Die Skandalspirale

Zur Typologie öffentlicher Empörung im digitalen Zeitalter

Steffen Burkhardt

Prof. Dr. Steffen Burkhardt erforscht an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW Hamburg) mediale Skandale und digitale Öffentlichkeiten.

An Skandalen lassen sich gesellschaftliche Auf- und Umbrüche erkennen. Wie tief greifend der Wandel der Öffentlichkeit durch das Internet ist, zeigt die politische Skandalisierung im Social Web – mit massiven Konsequenzen für die Gesellschaft.

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 1/2019 (Ausgabe 87), S. 28-31

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Wer sich wissenschaftlich mit Skandalen beschäftigt, hat häufig mit zwei weitverbreiteten Missverständnissen zu kämpfen: Erstens denken viele Menschen, dass einem Skandal etwas besonders Verwerfliches vorausgegangen sein müsste. Und zweitens verwechseln viele die Missstände, die als moralisch verwerflich gewertet werden, mit dem Skandal, den sie nach sich ziehen. Beides ist falsch und muss zurechtgerückt werden, wenn man das Wesen des Skandals verstehen will. Skandale sind nichts anderes als Kommunikationsprozesse, die der gesellschaftlichen Aushandlung von moralischen Leitvorstellungen dienen. Sie nehmen behauptete Grenzüberschreitungen zum Anlass, um die öffentliche Selbstverständigung zu stimulieren. Hierfür ist es völlig irrelevant, ob es eine Grenzüberschreitung gegeben hat oder nicht. Wichtig ist, dass weite Teile der Gesellschaft befürchten, dass es ein schweres Fehlverhalten gegeben haben könnte. Wird diese Grenzüberschreitung in den Medien dann als „Skandal“ gelabelt, ist das streng genommen Etikettenschwindel. Denn nicht die Transgression ist der Skandal, sondern der öffentliche Kommunikationsprozess, der sie thematisiert und bewertet. Damit unterscheidet sich die wissenschaftliche Definition des Skandals von der landläufigen (vgl. Burkhardt 2015).
 

Dioramen gesellschaftlicher Auf- und Umbrüche

Das lässt sich gut an der Affäre um Hans-Georg Maaßen beschreiben, der im Zuge der Kontroverse um seine Meinung zu den fremdenfeindlichen Übergriffen in Chemnitz im August 2018 gezwungen war, seinen Dienst als Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz im November 2018 zu beenden. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist die gesamte öffentliche Bewertung der Ereignisse in Chemnitz inklusive der Personal- und Koalitionsdebatte um Maaßen ein öffentlicher Kommunikationsprozess, der aus unterschiedlichen Gründen als Skandal wahrgenommen wurde. Aufgabe der Skandalforschung ist es nicht, über den Geheimdienstler oder die Ereignisse in Chemnitz zu urteilen, sondern die gesellschaftlichen Kommunikationsdynamiken zu erfassen und zu verstehen, die im Zusammenspiel unterschiedlicher politischer Partikularinteressen, Versammlungs- und Spontanöffentlichkeiten, Medienformate, Kanäle und Diskursplattformen des Social Webs die Entstehung des Skandals begünstigt und beschleunigt haben. Skandale wie die Maaßen-Affäre lassen sich dabei als Dioramen gesellschaftlicher Auf- und Umbrüche analysieren, die Auskunft über Moralvorstellungen und Machtverhältnisse geben. Wir haben hierzu am International Media Center (IMC) der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW Hamburg) ein Big-Data-Forschungsprojekt mit entsprechender Software entwickelt, in dem wir in Echtzeit Millionen Daten aus dem Social Web filtern und in Netzwerkanalysen analysieren.

Die Skandale, die wir untersuchen, haben das Potenzial, exponierte Individuen und Organisationen genauso wie soziale, religiöse, politische und wirtschaftliche Gruppen zu destabilisieren – oder eben die Gesellschaft als solche. Das beginnt mit permanenten Attacken gegen die „Koalition“, die von der Gesellschaft politisch legitimiert wurde, und steigert sich zur Dauerskandalisierung des „Systems“. Leider spielen hier nicht nur politische Akteure im Social Web eine ungute Rolle, sondern auch viele Journalisten als Steigbügelhalter kollektiver Panik durch permanente Unkenrufe („Zerbricht jetzt die Koalition?“, „Tritt die Kanzlerin jetzt zurück?“). Dabei sind gerade nicht die vermeintlichen Missstände das größte Problem der Gesellschaft, sondern die kontinuierliche Skandalisierung ihres wichtigsten Kapitals: des Vertrauens in sich selbst. Die öffentliche Vertrauenskrise ist daher in erster Linie eine Kommunikationskrise.
 

Historisch gewachsenes Konzept zur öffentlichen Aushandlung von Normen

Skandale sind ein zentrales, historisch gewachsenes Konzept zur öffentlichen Aushandlung von Normen. In den fünf Jahrhunderten, die seit der Entstehung erster medialer Skandalisierungen in den Nachrichtendrucken des frühen 16. Jahrhunderts bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts vergangen sind, haben sich Skandale zu den publizistischen Brandbomben der Mediengesellschaft entwickelt, die mit moralischem Sprengsatz den Emotionshaushalt des sozialen Systems attackieren. Dazu mussten sich Skandale in den Medien unterschiedlichen Transformationsprozessen unterziehen und bedurften der Entwicklung moderner Gesellschaften: In Europa ist diese Entwicklung vor allem durch die drei sozialhistorisch bedeutsamen politischen Etappen des Absolutismus, der Aufklärung und der bürgerlichen Revolutionen ausgehend von Frankreich und seinem Scandale-Konzept und dem Erfolg der Chroniques scandaleuses geprägt. Die bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts erscheinenden Nachrichtendrucke und Skandalchroniken weisen bereits skandalöse Inhalte auf – deren Vielfalt, Aberwitz und Kreativität an den User-generated Content aus sozialen Netzwerken erinnert, Fake News inklusive. Ab 1789 beginnt die allmähliche Etablierung von Skandalen als Inhalte in den Medien des 19. Jahrhunderts, begünstigt durch die zunehmende Loslösung der Presse von den Parteien und der Ausweitung des Nachrichtenfaktors „Human Interest“ in den Medien. Auf diese Etablierungsphase der Skandale im Mediensystem folgt deren Adaption durch das Mediensystem, für die es die drei zentralen historischen Gründe, die Kommerzialisierung und Ausdifferenzierung des Mediensystems, die Professionalisierung des investigativen Journalismus und die Etablierung neuer Informationstechnologien und damit verbundene Zunahme an medialer Prominenz gibt.
 

Moralische Kollektive im Social Web

Mit der Zunahme digitaler Kommunikationsformen seit der Jahrtausendwende lässt sich in nahezu allen westlichen Ländern eine Zunahme an Skandalfällen beobachten (vgl. Burkhardt 2018; Entman 2012). Die Kommerzialisierung des Mediensystems und seine Entkopplung von den politischen Institutionen sind Faktoren, die zu mehr politischen Skandalen als Strategie zur Auflagen- und Reichweitenmaximierung – und damit Gewinnsteigerung – des Journalismus geführt haben. Auch die Journalisten selbst nutzen Skandalberichte für ihre Profilierung und andere persönliche Interessen. Zugleich ermöglicht die gesteigerte Selbstinszenierung gesellschaftlicher Akteure neue Formen der Visibilität und Prominenzierung, die zu einem größeren Angebot an möglichen Skandalfällen führten (Burkhardt 2011; Haller 2013; Thompson 2000). In den fragmentierten Öffentlichkeiten des digitalen Zeitalters entsteht mit den Herausforderungen von Likes, Selfies, Retweets und Sexting, den Möglichkeiten des anonymen Anprangerns, den Erosionen des Privaten und anderen normativen Schutzsphären der Interaktion, mit Datenaggregationen sowie globaler, interkultureller Kommunikation ein zuvor nie da gewesenes Potenzial öffentlicher Empörungswut, Empörungslust und Empörungssucht.

Vor allem mit zunehmender Social-Media-Interaktion gewinnen die Vertreter moralischer Kollektive (vgl. Joller 2018) Einfluss auf die massenmediale Deutung von behaupteten Normverletzungen, auch wenn nach wie vor der Journalismus deren Wahrnehmung prägt. Ohne die journalistische Berichterstattung in den Fernseh- und Radionachrichten, in Zeitungen, Zeitschriften und Onlinenews würde sich die Empörung über die vermeintlichen Missstände, die in sozialen Medien angeprangert werden, versenden. Was nützen Twitter- und Facebook-Empörung über sexuelle Belästigung durch Politiker oder die von WikiLeaks online publizierten Dokumente, wenn der gesellschaftliche Diskurs darüber ausbleibt? Selbst die Aufklärung durch Whistleblower wie Edward Snowden findet erst durch das journalistische Framing des mediatisierten Skandals die Beachtung weiter Teile der Bevölkerung.
 

Kommunikationskrise der Gesellschaft

Die Kommunikationskrise der Gesellschaft hat dabei vielfältige Ursachen, von denen drei besonders augenfällig sind: Wir erleben derzeit erstens die Demokratisierung der Massenmedien. Nicht mehr nur ethisch geschulte Kommunikationsprofis als Gatekeeper pflegen jene Öffentlichkeit, die die Journalistik einst als das System kollektiver Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung beschrieb. Die Demokratisierung der Massenmedien führt zu einer radikalen Nutzung der Öffentlichkeit durch Akteure mit ökonomischer oder auch politischer Macht. Diese Refeudalisierung der Öffentlichkeit, die Habermas vor über einem halben Jahrhundert messerscharf diagnostiziert hat, wird im Zeitalter persönlicher Öffentlichkeiten mit einer Gnadenlosigkeit vorangetrieben, die jeden Bürger fassungslos staunen lassen müsste. Auch wenn sich in Deutschland – dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und der vielfältigen Presselandschaft sei Dank – der Umbau der Öffentlichkeit langsamer als im internationalen Vergleich vollzieht: Weltweit ist zu beobachten, wie Politiker sich ihrer als lästig empfundenen journalistischen Kritiker entledigen können. Sei es durch neue Mediengesetze, sei es durch das systematische Leugnen von nicht erwünschten Tatsachen oder durch physische Angriffe gegen Journalisten in Ausmaßen, die lange Zeit nicht mehr denkbar waren. Um diese Attacken moralisch zu legitimieren, benötigt man mehr als nur die Demokratisierung der Massenmedien und neue Akteure mit Ressourcen. Es braucht die Beschleunigung öffentlicher Empörung im digitalen Zeitalter, die sich auch gegen den Journalismus richtet. Sie ist die dritte und zentrale Ursache für die Krise der Gesellschaft.

In den Mediennetzwerken, die den primären Organisationsmodus und die wichtigsten Strukturen der modernen Gesellschaft prägen, können sich Skandale über die Knotenpunkte der Netzwerkgesellschaft (die alles andere als eine Informationsgesellschaft ist) rasant verbreiten. Das jahrtausendealte Konzept öffentlicher Empörung hat sich unter dem Einfluss der Digitalisierung dazu weiteren Transformationsprozessen unterzogen, die vor allem durch eine gesteigerte Visibilität des Skandalons und die personelle Erweiterung der am Mediendiskurs Beteiligten gekennzeichnet sind.
 

Überhitzte Temperatur öffentlicher Empörung

Der Trump’sche Tweet als überhitzte Kommunikationsform des öffentlichen Schlagabtauschs ist Symptom einer Skandalspirale, in der die Temperatur öffentlicher Empörung kontinuierlich weiter hochgekocht wird. Die Schwarz-Weiß-Schablonen der Skandalisierung finden wenig überraschend im Vorwurf der Political Correctness ihren komplexitätsreduzierenden Nährboden, die als kontextadäquate Moralvorstellung zum Skandalon Ausdruck veränderter Normen und Werte ist. Der Gegner wird auf allen Kanälen immer heftiger attackiert; die Skandalisierung wird als Kommunikationsinstrument zur Waffe des Campaignings. Dass der Gegner nicht zwangsweise ein Politiker sein muss, sondern jeder, der die eigenen politischen Ziele hinterfragt, lässt sich an den Pressekonferenzen des US-Präsidenten und ihrer digitalen Nachbereitung durch das White House beobachten. In Deutschland kennen wir solche Extreme noch nicht, obgleich gerade die Maaßen-Affäre auf bemerkenswerte Weise gezeigt hat, wie schnell ein einflussreicher Staatsdiener den Verdacht streuen kann, Medien und Regierung würden Lügen verbreiten.

Wie sollen Qualitätsmedien auf den Skandalisierungsdruck reagieren? Mit Gelassenheit und Professionalität. Auch wenn es nach einem Allgemeinplatz klingt, ist das stärkste Argument für guten Journalismus noch immer überzeugende journalistische Arbeit. Sie ist das einzig wirksame Gegengift gegen moralinsaure Empörungswellen. Vor allem die Selbstbeobachtungs- und Selbstbeschreibungsfunktion des Medienjournalismus kann diese Forderung einlösen und den moralischen Diskurs durch einen ethischen Diskurs ersetzen. Dessen Deeskalationsstrategie besteht in der Thematisierung der blinden Flecken der Moral, die in Diskursen als Invisibilisierung der Kontingenz von Wertorientierungen wirken. Diese Erkenntnis ist für die vernetzte Gesellschaft von besonderem Interesse in Zeiten, in denen Staatsoberhäupter per Twitter die Skandalisierung ihrer Gegner zur Regierungsstrategie erkoren haben.
 

Literatur:

Burkhardt, S.: Skandal, medialisierter Skandal, Medienskandal: Eine Typologie öffentlicher Empörung. In: C. Petersen/K. Bulkow (Hrsg.): Skandale. Strukturen und Strategien öffentlicher Aufmerksamkeitserzeugung. Wiesbaden 2011, S. 131 – 156

Burkhardt, S.: Medienskandale. Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse. Köln 20152

Burkhardt, S.: Scandals in the Network Society. In: A. Haller/H. Michael/M. Kraus (Hrsg.): Scandalogy. An Interdisciplinary Field. Köln 2018, S. 18 – 44

Entman, R. M.: Scandal and Silence. Media Responses to Presidential Misconduct. Cambridge 2012

Haller, A.: Dissens als kommunikatives Instrument. Theorie der intendierten Selbstskandalisierung in der politischen Kommunikation. Bamberg 2013

Joller, S.: Skandal und Moral. Eine moralsoziologische Begründung der Skandalforschung. Weinheim 2018