„Die Menschen halten es nicht aus, nur sie selbst zu sein.“
Woher stammt der Begriff „Metaverse“, zu Deutsch „Metaversum“?
Viele Begriffe technologischer Innovationen haben ihren Ursprung in der Science-Fiction-Literatur. So taucht auch das „Metaversum“ zum ersten Mal im Roman Snow Crash von Neal Stephenson auf, der 1992 erschienen ist. Der Autor beschreibt damit eine computergenerierte Welt, in der Menschen Zeit verbringen, Kontakte knüpfen, arbeiten und spielen können. Die Hauptfigur des Romans, Hiro Protagonist, hat über eine Brille und eine Internetverbindung Zugang zum Metaverse. Man sieht, dass sich an der Hauptidee bis heute wenig verändert hat. Will man das Metaversum noch präziser fassen, helfen drei Kriterien, die u. a. der Philosoph David J. Chalmers in seinem Buch Reality+ anführt: Es ist ein virtueller Raum, d. h. ein Raum, der technisch erstellt wird, der immersiv sowie interaktiv ist. Die Immersion ist dabei besonders wichtig, auch wenn wir darauf schauen, wo die Entwicklung des Metaversums hingeht. Man muss das Gefühl haben, dass man sich wirklich in der Welt befindet.
Eine Virtual-Reality-Brille macht noch kein Metaverse.
Wie informieren Sie sich über aktuelle News rund um das Metaversum?
Besonders empfehlen kann ich den Podcast Into the Metaverse von Bloomberg. Am Anfang jeder Folge wird die, wie ich finde, sehr gute Frage gestellt: Was ist das Metaverse nicht? Fast alle Gäste pochen darauf, dass das Metaversum keine einzelne Hardware ist. Klipp und klar gesagt also: Eine Virtual-Reality-Brille macht noch kein Metaverse. Diesen Gedanken finde ich erhellend, weil auch Metaversen denkbar sind, die wir z. B. über wandgroße LED-Bildschirme in unseren Wohnräumen erfahren können. Hier kommen wir zurück zu den drei Kriterien: Wodurch die virtuell erstellte Welt erzeugt wird, wie sie interaktiv und immersiv ist, ist egal. Das kann durch VR-Brillen oder andere Geräte passieren. Das Metaverse ist eine Idee, die auf die verschiedensten Arten mit Leben gefüllt werden kann.
Sie sprechen vom Metaversum als Idee. Können Sie das noch weiter ausführen?
Ein gelingendes Metaverse vermittelt das Gefühl, dass ich in dieser Welt existiere. Ich erlebe alles um mich herum als meine tatsächliche Umgebung, die zwar unabhängig von mir ist, mit der ich aber interagieren kann. Anders als in anderen Medien wie Film oder Literatur bin ich nicht nur Beobachter, sondern als Avatar mittendrin. Spannend an dieser Stelle ist übrigens auch, dass der Begriff „Avatar“ eigentlich ein religiöser ist. Wenn Götter wie Zeus in Mythen auf der Erde wandeln, tun sie dies in irdischer Gestalt: als Avatar. Von dort aus kann man also sehen, dass wir uns durch das Metaverse sicherlich auch einer Form des Hochmuts hingeben. Wir sind die Schöpfer von Welten.
Nicht Mark Zuckerberg?
Sicherlich glaubt er das. Allerdings wird die Kollaboration mit Usern für das Gelingen des Metaversums zentral sein. Ob es nun das von Meta ist oder von anderen Unternehmen. Wer glaubt, dass sich eine Welt top-down erschaffen lässt, hat Web 3.0 nicht verstanden und verkennt darüber hinaus, wann sich ein Gefühl von Präsenz einstellt. Dann nämlich, wenn unsere Umwelt etwas mit uns zu tun hat. Und das ist eher der Fall, wenn wir an ihrem Entstehen mitgewirkt haben.
Werbevideo Breaking down the metaverse (Meta, 02.11.2021)
Das Gefühl, in einer anderen Welt zu sein, entsteht ja auch bei Tagträumen. Könnte man sagen, dass Tagträume eine Vorform des Metaversums sind?
Tagträume sind natürlich nicht digital produziert. Immersiv und interaktiv sind aber viele von ihnen. Ganz in diesem Sinne ist es auch kein Zufall, dass im Roman Neuromancer von William Gibson, einem anderen wichtigen Buch der Science-Fiction-Literatur, der Cyberspace als „gemeinschaftliche Halluzination“ beschrieben wird. Es gibt zahlreiche Überschneidungen zwischen Traum und VR bzw. dem Metaverse, was sich nicht zuletzt an der Farbigkeit zahlreicher Anwendungen zeigt. Vieles ist bunt wie wilde Träume. Wenn das Metaversum allerdings eine Nebenrealität neben unserer analogen Existenz werden soll, muss es sich in einem wichtigen Punkt von Halluzinationen und Träumen unterscheiden: Es darf nicht nur eine desorientierende Ausflucht vor der Realität sein.
Eine philosophische Grunderkenntnis besteht darin, dass es zum Wesen des Menschen gehört, sich und seine Welt ständig neu zu erschaffen. Warum brauchen wir diese neue Welt? Welches Grundbedürfnis steht dahinter?
Philosophisch gesprochen halten die Menschen es nicht aus, nur sie selbst zu sein. Kulturgeschichtlich gesprochen suchen wir schon immer nach möglichen Ausflüchten, sei es im Rausch, sei es in religiösen Zeremonien. Das ist der Grund, warum wir Karneval feiern. Man kann andere Identitäten ausprobieren. Ich glaube, dass gelingende Metaversen in Zukunft Spielplätze für die Frage: „Wer bin ich?“ sein können. Viele Menschen haben Persönlichkeitsanteile, die sie in ihrer analogen Existenz nicht gänzlich ausleben wollen. Aber im Metaversum kann sich jeder in gewisser Weise selbst erproben und so vielleicht näher zu sich kommen.
Das Metaverse darf nicht nur eine desorientierende Ausflucht vor der Realität sein.
Die Soziologen sagen zu diesem karnevalesken Identitätsspiel: Das ist ein wichtiger gesellschaftlicher Katalysator. Könnte man das vielleicht auch so beschreiben?
Der Philosoph Friedrich Nietzsche geht in eine ganz ähnliche Richtung, wenn er von der apollinischen und dionysischen Natur des Menschen spricht. Auf der einen Seite strebt der Mensch nach Form, Regelung und Ordnung, wofür der griechische Gott Apoll Pate steht. Und auf der anderen Seite braucht er die Überschreitung, den Rausch, den Exzess. Hierfür steht der griechische Gott des Weines Dionysos. Laut Nietzsche ist nur in diesem Zusammenspiel eine vollständige Existenz möglich. Wenn die Macherinnen und Macher des Metaversums sich diese beiden Seiten bewusst machen und Anwendung für Form- und Spieltrieb gleichermaßen finden, werden wir auch dort Menschen im vollumfänglichen Sinne sein können.
Welches Kernversprechen ist mit dem Metaversum verbunden?
Die Vorstellungen von Meta und dem geplanten Metaversum sind stark von den Eindrücken der Pandemie inspiriert. Mark Zuckerbergs Präsentation von Metas Vorstellung des Metaversums, die man im Netz finden kann, lese ich als eine Antwort auf die unendlichen Stunden in ermüdenden Videokonferenzen. Zuckerberg betont nicht umsonst immer wieder Begriffe wie „Gegenwart“ und „Gefühl eines geteilten Raumes“. Seine Hoffnung sind Arbeits- und Spielumgebungen, die sich begehen und erleben lassen. Man soll in die Anwendungen des Unternehmens eintauchen, wie man auch in der analogen Welt von Ort zu Ort geht. Zudem soll der eigene Horizont natürlich erweitert werden. Meetings auf Raumstationen, Treffen mit Menschen, die am anderen Ende der Welt wohnen.
Lassen Sie uns über die Frage nach dem rechtlichen Rahmen für das Metaversum sprechen. Kann man diesen überhaupt schon abstecken, wo doch viele Anwendungen noch gar nicht Realität sind und sich Themen vielleicht erst ergeben werden, wenn es so weit ist?
Im Falle von Meta gab es drei Wochen nach dem Launch der Plattform Horizon Worlds, die eine Art Prototyp für das Metaverse ist, den ersten sexuellen Übergriff. Ein hochrangiger Mitarbeiter der zuständigen Abteilung hat daraufhin gesagt, die belästigte Person hätte die Funktion der sogenannten Safe Zone nutzen können. Diese erzeugt eine Art Schutzschild um den eigenen Avatar, andere können sich nicht mehr nähern und nicht mehr mit einem interagieren. Man ist also „out oft the game“. Allerdings wird es künftig nicht ausreichen, die Verantwortung nur auf die einzelnen Spielerinnen und Spieler zu verteilen. Zumindest nicht, wenn das Metaversum ein Ort sein soll, an dem man sich sicher fühlt und gerne Zeit verbringt.
Ist es denn gar kein Unterschied, ob ich in der virtuellen oder der realen Welt sexuell belästigt werde?
Ich persönlich glaube, dass wir davon ausgehen sollten, dass virtuelle Übergriffe genauso schlimm sind wie analoge. Einfach aus dem Grund, dass wir nicht wissen, wie real diese virtuellen Anwendungen noch werden können.
Wie könnte aus Ihrer Sicht die Killerapplikation aussehen, die nötig ist, damit die Idee des Metaversums massentauglich wird?
Die Frage nach der Killerapplikation ist gerade tatsächlich die 800-Mrd.-Euro-Frage. Das könnte laut der Berechnung einiger Analysten und Analystinnen nämlich das Marktvolumen von Anwendungen rund um das Metaverse bis 2024 sein. So etwas sollte man im Hinterkopf haben, um Metas Wette auf die Zukunft zu verstehen, die das Unternehmen gerade unternimmt. Hier wird aktuell in Dinge investiert, die frühestens in fünf Jahren, eher in zehn Jahren Realität werden könnten. Um aber auf Ihre Frage zurückzukommen: Die Killerapplikation wird meiner Meinung nach keine sein, die unserem Leben etwas gänzlich Neues hinzufügt, sondern eine, die alte Menschheitswünsche noch unkomplizierter erfüllt als bestehende Technologien. Wenn Sie gucken, eliminiert erfolgreiche Technologie einfach Hürden, um das zu bekommen, was wir schon seit Tausenden von Jahren wollen. Soziale Netzwerke stiften ein Gefühl der Zugehörigkeit und der Gemeinschaft. Anwendungen wie Tinder erleichtern die Suche nach Intimität und Beziehungen. Aus diesem Grund halte ich Augmented Reality auch für vielversprechender als Virtual Reality. Die Killerapplikation wird eine Brücke bauen und kein Leuchtturm in der analogen bzw. der virtuellen Welt sein.
Lassen Sie uns ein wenig in den luftleeren Raum spinnen: Wäre die ultimative Killerapplikation nicht die, die unser Bewusstsein in eine virtuelle Welt laden würde? Volles Eintauchen, volle Interaktivität?
Die Frage, ob wir unser Bewusstsein hochladen würden, hat sich der Philosoph Robert Nozick mit einem entscheidenden Zusatz 1974 in seinem Buch Anarchy, State, and Utopia gestellt. Darin spricht er von einer „Erfahrungsmaschine“, die uns ein Leben ohne Leiden, ohne Tod, ohne Stress simuliert. Allerdings ist der Verlauf dieser Existenz vorgezeichnet und man selbst damit nicht frei in seinen Entscheidungen. Seine Frage lautet entsprechend: Würden wir uns an eine solche Maschine anschließen? Als 2020 eine Untersuchung mit genau dieser Frage durchgeführt wurde, gaben 77 % der Befragten an, dass sie ein Leben in der analogen Welt mit Leiden und freier Entscheidungsmacht vorziehen würden. Wenn Hochladen somit Hochladen in eine solche Erfahrungsmaschine bedeuten würde, wäre es sicher keine Killerapplikation, da sie nur 23 % nutzen würden. Zumindest zum aktuellen Zeitpunkt. Wenn man aber noch in eine andere Richtung in den luftleeren Raum spinnt und davon ausgeht, dass KI weiter rasante Fortschritte macht, dann werden wir es im Metaverse nicht nur mit Avataren von real existierenden Menschen zu tun haben, sondern auch Programme antreffen, die aus Codes bestehen, die für uns aber eventuell ununterscheidbar von Menschen sind. Sollte es so weit kommen, was sehr wahrscheinlich ist, wird die Frage nach einem Systemupdate eines Metaversums plötzlich zu einer moralischen Frage. Dürfte ich dann beispielsweise als Meta, Microsoft Nvidia etc. Programme löschen, die vielen Menschen zu Freunden geworden sind? Und: Wenn diese Programme ein Bewusstsein haben, macht man sich dann sogar einer Form des Mordes schuldig? Diese Fragen werden auf uns zukommen und wir sollten sie uns stellen, bevor sie wirklich drängend werden.
Es wird die Aufgabe der Entwicklerinnen und Entwickler sein, uns als Menschen abzuholen, uns aber das Potenzial zu zeigen, das wir als Avatare neu haben.
Kann man davon ausgehen, dass es immer eine Verbindung geben wird zwischen der realen Welt und der Virtual bzw. Augmented Reality? Sind es sozusagen fest miteinander verbundene Realitäten?
Da wären wir wieder bei der Frage, was das Versprechen der Anwendungen sein soll. Meta vermittelt uns ja das Gefühl, dass es die eigentliche Realität ersetzen will und wir Großteile unseres Alltags im Metaverse verbringen werden. Aus einer PR-Perspektive ergibt das natürlich Sinn, ich halte es aber für eine massive Übertreibung. Das Metaverse wird eventuell Bildschirmanwendungen, wie wir sie jetzt hier z. B. zu dritt als Zoommeeting haben, ersetzen. Oder gemeinsame Zockerabende, die dann in einer virtuellen Welt stattfinden. Wird es aber den Gang zum Bäcker ersetzen? Wird es alle Geburtstage von Freunden ersetzen, zu denen man sich trifft und ein Lagerfeuer macht? Ich halte das für unwahrscheinlich. Man muss immer schauen, was das Ersetzungsversprechen tatsächlich halten kann. Ich glaube, das Metaverse kann spannender als der Computer oder das Handy sein. Aber kann es auf Dauer spannender sein als ein Samstagabend mit Freunden? Ich bin gespannt.
Lassen Sie uns zum Ende noch über Politik im Metaversum sprechen. Werden sich hier demokratische Strukturen ergeben?
Der Grund für Unternehmen, Metaversen zu bauen, ist vorrangig ein ökonomischer. Politik steht sicher nicht an erster Stelle, weshalb Profit wichtiger ist als eine gerechtere Form der Teilhabe vieler an den bedeutenden Entscheidungen. Dennoch gibt es natürlich keine unpolitischen Räume, auch nicht digital. Regeln, Umgebungen, zugelassene Anwendungen und Charaktermodifikationen sind Ausdruck einer bestimmten politischen Einstellung. Was ich damit sagen will: Das Valley programmiert seine politische Ausrichtung in den Code der Metaversen – und wir erfahren diese über die Welt, die uns bereitet wird. Damit es nicht zu solchen Code-Diktaturen kommt, wo sich politischer Widerstand auf die Nichtnutzung einer Anwendung beziehen kann, müssen diese Welten offen sein für die Ideen und Wünsche der Nutzerinnen und Nutzer.
Das Metaversum hat demnach kein utopisches Potenzial für Sie?
Auf jeden Fall hat es das. Nur müssen wir uns klarmachen, dass wir diese Anwendungen nicht als unbeschriebene Blätter nutzen. Wir kommen mit unserer Vorbildung, unseren Vorurteilen, unseren ökonomischen Möglichkeiten in diese Welt, die wir aus der analogen mitnehmen. Es wird die Aufgabe der Entwicklerinnen und Entwickler sein, uns als Menschen abzuholen, uns aber das Potenzial zu zeigen, das wir als Avatare neu haben. Wenn das gelingt, können wir das Metaversum als Spielplatz neuer Ideen nutzen, um alle möglichen Welten besser zu gestalten und lebenswerter zu machen.
Dominik Erhard (Foto: Marvin Ruppert)
Vera Linß (Foto: Jörg Wagner)
Camilla Graubner (Foto: Sandra Hermannsen)