispiel. Wir leben in einem digitalen und globalisierten Alltag, warum sollte da gerade Europa zu abstrakt sein?

Das sehen jene, die nationalstaatliche Ideen verfolgen, ganz anders …

Natürlich gibt es Tendenzen und Menschen, die zurück zur nationalstaatlichen Ordnung streben und postulieren, dass früher alles besser gewesen sei. Ich finde, dagegen muss man sich positionieren und sagen: „Nein, früher war eben nicht alles besser.“ Im Gegenteil, früher war vieles sogar schlechter. Wir haben uns die ganze Zeit bekriegt. Wir waren Chauvinisten und religiöse Fanatiker. Ich jedenfalls bin stolz darauf, was wir als Europäer geschafft haben. Deshalb habe ich auch das Buch Der diskrete Charme der Bürokratie geschrieben. In den letzten Jahren hat sich ein „Europa schafft sich ab“-Narrativ aufgebaut, dem ich etwas entgegensetzen will. Dass wir uns selbst in eine Art Spirale von „Nichts geht mehr“ hineinreden, finde ich unpassend und falsch. Genau deshalb wollte ich ein antizyklisch optimistisches Buch schreiben. Natürlich gibt es Probleme, aber Probleme sind eben da, um gelöst zu werden. Ich habe mich dafür entschieden, optimistisch zu sein. Denn mit Optimismus bekommt man mehr hin – zum Beispiel dass 2017 das Wendejahr wird, in dem die Europäer erkennen, dass die EU eine Sache ist, die man schützen, gut pflegen und weiterentwickeln muss. Dieses Buch verknüpft die Geschichte Europas mit meiner persönlichen Geschichte. Ich bin in der DDR aufgewachsen und wollte nach dem Mauerfall unbedingt raus in die Welt. Schließlich war ich 20 Jahre in Europa unterwegs und habe in Belgien, Großbritannien, in der Schweiz und in Italien gelebt und gearbeitet. Ich möchte diese Erfahrungen und diese Freiheit keinesfalls missen.

Sie sagten, dass es mehr positive Narrative zur EU geben müsste. Sehen Sie hier auch die Medien in der Verantwortung, die doch vorrangig über Missstände der europäischen Institutionen und Verfehlungen des politischen Personals berichten?

Ich will keinesfalls Medien-Bashing betreiben, aber ich habe schon das Gefühl, dass es gute Nachrichten in den Medien schwer haben. „Bad news are good news.“ Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es viel leichter ist, eine spektakuläre schlechte Geschichte zu verkaufen, als eine darüber, dass vieles doch auch ganz gut funktioniert. Faktisch und historisch gesehen haben wir ein friedliches und wohlhabendes Europa, aber wenn man in die Medien schaut, hat man manchmal den Eindruck, wir stehen kurz vor dem Untergang. Ich jedenfalls fühle mich da oftmals nicht repräsentiert.

In Amerika erleben wir derzeit, dass Präsident Donald Trump all jene Meldungen der Qualitätsmedien, die ihm nicht passen, als „Fake News“ bezeichnet. Was bedeutet ein solcher Glaubensverlust der Presse für eine Demokratie, in der sie doch als vierte Gewalt gilt?

Dies sind doch relativ typische Methoden eines Antidemokraten – oder zumindest eines Menschen, der die Demokratie beschädigen will. Der Angriff auf die freien Medien und die Eliten allgemein ist eine Strategie, die wir aus der Geschichte ja bereits kennen. Er betreibt damit im Grunde eine Gleichschaltung der Gesellschaft auf seine Agenda. Wir werden sehen, wie sich die Dinge weiter entwickeln. Für den Moment finde ich, dass sich die Medien in den USA dem Trump-Druck entgegenstellen. Die Abozahlen der New York Times zum Beispiel sind angestiegen, weil die Menschen sich sagen, wenn wir so einen Typen als Präsidenten haben, brauchen wir die unabhängigen Medien dringender als jemals zuvor. Vielleicht „brauchen“ wir diese Art von postfaktischer Gefahr, um uns bewusst zu werden, warum wir freie und professionell arbeitende Medien dringend benötigen und dass eine Öffentlichkeit gepflegt werden muss.

Andre Wilkens ist studierter Politikwissenschaftler und hat viele Jahre für Stiftungen, die EU und die UNO gearbeitet.

Barbara Weinert ist Redakteurin der tv diskurs.