Die Integration von Geflüchteten als Aufgabe des Fernsehens

Melanie Baxter

Melanie Baxter wurde 2018 für ihre Masterarbeit Informieren und Integrieren: Die Aufgabe des Kinderfernsehens in der Flüchtlingskrise (Universität Passau, Lehrstuhl für Medienpädagogik) mit dem wissenschaftlichen Nachwuchspreis MEDIUS ausgezeichnet.

Als Leitmedium der 6- bis 12-Jährigen in Deutschland kann das Fernsehen einen bedeutenden Beitrag zur Integration von Flüchtlingen in der Bundesrepublik leisten. Welche Inhalte sich einheimische und geflüchtete Kinder wünschen und welche sie brauchen, um die jeweils andere, fremde Kultur kennen- und verstehen zu lernen, konnte in einer von der Autorin durchgeführten Befragung ermittelt werden.

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 2/2019 (Ausgabe 88), S. 10-14

Vollständiger Beitrag als:

Seit dem Frühsommer 2015 ist die Flüchtlingsthematik mit all ihren Aspekten aus der medialen Berichterstattung nicht mehr wegzudenken: vom Kriegsgeschehen in Syrien und dem Irak oder islamistischen Terroranschlägen in Europa, von Schlepperbanden und den zahlreichen Opfern der Flucht über das Mittelmeer bis hin zur politischen Debatte um Integration, Abschiebungen und Grenzpolitik. Nicht nur das erwachsene Publikum hat einen enormen Informationsbedarf zu all diesen Themen. Auch Kinder machen sich inmitten von Willkommenskultur und Fremdenfeindlichkeit eigene Vorstellungen von den Ereignissen. Sie haben Fragen und verstehen manches, was passiert oder diskutiert wird, falsch oder gar nicht. Daraus können sich Verunsicherung, Ängste und Vorurteile entwickeln.
 


Als Leitmedium der 3- bis 12-Jährigen in Deutschland (vgl. MPFS 2017, S. 43) ist es Aufgabe des Fernsehens, die junge Zielgruppe beim Verstehen der sehr komplexen Thematik zu unterstützen und die Bildung von Vorurteilen und Ängsten zu minimieren. Genauso kann Kinderfernsehen auf der anderen Seite einen bedeutenden Beitrag zur Integration von Kindern mit Fluchthintergrund leisten, indem es sie über das Leben in Deutschland informiert und sie bei der Identitätsfindung unterstützt.

Unter den Asylantragstellern im zugangsstärksten Jahr 2015 waren 31,1 % Kinder unter 18 Jahren (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2016, S. 21). Sie müssen lernen, sich in ihrem neuen Lebensumfeld zu orientieren, sie stehen vor der Herausforderung, ihre Identität zwischen zwei sehr unterschiedlichen Kulturen zu finden.

Um beide Rezipientengruppen bestmöglich aufklären und medienpädagogischen Einfluss auf die Integration nehmen zu können, wurde in einer qualitativen Befragung von Kindern bzw. Jugendlichen mit und ohne Fluchthintergrund deren Informationsbedarf ermittelt. Es wurden zum einen 30 Kinder bzw. Jugendliche mit Fluchthintergrund im Alter zwischen 6 und 16 Jahren befragt. Sie wurden dazu angeregt, von ihrer Wahrnehmung und ihrem Wissen über Deutschland zu erzählen. Zum anderen berichteten 102 Kinder zwischen 6 und 12 Jahren ohne Fluchthintergrund entsprechend von ihrem Wissen über die Flüchtlingsthematik und ihren Assoziationen dazu (keine repräsentative Stichprobe).
 

 

Angekommen in Deutschland – Eindrücke der Flüchtlingskinder

Die Studienergebnisse zeigen, dass Kinder mit Fluchthintergrund kein Faktenwissen über Deutschland besitzen. Stattdessen berichten sie von ihren Erfahrungen: In Deutschland herrschen allgemein bessere Lebensbedingungen als in ihren Heimatländern. Dabei beziehen sie sich vor allem auf die Tatsache, dass im Gegensatz zu Syrien, Afghanistan und dem Irak kein Krieg herrscht und sie in ihrem Alltag keine oder kaum Gewalt erleben. Sie fühlen sich hier in Sicherheit.

Der 15-jährige Afghane Ziad* schätzt es sehr, dass „man sich hier frei bewegen [kann], ohne irgendwie Angst haben zu müssen“. Außerdem gebe es hier niemanden, der einen „mit Gewalt unter Druck setzt“. Die 15-jährige Kurdin Genna erzählt, wie sie im Irak als Jesiden durch den IS verfolgt und misshandelt worden sind. Sie und ein Teil ihrer Familie seien nach Deutschland geflüchtet, da hier Menschenrechte gelten.

Neben Sicherheit und Frieden schätzen die Kinder die verbindlichen Regeln und Gesetze, aus welchen ein respektvolles Miteinander und mehr Freiheiten für jeden Einzelnen resultieren. Mohammed (13, Syrien) erklärt, es gebe auch in Syrien Regeln, doch würde sich im Gegensatz zu Deutschland niemand daran halten. Für Nadim (14, Syrien) zählt zu den geltenden Regeln, dass man in Deutschland auch als Ausländer mit Respekt behandelt werde und Rechte habe. Im Libanon habe er zuvor starke Diskriminierung erlebt.

Das respektvolle Miteinander in Deutschland nennt eine große Mehrheit der Kinder. Auch Ayasha (14, Syrien) schätzt die geordneten Abläufe in Deutschland: „[Ü]berall wo sie hingeht, gibt es irgendwelche Regeln, die das Leben regeln“. Das Mädchen bewertet das sehr positiv; vor allem, dass Kinder nicht geschlagen werden dürfen und dass Frauen in Deutschland dieselben Rechte zustehen wie Männern. Ausnahmslos alle Mädchen berichten davon, dass sie in Deutschland mehr Rechte und Möglichkeiten haben als noch in ihrer Heimat: Sie dürfen hier in die Schule gehen, Fahrrad fahren, schwimmen, Sport machen und mit Jungen zusammen spielen.

Die Kinder verknüpfen mit Deutschland außerdem bessere Bildungs- und Berufschancen und damit Perspektiven für ihre Zukunft. Die Schule wird von den Kindern ausnahmslos äußerst positiv bewertet. Bassam, ein 15-jähriger Syrer, der nie lesen und schreiben gelernt hat, schätzt die Schulpflicht in Deutschland sehr: In Syrien habe niemand kontrolliert, ob ein Kind in die Schule kommt oder nicht. Er selbst konnte nicht in die Schule gehen, da er seinen Vater beim Geldverdienen unterstützen musste. Nicht nur für ihn ist die Schule ein Ort, der mit Hoffnungen auf ein gutes Leben und einen guten Beruf verbunden ist.
 

 

Informationsbedarf der Kinder mit Fluchthintergrund

Bemerkenswert ist, dass all diese Aspekte, die Flüchtlingskinder mit Deutschland verknüpfen, in der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und dem Grundgesetz festgeschrieben sind. Dazu zählt nicht nur das Gleichheits- und Antidiskriminierungsgebot des Grundgesetzes, das die Basis eines respektvollen, gleichberechtigten Miteinanders ist, sondern auch die diversen Freiheiten, die Bürgern darin zugesichert werden, wie Meinungs- und Religionsfreiheit sowie das Recht auf freie Entfaltung. Willkür- und Gewaltherrschaft sind in unserer Demokratie ausgeschlossen und die Gewaltenteilung bildet die Basis für ein faires Rechtssystem. Das wiederum führt zu geringem Gewaltpotenzial, zu Sicherheit und Frieden. Zwar konnten die Kinder die genannten Merkmale ausmachen, sie wissen jedoch nicht, dass diese unmittelbar mit der deutschen Kultur in Verbindung stehen. Sie stellen stattdessen die Frage, warum es in Deutschland „so gut und schön ist“  – eine sehr komplexe Fragestellung, so banal sie im ersten Moment klingt.
 

 

Möglichkeiten des Fernsehens, Integration, Toleranz und kulturelles Lernen zu fördern

Das Fernsehen hat das Potenzial, diese komplizierten Themen, Zusammenhänge und Hintergründe audiovisuell, kindgerecht und anschaulich aufzubereiten. Denn nur wenn die Flüchtlingskinder das Wertesystem in Deutschland verstehen, können sie sich im neuen Kulturraum erfolgreich integrieren und handlungsfähig sein. Eine unmittelbare Gegenüberstellung der deutschen und der Heimatkultur ist dabei zu vermeiden: Den Kindern darf nicht vermittelt werden, es gäbe die „gute“ und die „schlechte“ Kultur, denn das kann zu Desintegration, Radikalisierung oder psychischen Problemen führen (vgl. von Klitzing 1984, S. 143). Inhaltlich ist für geflüchtete Kinder eine Anlehnung der TV-Inhalte an den Heimat- und Sachkundeunterricht an Grundschulen sinnvoll, dessen Lehrplan nicht nur die Vermittlung von Faktenwissen, sondern auch von Kultur und Werten vorsieht. In Bayern „bietet [dieser] vielfältige Gelegenheiten, die Schönheit der Natur, die Einzigartigkeit jedes Menschen, die Vielfalt und den Wandel in unserer Gesellschaft zu erleben sowie einen Grundbestand an möglichen Werten zu erkennen.“ (Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung 2017) Viele geflüchtete Kinder beginnen aufgrund ihres Alters ihre schulische Laufbahn in der Mittelschule. Auch dort werden sie zwar in Geschichte, Politik, Geografie und Sozialem unterrichtet, doch fehlen ihnen notwendige Kenntnisse aus der Grundschule.
 

 

Der Informationsbedarf von Kindern ohne Fluchthintergrund

Zwar stehen einheimische Kinder nicht vor der Herausforderung, sich als Minderheit in einer neuen Gesellschaft zurechtzufinden, trotzdem ist kulturelles Lernen für sie genauso wichtig, um ihre Toleranz zu fördern: Informative Sendungen über die Heimatländer und -kulturen der Flüchtlingskinder sind für sie relevant, um sich mit dem Fremden vertraut zu machen und die Verhaltensweisen der Flüchtlingskinder zu verstehen. Diese Sendungen sind auch für die Flüchtlingskinder wichtig, die sich so in den deutschen Medien repräsentiert fühlen. Bei der Produktion solcher Inhalte ist es essenziell, Menschen mit Fluchthintergrund einzubeziehen: Aus der Perspektive der Mehrheit über eine Minderheit zu erzählen, würde das gewünschte pädagogische Ziel verfehlen.

Außerdem sollten Geflüchtete nicht als Opfer von Krieg, Gewalt und Schicksalsschlägen dargestellt werden. Wie die Datenauswertung gezeigt hat, beläuft sich das Interesse der Kinder ohne Fluchthintergrund auf die geflüchteten Menschen in ihrer Rolle als Flüchtling – auf das Kriegsgeschehen in den Heimatländern, die erlittenen Verluste und auf die Flucht. Das Fernsehen hat hier das Potenzial, die Geflüchteten aus ihrer Opferrolle zu heben und Flüchtlingskinder als „ganz normale Kinder“ mit Hobbys und Talenten darzustellen. Das ist auch insofern wichtig, als sich die Flüchtlingskinder selbst nicht bemitleidenswert und in eine Opferrolle gedrängt, sondern sich stattdessen als gleichwertige Mitmenschen akzeptiert fühlen.

Für Kinder ohne Fluchthintergrund ist es außerdem wichtig, nochmals deutlich den Unterschied zwischen Flüchtlingen, Menschen mit dunkler Hautfarbe und Terroristen aufzuzeigen, um der Bildung von Stereotypen und Vorurteilen entgegenzuwirken. Zwar sind sie Flüchtlingen gegenüber allgemein sehr positiv gesinnt, die Interviews haben jedoch gezeigt, dass hier noch große Missverständnisse bestehen. Da die einheimischen Kinder sehr häufig die dunklere Hautfarbe der Flüchtlinge angesprochen haben, sei an dieser Stelle allgemein auch für mehr Multikulturalität im deutschen Fernsehen plädiert: Eine dunklere Hautfarbe sollte für die Kinder in Deutschland heutzutage nichts Bemerkenswertes sein.
 

 

Informationsvermittlung über mediale Vorbilder, Zeichentrickfiguren und Social Media

Zahlreiche Medientheorien belegen, dass das Fernsehen zur sozialen Orientierung genutzt wird. Sympathische Figuren aus beiden Kulturräumen eignen sich hervorragend, um beide Zielgruppen einander näherzubringen – vor allem dort, wo aufgrund von sprachlichen Barrieren oder anderen Hemmschwellen keine direkte Interaktion passiert.

Durch parasoziale Interaktion mit Fernsehfiguren kann eine erste Annäherung stattfinden und eine Vertrauensbasis geschaffen werden. Positive Rollenvorbilder und Beispiele gelungener Integration dienen beiden Zielgruppen als Orientierungshilfe. Solche Identifikationsfiguren können vor allem Flüchtlingskindern aufzeigen, wie sie sich im neuen Kulturraum zurechtfinden und mit einer hybriden kulturellen Identität glücklich werden können.

Gerade für Flüchtlingsmädchen scheint dies sehr wichtig zu sein, nachdem so viele von ihnen die Rechte und die Rolle der Frau in der deutschen Kultur angesprochen haben. Für geflüchtete Jungen, die sich teilweise sogar negativ zu der Stellung der Frau in Deutschland geäußert haben, ist es umso wichtiger, sich damit auseinanderzusetzen. Da sie sich laut der Studie verstärkt für Fußball und Autos interessieren, können die Themen verknüpft und ihnen z.B. über eine Fußballerin oder eine Kfz-Mechatronikerin die Gleichstellung der Geschlechter nähergebracht werden.

Die Befragung hat außerdem ergeben, dass die Kinder vor allem empfänglich für Inhalte mit Zeichentrickfiguren sind und sich gut über die Plattformen YouTube und Facebook erreichen lassen. Diese werden von beiden Zielgruppen gleichermaßen häufig genutzt und haben nicht nur den Vorteil, dass die Inhalte on demand zur Verfügung stehen und mithilfe von Untertiteln Sprachbarrieren durchbrechen können. Sie bieten über die Kommentarfunktion außerdem die Möglichkeit Fragen zu stellen, an moderierten Diskussionen mit Experten teilzunehmen oder sich Ratschläge zu holen. Die Aufbereitung von audiovisuellen Inhalten speziell für den Schulunterricht ist ebenfalls empfehlenswert, da auch hier die Möglichkeit, besteht, anschließend miteinander zu diskutieren. Dabei kann gerade die positive Einstellung der Flüchtlingskinder gegenüber der Schule zur Förderung ihres kulturellen Lernens genutzt werden.
 

Anmerkung:

* Um die Anonymität der Befragten zu gewährleisten, wurden die Namen der Kinder verändert.

 

Literatur:

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Das Bundesamt in Zahlen 2015. Asyl, Migration und Integration. Nürnberg 2016 (letzter Zugriff: 18.02.2019)
Klitzing, K. von: Psychische Störungen bei ausländischen Arbeiterkindern. In: H. Kentenich/P. Reeg/K.-H. Wehkamp: Zwischen zwei Kulturen. Was macht Ausländer krank? Berlin 1984, S. 143 – 156
MPFS (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest): KIM-Studie 2016. Kindheit, Internet, Medien. Basisstudie zum Medienumgang 6- bis 13-Jähriger in Deutschland. Stuttgart 2017 (letzter Zugriff: 18.02.2019)
Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung: LehrplanPLUS. Fachprofil Heimat- und Sachunterricht. München 2017 (letzter Zugriff: 22.02.2019)