Die Geschichte des Internetfernsehens

Joan K. Bleicher

Hamburg 2023: Avinus
Rezensent/-in: Christian Richter

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 1/2024 (Ausgabe 107), S. 86-87

Vollständiger Beitrag als:

Die Geschichte des Internetfernsehens

Da die Forschungslandschaft bisher nur verschiedene Desiderate hervorgebracht habe, sei „eine wirklich umfassende Analyse der Geschichte des Internetfernsehens erforderlich“ (S. 19), behauptet die Medienwissenschaftlerin Joan Kristin Bleicher in der Einleitung zu ihrem Band. Mit dem Vorhaben, diese identifizierte Lücke zu füllen, setzt sie sich ein ambitioniertes Ziel, das sie selbstbewusst in einem kompakten Umfang von netto 180 Seiten umzusetzen versucht. Eine solche Analyse könne – so Bleicher – die Grundlage für weitere Studien zum Internetfernsehen in der Gegenwart und Zukunft liefern.

Unter dem Begriff „Internetfernsehen“ fasst sie „für das Internet produzierte und/oder online verbreitete Bewegtbildangebote, die Einflüsse etablierter Ordnungsmodelle, Angebotsschwerpunkte und Ausdrucksformen des traditionellen Fernsehens aufweisen“ (S. 9 f.). Damit folgt sie Knut Hickethiers Plädoyer, Mediengeschichte „als Geschichte der Medien im Zusammenspiel des Medienverbunds, der Mediensysteme“ (S. 35) zu beschreiben.

Ihre Definition schafft einen vielschichtigen und umfangreichen Forschungsgegenstand, der sich von High-End-Netflix-Produktionen über Webcam-Aufnahmen, YouTube-Vlogs bis hin zu Reels auf Instagram spannt und einen Großteil der aktuellen Phänomene der Digitalkultur einschließt. Bleicher löst diese Herausforderung, indem sie auf das Erstellen einer umfassenden Chronik verzichtet und ihre Analyse der Geschichte in Dutzende Entwicklungslinien zerlegt. Diese Linien rekonstruieren z. B. den Wandel des Fernsehens vom Massenmedium (Broadcast-Medium), das ein breites Publikum erreicht, hin zu einem fragmentierten Angebot aus spezialisierten Angeboten für dezidierte Teilpublika (Microcasting). Sie beschreiben aber auch Tendenzen einer Monopolisierung des Bewegtbildmarktes sowie eine voranschreitende Abkehr von einem linearen Programmfluss zugunsten einer Bereitstellung von Bibliotheken, in denen Inhalte zum zeitsouveränen Abruf vorgehalten werden. Es sind Linien, die mal die Entstehungsgeschichte von einzelnen Anbietern (Google, YouTube, Instagram, Netflix u. a.), mal die vorgenommenen Regulierungen des Marktes (z. B. durch das Kartellamt), mal die unterschiedlichen Geschäftsmodelle von Angeboten (Aufkommen von Influencer:innen etc.), mal ästhetische oder inhaltliche Ausdifferenzierungen (z. B. das Herausbilden von bestimmten Genres) und mal gesellschaftliche Bewegungen (etwa die Durchsetzung von Amateurvideos, Bürgerfernsehen oder Videokunst) in den Fokus rücken.

Bleicher versammelt also genau jene Desiderate, die die Forschungslandschaft bisher hervorgebracht hat, und reiht sie gut strukturiert nacheinander auf. Der Band nimmt letztendlich die Form eines Mosaiks an, dessen einzelne Fragmente erst in ihrer Gesamtheit ein vollständiges Bild ergeben. Das Zusammensetzen jedoch ist von den Lesenden selbst zu erbringen, denn die einzelnen Bewegungen werden nebeneinander und getrennt voneinander rekonstruiert. Sie offenbaren sich konsequent als nachgelagerte Wellenbewegungen zu den Transformationsprozessen, die das Fernsehen zuvor durchlaufen hat. Die Ausdifferenzierung des digitalen Internetfernsehens gerät zur einseitigen, evolutionären Fortschreibung einer zuvor analogen Welt. Nur selten wird ein umgekehrter Effekt des Internetfernsehens auf das traditionelle Fernsehen und somit eine komplexe Korrelation verfolgt oder werden die einzelnen Linien miteinander in Beziehung gesetzt. Erst im Fazit auf den letzten Seiten scheint kurz durch, in welcher Widersprüchlichkeit, Verstärkung, Ergänzung oder Gegenläufigkeit die einzeln betrachteten Linien zueinander stehen, und dass sich die Ausdifferenzierung des Internetfernsehens oft genau in einer solch komplexen Wechselwirkung vollzieht. Stärker ausleuchten ließe sich zudem die Frage, welchen Beitrag Such-, Empfehlungs- oder Monetarisierungsalgorithmen, die in den Programmierungen der Plattformen wirken, bei der Durchsetzung einzelner Angebote, Inhalte oder Genres leisten.

Dennoch legt Bleicher ein gewissenhaftes Werk vor, das alle relevanten Quellen des Diskurses akribisch zusammenführt und zentrale Felder der Entwicklung systematisch abarbeitet. Die große Stärke des Buches liegt in seiner Kompaktheit, die einen schnellen Überblick erlaubt und einen leicht zugänglichen Einstieg in die Thematik bietet.

Durch ihr Vorgehen, die Geschichte des Internetfernsehens entlang der Historisierung seiner einzelnen Facetten nachzuzeichnen, schließt Bleicher nahtlos an eine Feststellung an, die Judith Keilbach einst über das Fernsehen getroffen hat. Diese hielt „die Geschichte des Fernsehens für unerreichbar“ und schlug stattdessen vor, „Geschichten, in denen seine Vielfalt berücksichtigt und seine Heterogenität offensichtlich wird“, zu erzählen (Keilbach 2005; S. 38, H. i. O.). Weil Bleicher genau dies für netzbasierte Bewegtbildangebote leistet, wäre es ebenso stimmig gewesen, für den Titel ihres Buches den Plural und damit die Formulierung „Die Geschichten des Internetfernsehens“ zu wählen.

Dr. Christian Richter

 
Literatur:

Keilbach, J.: Die vielen Geschichten des Fernsehens. Über einen heterogenen Gegenstand und seine Historisierung. In: montage AV, 1/2005/14, S. 38