Die mediale Konstruktion der Wirklichkeit

Eine Theorie der Mediatisierung und Datafizierung

Nick Couldry, Andreas Hepp

Wiesbaden 2023: Springer VS
Rezensent/-in: Hans-Dieter Kübler

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 1/2024 (Ausgabe 107), S. 88-89

Vollständiger Beitrag als:

Die mediale Konstruktion der Wirklichkeit

1966 veröffentlichten Peter L. Berger und Thomas Luckmann ihr gemeinsames Werk Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit und begründeten mit diesem „meistgelesenen“ Buch (S. 8) in der Nachfolge von Max Webers verstehender Soziologie und von Alfred Schütz’ Konzept der „Lebenswelt“ über die Sozialphänomenologie hinaus eine Theorie der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit, die sie auch als Wissenssoziologie verstanden wissen wollten. Zum 50. Jubiläum der Publikation, also 2016, greifen die beiden Medienwissenschaftler Nick Couldry (London) und Andreas Hepp (Bremen) dieses analytische „Grundanliegen“ erneut auf, nicht, um Berger und Luckmann „nachzubessern oder umzudeuten“ (ebd.), sondern um für die aktuelle gesellschaftliche Situation zu ergründen, wie Kommunikation und Medien in die Alltagswelt eingebettet sind, noch umfassender: wie Wirklichkeit heute nahezu gänzlich medial konstruiert ist. Denn erstaunlicherweise streifen die beiden Vorgänger Medien nur an einer Stelle recht kursorisch, obwohl in den 1960er-Jahren die Massenmedien, zuletzt das Fernsehen, schon weitverbreitet waren.

Die deutsche Ausgabe des Buches von Couldry und Hepp folgt erst jetzt dem englischen Original. Für die aktuelle gesellschaftliche Situation verwenden die beiden Autoren den Terminus der „tiefgreifenden Mediatisierung“ (S. 48 ff., S. 274 ff.), der als sogenannter „Metaprozess“ alle medialen, digitalen, konnektiven, organisatorischen und kommerziellen Dimensionen umfassen soll. Theoretisch streben sie eine „materialistische Phänomenologie der sozialen Welt“ an (S. 11), um sowohl materielle als auch symbolische Einflussdimensionen der Medien analytisch zu erfassen. Als weitere soziologische Referenz reklamieren die beiden Autoren vor allem das Spätwerk von Norbert Elias mit seiner Kategorie der „Figuration“, mit der sich das „komplexe Problem von Interdependenzen“ sowie „Folgen technologischer Medienvermittlungsprozesse“ als Antriebe des sozialen Wandels erfassen lassen (S. 15).

Mit diesem theoretisch-analytischen Rüstzeug, zu dem viele sozial- und medienwissenschaftliche Theorien und Befunde profund und umfassend einbezogen werden, konzipieren Couldry und Hepp die aktualisierte, weitgehend mediatisierte Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit, wobei sie sich der unausweichlichen Abstraktion der sozialen Verhältnisse und Ungleichzeitigkeiten in einer differenzierten Welt durchaus bewusst sind.

Im ersten Teil werden die verschiedenen Beziehungsebenen zwischen dem „Sozialen“, der „Kommunikation“ und den „Medien“ definiert und freigelegt. Nach einer grundlegenden Reflexion über die soziale Welt als kommunikative Konstruktion wie als „Raum der Relationalität“ (S. 82) werden sodann vier „Mediatisierungsschübe“ als „grundlegender qualitativer Wandel der Medienumgebungen“ (S. 54) – nämlich Mechanisierung, Elektrifizierung, Digitalisierung und zuletzt Datafizierung – identifiziert, die in besagter „tiefgreifender Mediatisierung“ und in einer enormen „Medienmannigfaltigkeit“ (S. 48, S. 68 ff., S. 72 ff.) kumulieren. Der zweite Abschnitt befasst sich mit Implikationen der Medienvermittlung des Sozialen als Bausteine der Alltagserfahrung: Genannt werden als Dimensionen der sozialen Welt, die nur analytisch zu trennen sind: erstens Räume, die als soziale nicht nur materiell existieren, sondern durch Interaktionen, Medien und Netzwerke als Translokalitäten konstituiert werden; zweitens Zeit, die als objektive wie subjektive, soziale wie individuelle von technologiebasierter Kommunikation geprägt, beschleunigt und verdichtet wird und so Erfahrungen der permanenten Unmittelbarkeit und Erreichbarkeit generiert, und drittens Dateninfrastrukturen und vernetzte Plattformen, die das soziale Wissen mittels Technologien und Algorithmen materialisieren und es in Datenbanken externalisieren.

Im dritten Teil werden sogenannte Agencys, also Handlungsoptionen oder Praktiken, für verschiedene soziale Aggregationen erörtert, in denen Mediatisierungen wirksam werden: beim sogenannten Selbst etwa durch mediatisierte Sozialisation, Selbstreferenz und ‑monitoring, bei durch Medien geprägte Kollektivitäten als „sinnhafte Figurationen“ (S. 215) wie etwa Publika, Fan- und Onlinegruppen, aber auch Peergroups, Familien, pluralisierte Öffentlichkeiten, Foren, Bewegungen, Plattformen und „Brand Communities“ (S. 227 ff.) sowie – noch allgemeiner – bei diversen Organisationen und politischen Institutionen durch datafizierte soziale Ordnungen, die womöglich Konsensformen durch zwanghafte kommunikative Interdependenzen, durch Steuerung und Kontrolle überformen.

Als Fazit formulieren die Autoren ihre Absicht, für die „tiefgreifende Mediatisierung“ und Datafizierung, die nicht ohne Widersprüche und Spannungen auf allen Ebenen des sozialen Lebens auskommen, für den Wandel zur „medialen Konstruktion der Wirklichkeit“ wachsam machen zu wollen (S. 272). Und wenn daraus „Widerstand gegen diesen Trend“ erwächst, empfänden sie dies als „erfreulich“ (S. 273). Denn am Ende stehen gewichtige Fragen wie: Ist unser Zusammenleben, das immer stärker durch technologische und medienvermittelte Prozesse bedingt ist, nachhaltig? Ist es zumindest mit dem Aufrechterhalten guter Interdependenzbeziehungen vereinbar (S. 16)?

Antworten darauf fallen unweigerlich vorläufig aus. Aber womöglich ist dies auch eine Überforderung einer sozialwissenschaftlichen Analyse, die profund und kompetent, wenn auch vorzugsweise abstrakt, enorm konzentriert und daher nicht leicht zugänglich, häufig auch mit dem Anspruch des allein validen Paradigmas, eine soziologische Tradition aktualisiert und damit für die zeitgenössische Medien- und digitale Welt eine symptomatische Theorie der Konstruktion sozialer Wirklichkeit eindrucksvoll weiterführt.

Prof. i. R. Dr. Hans-Dieter Kübler