Die deutsche „Sesamstraße“ wird 50

Dieses Jubiläum ist aller Ehren wert. Viel wichtiger als der runde Geburtstag der deutschen Version von Sesame Street, die erstmals am 8. Januar 1973 zu sehen war, ist jedoch ihre Bedeutung für das hiesige Kinderfernsehen: Die Reihe hat damals in den Redaktionen für einen Paradigmenwechsel gesorgt; und sie hat Kindern eine Stimme gegeben.

Online seit 06.01.2023: https://mediendiskurs.online/beitrag/die-deutsche-sesamstrasse-wird-50-beitrag-1122/

 

 

In einer der Sendungen, die der NDR anlässlich des Jubiläums produzieren ließ, erzählt die Schauspielerin Meltem Kaptan (Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush), Sesamstraße habe ihr ein Leben gezeigt, wie sie es sich als Migrantenkind gewünscht habe: „Jeder ist unterschiedlich, aber es funktioniert.“ (ARD 2023) Die deutschen Beiträge waren schon früh von sozialem und emotionalem Lernen geprägt. Heutzutage geht es, kindgerecht verpackt, regelmäßig um Themen wie Klimawandel, Geschlechterrollen, Ernährung, Diversität, Leben mit Behinderung; und um den Tod.

Das war in den ersten Jahren noch anders. Die Produktionsfirma Children’s Television Workshop (CTW) ist 1968 gegründet worden, um Kinder aus ethnischen Minderheiten zu fördern, weshalb in den Spielszenen viele afro-amerikanische Schauspieler mitwirkten. Am Anfang des Konzepts stand die Frage: Wie kann man Kindern aus bildungsfernen Schichten zu mehr Chancengleichheit verhelfen? Das Konzept basierte nicht zuletzt auf der Erkenntnis, dass die junge Zielgruppe die Melodien von Werbespots besser behielt als den Inhalt des eigentlichen TV-Programms. Also hatte man beim CTW die Idee, auf ähnliche Weise das ABC zu vermitteln.
 

Maßnahme gegen die „Bildungskatastrophe“

Als Sesame Street 1970 in München beim Prix Jeunesse vorgestellt und ausgezeichnet wurde, löste die Sendung einen Paradigmenwechsel aus, auch hierzulande. Die Bundesregierung unterstützte den Import mit drei Millionen D-Mark; die Reihe sollte helfen, die damals konstatierte „Bildungskatastrophe“ (Paus-Haase 1995) abzuwenden. Deutsche Kinder waren die ersten außerhalb der USA, die mit Ernie, Bert, Grobi und dem Krümelmonster Freundschaft schließen durften. 1971 liefen die ersten Folgen in den dritten Programmen von NDR und WDR, allerdings noch im Original. Vor allem der Bayerische Rundfunk wehrte sich vehement gegen den Ankauf und eine Ausstrahlung im ersten Programm, weshalb die synchronisierten Versionen ab Sommer 1972 nur in einigen „Dritten“ zu sehen waren. 1973 gab es die ersten deutschen Beiträge in Form von Spielszenen, für die im Lauf der Zeit viele bekannte Schauspieler gewonnen werden konnten; in den Anfangsjahren unter anderem Liselotte Pulver, Henning Venske, Uwe Friedrichsen, Horst Janson oder Manfred Krug, später Dirk Bach, Annette Frier oder Adele Neuhaus. Die Gästeliste liest sich bis heute wie ein Who’s who des deutschen Fernsehens.
 

50 Jahre Sesamstraße (tagesschau, 06.01.2023)



Unumstritten war die Reihe jedoch nicht, weil die Lebensumstände in Deutschland natürlich ganz andere waren als in den USA. Maya Götz sieht das völlig anders. Im mediendiskurs-Gespräch über Sesamstraße sagt die Leiterin des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (eine Tochter des BR), die Reihe sei nicht nur „wegweisend für die Geschichte des Kinderfernsehens in Deutschland gewesen, sondern geradezu revolutionär.“ Sesamstraße war, wie die Kommunikationswissenschaftlerin Ingrid Paus-Haase 1995 in Hans-Dieter Erlingers Handbuch des Kinderfernsehens schrieb, „das magische ‚Sesam-öffne-dich’ des Vorschulbooms“ (Paus-Haase 1995, S. 177 f.). Bis dahin sei man überzeugt gewesen, „dass Fernsehen für Kinder unter sechs Jahren Auslöser physischer und psychischer Schäden sein könnte“. Aber nun habe eine andere Maxime gegolten: „Jedes Kind kann bei der geeigneten Methode jeden Stoff lernen; es ist nicht, was es ist, sondern was es lernt.“ (Ebd.)
 

Elterliche Kindheitserinnerungen

Bei der Zielgruppe kam Sesamstraße auf Anhieb gut an: weil die Kinder die Puppen verehrten. Dass die Reihe nach wie vor funktioniert, hat ähnlich wie bei der 1971 gestarteten Sendung mit der Maus viel mit elterlichen Kindheitserinnerungen zu tun: Wer sich einst selbst für die Klassiker begeistert hat, schaut sie heute gern mit den eigenen (Enkel‑)Kindern. Das belegen auch die fünf nach Jahrzehnten sortierten Jubiläumssendungen, in denen der NDR neben Kaptan unter anderem Bernhard Hoëcker, Wotan Wilke Möhring, Ingo Zamperoni oder Bülent Ceylan ein Wiedersehen mit den Stars ihrer Kindheit ermöglicht: Der nostalgische Effekt ist nicht zu übersehen.

Wie der KiKA auf Anfrage mitteilt, erreicht die Sendung bei den Vorschulkindern Spitzenwerte von fast 75 %. Allerdings war bereits wenige Jahre nach dem Start klar, dass die Reihe die in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllen könnte: Es profitierten vor allem Kinder, die ohnehin die besseren Bildungsvoraussetzungen hatten (Paus-Haase 1995). Ausgerechnet das erst verteufelte und dann zum Heilsbringer erkorene Fernsehen sorgte dafür, dass die Bildungsunterschiede noch größer wurden.

Quellen:

ARD: Video 50 Jahre Sesamstraße: Die 2010er. In: Das Erste, 08.01.2023. Abrufbar unter: https://www.daserste.de

Paus-Haase. I.: Vom Sesam-öffne-Dich des Vorschulbooms hin zur guten alten Tante des Kinderfernsehens der 90er Jahre. Die wechselvolle Geschichte der Sesamstraße. In: H. D. Erlinger (Hrsg.): Handbuch des Kinderfernsehens. Konstanz 1995, S. 177 ff.
 

Weitere Informationen:
NDR: 50 Jahre deutsche Sesamstraße – Jetzt wird gefeiert! In: www.ndr.de, 30.12.2022.