Die Überzeugung, auf der moralisch richtigen Seite zu stehen

Denkfiguren der Radikalisierung und Wege ihrer Verbreitung

Joachim von Gottberg im Gespräch mit Jürgen Grimm

Presse und Fernsehen haben in den letzten Jahren immer wieder von jungen Menschen berichtet, die sich von ihren Familien und Freunden aus Deutschland verabschieden und in islamische Staaten ausreisen, um sich dort zum Kampf gegen die Ungläubigen ausbilden zu lassen. Die Kontakte sind offenbar durch das Internet zustande gekommen. Wie funktionieren solche Kontaktangebote und was ist daran so attraktiv? Radikalisierung scheint darüber hinaus auch Menschen zu betreffen, die auf Migration und Terror mit extremen ausländerfeindlichen Einstellungen und dem Ruf nach autoritären Regierungsformen reagieren. Haben wir es mit einer Radikalisierungsspirale zu tun, bei der sich die Extremisten verschiedener Richtung wechselseitig hochschaukeln? Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten gibt es auf dem Weg zu extremistischen Ideologien und politischer Gewaltbereitschaft? Und wie hängen Radikalisierungsprozesse innerhalb der Gesellschaft mit internationalen Konflikten zusammen? Dr. Jürgen Grimm, Professor am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien, geht diesen Fragen in dem Forschungsprojekt „Kommunikationsmuster der Radikalisierung“ (Communication Patterns of Radicalization [COMRAD]), in dem verschiedene Fachrichtungen, darunter Informatiker und Soziologen, zusammenarbeiten, nach. tv diskurs sprach mit ihm.

Printausgabe tv diskurs: 22. Jg., 3/2018 (Ausgabe 85), S. 82-87

Vollständiger Beitrag als:

Wir hören in den letzten Jahren immer häufiger von Jugendlichen, die über das Internet von scheinbar normal aufwachsenden Schülerinnen und Schülern zu fanatischen Anhängern bestimmter radikalisierter islamischer Gruppen werden. Wie ist so etwas möglich?

Wir sind seit einiger Zeit mit Entwicklungen in der Gesellschaft konfrontiert, in denen bestimmte Bewegungen sich erkennbar radikalisieren und auch immer wieder die Schwelle zur politischen Gewalt überschreiten. Das gilt in erster Linie für den islamistisch motivierten Terror, aber auch an den rechten Rändern entwickelt sich einiges an Gewalt, die gegen Ausländer oder Asylbewerber gerichtet ist, und die hat durch die Migrationswelle 2015 einen großen Aufschwung bekommen. Hinzu kommt eine gewisse Gewaltbereitschaft aus der „linken Ecke“. Denken Sie an Reste des RAF-Terrors, der schon überwunden schien und nun wieder mit Raubüberfällen in Erscheinung tritt, oder beispielsweise an den G-20-Gipfel in Hamburg und die dort gewaltsam eskalierten Konflikte. Wir versuchen mit unserem Forschungsprojekt COMRAD, das vom Jubiläumsfond der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gefördert wird, den Hintergründen dieser Radikalisierung auf die Spur zu kommen. All diese Bewegungen scheinen zumindest eines gemeinsam zu haben: Sie sind zwar unterschiedlich in ihrer politischen Ausrichtung, aber sie sind alle im Netz präsent und bilden so etwas wie abgeschottete „Blasen“. Internetblasen sind Bereiche im Netz, in denen sich Gleichgesinnte gegenseitig nur noch mit selbst bestätigenden Informationen versorgen und dadurch für den allgemeinen politischen Diskurs in der Gesellschaft nicht mehr zugänglich sind. Daraus resultiert dann eine Abspaltung und Radikalisierung solcher Gruppen.

Ähnliche Phänomene kennen wir auch aus der analogen Welt. Beispielsweise leben manche Sekten in geschlossenen Systemen und beantworten Kritikpunkte von außen immer aus der eigenen Logik ihres geschlossenen Systems heraus.

Da gibt es in der Tat Parallelen. Und deshalb ist es verkürzt, die Terrorattacken der letzten Jahre ausschließlich dem Islam oder islamistischen Interpretationen des Korans zuzuschreiben. Radikalisierung ist ein vielschichtiger Prozess. Das Ganze trägt Züge, die wir von Protestbewegungen und jugendlichen Subkulturen kennen. Hinzu kommen Abschließungstendenzen, wie sie z.B. aus dem Sektenbereich bekannt sind. Es wird ein Desintegrationsprozess in Gang gesetzt, der durch äußere Anlässe – z.B. Diskriminierungserfahrung oder Identifikation mit Benachteiligten und Ausgeschlossenen – initiiert und durch die Identitätssuche Jugendlicher angetrieben wird. Potenziell gipfelt das in einer neuen, radikalisierten Identität, die allerdings nur in Ausnahmefällen zur politischen Gewalt führt. Daher müssen wir uns auch davor hüten, alle Tendenzen zur Radikalität von vornherein im Hinblick auf Gewalt zu betrachten. Manches davon artikuliert einfach nur eine mehr oder weniger berechtigte Kritik an gesellschaftlichen Zuständen, auf die polizeiliche Maßnahmen alleine keine adäquate Antwort darstellen.

Können Sie näher erläutern, wie Radikalisierung abläuft? Gibt es dafür ein einheitliches Muster?

Die Wege der Radikalisierung sind vielfältig. Dennoch gibt es Grundfaktoren, die in unterschiedlicher Zusammensetzung immer wieder eine Rolle spielen. Wir unterscheiden in unserem Projekt zwischen Push- und Pull-Faktoren der Radikalisierung. Push-Faktoren sind alle Formen der sozialen Desintegration und des Gefühls, ausgegrenzt zu sein. Dadurch werden Radikalisierungsprozesse angeschoben. Die Pull-Faktoren sind dann ideologische Systeme, die diesem Protest eine Heimat bieten: Wenn ihr zu uns kommt, dann findet ihr hier eine neue Idee, vielleicht auch ein neues Weltbild und eine neue Sinnbestimmung. Darin liegt das große verführerische Potenzial.

Welche Funktion hat dabei das Internet? Liegt sie darin, dass nur so die Verbreitung extremistischer Angebote nach Deutschland hin möglich ist?

Es ist strukturell plausibel, dass unter Bedingungen, die das Internet mit seinen Kommunikationsplattformen bietet, Menschen zur Gruppenbildung angeregt werden. Facebook und Co. belegen, wie leicht es heute ist, Tausende von Likes zu generieren und irgendeine Special-Interest-Group zu bilden, einschließlich extremistischer Foren und Gruppierungen. Das hat es bei den klassischen Massenmedien Presse und Fernsehen nicht gegeben. Da war man Nutzer eines Mainstream-Mediums, und in der Regel hat der Journalist als Gatekeeper zumindest extreme radikale Meinungen herausgefiltert. Es gab zwar oppositionell ausgerichtete Medien, aber keine totale Abschottung in einem interaktiven kommunikativen Raum. Das ist durch das Internet heute möglich geworden und erweckt dabei auch noch den Anschein freiwilliger Kollaboration. Natürlich beinhaltet das Internet keine Radikalisierungsautomatik, denn dieselbe Internetstruktur wird ja für alles Mögliche genutzt, z.B. für Bürgerinitiativen, Selbsthilfegruppen und vernetzte Informationen im gesundheitlichen Wissensbereich. Das sind alles schätzenswerte und positive Errungenschaften. Daneben gibt es aber auch Entwicklungen zur Abschottung in einzelnen Blasen, wodurch Prozesse der Radikalisierung schneller und effektiver stattfinden können. Die Grundprozesse gab es früher schon; sie sind keine Erfindung des Internetzeitalters. Dahinter stecken die alten Faktoren, die aber jetzt mithilfe des Internets wesentlich wirksamer und dynamischer werden. Dadurch haben wir eine neue Qualität der Problemlage. Ein Radikalisierungsprozess kann ganz harmlos beginnen, indem man sich beispielsweise über bestimmte politische oder gesellschaftliche Entwicklungen empört. Ein wesentlicher dynamisierender Faktor auf islamistischer Seite sind beispielsweise kriegerische Auseinandersetzungen mit Moslems im Nahen oder Mittleren Osten – allen voran der Irakkrieg von 2003 und der Israel-Palästina-Konflikt. Die rechte Szene bezieht sich häufig darauf, dass es durch die Flüchtlinge so etwas wie eine Unterwanderung europäischer Gesellschaften gebe, eine Art „Umvolkung“ stattfinde, wie es im extremistischen Jargon heißt, welche die eigene Identität bedrohe. Daraus leiten sie dann ihre spezielle Art einer Fundamentalopposition ab. Von der Psychologie her sind extremistische Gruppen mit Sekten vergleichbar, da sich in beiden Fällen die Ingroup- von der Outgroup-Perspektive völlig abkoppelt und abgeschottete Kommunikationsmilieus für Identitäts- und Weltbildkonstruktionen entstehen.

Was sind das für Anker, die in den Plattformen ausgeworfen werden, um Jugendliche an sich zu ziehen?

Neben den Push- und Pull-Faktoren gibt es die „Brandbeschleuniger“ der Radikalisierung. In wissenschaftlicher Sprechweise sind das Dynamikfaktoren, die teilweise ganz bewusst von interessierten Gruppen bedient werden. Zentral als „Köder“ sind z.B. Verschwörungstheorien. Die müssen selbst noch gar nicht expliziter Bestandteil einer extremistischen Ideologie sein, können aber die Anfälligkeit für solche Ideologien erhöhen. Es genügt, einer bestimmten Macht – manchmal sind es sogar außerirdische oder andere als übermächtig vorgestellte Kräfte des Bösen – eine Kontrolle über die Welt zuzutrauen. Aus dieser Betrachtung von Welt resultiert dann eine kämpferische Einstellung, die alles abverlangt und unter Umständen auch die Lizenz zum Töten gibt. Da geht es etwa um die „jüdische Weltverschwörung“, die in der rechten Szene Tradition hat, aber auch bei Islamisten und Linksextremen eine gewisse Rolle spielt. Klassisch islamistische Verschwörungstheorien drehen sich um die „Ungläubigen“, die „Kreuzzügler“ oder den „großen Satan“ USA, der auch bei „Linken“ gerne als eine dunkle imperiale Macht gesehen wird. Die Verschwörer wechseln; immer aber geht es darum, dass man einer kleinen Gruppe starken negativen Einfluss auf die Welt zuschreibt, woraus ein klares Feindbild resultiert. Das Denken in Verschwörungskategorien kann Radikalisierungsprozesse begünstigen und stellt oft einen kognitiven Türöffner für extremistische Einstellungen dar. Das andere sind emotionale Dynamikfaktoren wie der „Robespierre-Affekt“,1 an den diverse Gruppen mit Opferbildern appellieren: Menschen haben eine Fähigkeit, sich moralisch zu empören, und das wird stimuliert durch bestimmte Formen der Opferdarstellungen. Nehmen wir z.B. den Israel-Palästina-Konflikt: Da gab und gibt es immer wieder gewalttätige Auseinandersetzungen an der Grenze zum Gazastreifen, also Raketen auf Israel aus Gaza und militärische Intervention der israelischen Armee in Gaza. Es ist ganz natürlich, dass die palästinensische – und umgekehrt die israelische Seite – über die „richtigen“ Opferbilder streitet. Schließlich geht es um die moralische Legitimität der eigenen Konfliktpartei und die Definition des Feindes, gegen den Gewaltmittel gerechtfertigt erscheinen. Das Problem ist nun aber, dass die moralische Wut, die aus den jeweiligen Opferbildern resultiert, den Konflikt selbst anheizt und eine Lösung dann in weite Ferne rückt. Das ist so eine Angelrute, mit der man radikalisierungswillige Fische fangen kann – mit der Folge der Eskalation und immer weitergehenden Enthemmung beim Gewaltmitteleinsatz.

Welche Rolle spielt heute noch die Nazizeit für Radikalisierungsprozesse? Sind positive Einstellungen zu Hitler nicht ein Phänomen des „alten“ Rechtsextremismus, der immer mehr an Bedeutung verliert?

Historische Legendenbildungen insbesondere zur Nazizeit sind ein weiteres Beispiel für Dynamikfaktoren der Radikalisierung – auch heute noch. So ist z.B. in rechtsextremistischen Milieus die Holocaust-Leugnung nach wie vor beliebt. Die Verführung für junge Deutsche und Österreicher besteht darin, dass sie sich als Nachgeborene der Nazis in ihren Ländern moralisch entlastet fühlen können und wieder ganz hemmungslos und vollumfänglich Nationalstolz zeigen. Wir haben zwar das Phänomen bei der Identitären Bewegung als einer neuen Variante des Rechtsextremismus, dass sie sich nicht mehr offen auf den Nationalsozialismus und Hitler beziehen will, das ist aber primär taktischer Natur. Dasselbe gilt für die FPÖ in Österreich, die nach einer Phase der historischen Koketterie mit den Nazis heute versucht, solche Referenzen zu vermeiden. Sie werfen nun ihrerseits den Kritikern vor, diese kämen permanent mit der „Nazikeule“, obwohl sie doch selbst gar nichts damit zu tun hätten. In Wahrheit ist es aber so, dass relativierende, verharmlosende oder ganz offen positive historische Bezüge zur Naziherrschaft in der FPÖ-Anhängerschaft zahlreich vertreten sind – unter Burschenschaftlern etwa – und auch immer wieder geäußert werden. Siehe auch die Beispiele aus der deutschen Pegida-Bewegung und der AfD. Die 13 Jahre Hitlerherrschaft sind noch immer ein bevorzugtes Feld historischer Legendenbildung von potenziell radikalisierender Wucht. Es geht um die Deutungshoheit in bestimmten historischen Fragen. Wenn ganze Völker auf die Anklagebank gesetzt werden oder sich dort hingesetzt fühlen und dagegen dann rebellieren, kann daraus eine sehr fundamentalistische Oppositionshaltung resultieren. Dazu tragen Thesen bei wie: „Der Holocaust hat gar nicht stattgefunden, jedenfalls nicht in dem behaupteten Maße“ oder: „Die Holocaust-Thematik dient nur dazu, Deutschland kleinzuhalten!“ Gefährlich sind solche historischen Konstrukte deshalb, weil sie sich leicht mit dem Bedürfnis nach Selbstbehauptung und nationaler Größe verbinden und die Empfänglichkeit für extremistische Ideologien erhöhen. Umgekehrt konnten wir in unserem international vergleichenden Forschungsprojekt zur Geschichtsvermittlung2 nachweisen, dass geeignete Formen der medialen Aufbereitung des Holocausts als monströser Zivilisationsbruch im 20. Jahrhundert zur Humanisierung der Rezipienten beitragen und diese in bestimmtem Maße gegen extremistische Ansichten imprägnieren. Es ist also längst noch nicht an der Zeit, die Holocaust-Erinnerungsarbeit an Gedenkstätten, in der Schule und im Fernsehen ad acta zu legen – nicht wegen einer vermeintlichen „Schuld“ der Nachgeborenen, sondern als wirksames Mittel gegen Radikalisierungstendenzen in der Gesellschaft.

Sehen Sie noch andere Möglichkeiten, mit Radikalisierung umzugehen?

Ein weiterer Ansatz betrifft die Berichterstattung über extremistische Gewalt in den Massenmedien, die wir in einem Parallelprojekt zu COMRAD im Rahmen der Analyse von „Konfliktkommunikation“ untersuchen. Hier geht es um die gesellschaftliche Wirkung von Medienberichten über Terroranschläge und andere Formen politischer Gewalt wie z.B. gewaltsame Übergriffe auf Ausländerwohnheime. Führt die Berichterstattung dazu, dass sich die Gesellschaft weiter polarisiert und sich damit selbst in gewissem Maße radikalisiert? Oder trägt sie dazu bei, dass sich ein demokratischer Kern herausbildet, der Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung strikt ablehnt? Wir untersuchen, wie eine Terror- und Gewaltberichterstattung aussieht, die radikalisierende Effekte vermeidet. In diesem Zusammenhang ist etwa die Darstellungsweise der Polizeikräfte von entscheidender Bedeutung, die weder martialisch, also exzessiv gewalttätig, rüberkommen noch als schwache, hilflose Ordnungsmacht dastehen dürfen. Im ersten Fall würde der Polizeieinsatz bedrohlich erscheinen und womöglich den Einsatz von Gegengewalt provozieren. Umgekehrt erhöhen Darstellungen einer „ohnmächtigen“ Polizei die Sicherheitsängste und sie befördern die Vorstellung, in einer regellosen Welt zu leben, mit unabsehbaren Folgen für das Weltbild und politische Einstellungen. Die schon angesprochenen Nazivergleiche gegenüber ausländerkritischen Gruppen stellen ebenfalls einen Vabanqueakt dar. Sie könnten von manchen als ungerechtfertigt beurteilt werden und womöglich einen Reflex des „Mitleids mit den Schwachen“ auslösen. Das wäre dann ein ungewollter Effekt der Radikalisierung via Massenmedien. Andererseits müssen historische Bezüge hergestellt werden, wenn sie der kritischen Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte dienen sollen. Niemand weiß, wo genau der schmale Grat der Aufklärung verläuft und wann er in ungewollte Provokation mit Radikalisierungsfolgen umschlägt. Genau dafür benötigen wir empirische Medienwirkungsforschung. Auch der Umgang mit Protestbewegungen ist klärungsbedürftig. Keineswegs dürfen alle Formen des Protests als „irrational“ oder „extremistisch“ eingestuft werden. Es ist fast immer ein legitimer Kern der Kritik und Unzufriedenheit mit einer gesellschaftlichen Problemlage vorhanden. Protest ist genuin demokratisch, das darf man nicht vergessen. Zur Gefahr wird er erst durch emotionale und ideologische Aufheizung, die, statt eine Lösung gesellschaftlicher Probleme zu motivieren, auf antidemokratische und violente Abwege führt. Eine deradikalisierende Berichterstattung greift den Problemkern für die Unzufriedenheit auf und kümmert sich um deren Lösung, grenzt sich aber zugleich klar ab von Vereinfachungsrhetorik und einer antidemokratischen und hasserfüllten Fundamentalopposition gegenüber gewählten Politikern. Eine herabwürdigende und dehumanisierende Sprache überschreitet bereits zivilisatorische Grenzen des schiedlich-friedlichen Konflikts und senkt die Schwelle gegenüber der Anwendung von Gewalt. Da muss auf jeden Fall eine Grenze gezogen werden. Wir müssen es schaffen, die Abgrenzung gegenüber gewaltbereitem Extremismus zu verknüpfen mit einer integrierenden Kommunikation über berechtigten Protest. Das ist die Quadratur des Kreises, das ist genau die Herausforderung, vor der wir stehen.

Wenn wir den Kern des Protests bei den Islamisten betrachten, so kann man schon das Gefühl bekommen, dass die Weltgemeinschaft nicht fähig ist, zu einer Lösung der Konflikte beizutragen. Entweder die USA oder Russland blockieren Resolutionen des Weltsicherheitsrates, die Interaktionen von Russland, den USA, Saudi-Arabien und dem Iran schaffen eine Gemengelage, die ungeheure Gräueltaten bis zur kompletten Zerstörung Syriens zulassen. Auch im Israel-Palästina-Konflikt hat es in den letzten Jahren Rückschritte gegeben. Damit scheint der Boden für Radikalismus in absehbarer Zeit wohl nicht kleiner zu werden. Jeder weiß: Wenn wir diese Knoten lösen könnten, würde es allen sehr viel besser gehen. Kann man über Kommunikation hier etwas Positives bewirken?

Ich stimme der Zustandsbeschreibung voll und ganz zu, wir haben es auf der internationalen Ebene mit einer Konfliktlage zu tun, die bedrohlich erscheint. Wir alle leben in einer Nachkriegsgesellschaft, die durch den Kalten Krieg gegangen ist. 1989, nach der Auflösung der Sowjetunion und der deutschen Wiedervereinigung, gab es einen kurzen Moment der Hoffnung auf eine neue Friedensordnung jenseits der Abschreckung zwischen den Supermächten auf der Basis multinationaler Kooperation. Leider sind wir dann in einer nicht so schönen neuen Welt aufgewacht, deren endgültige Strukturen noch nicht klar erkennbar sind. So sind in den letzten Jahren Bedeutung und Legitimation supranationaler Einrichtungen wie der UNO massiv herabgesetzt worden. Auch die Welthandelsorganisation (WTO) leidet unter dem Diktum: „America first“. Verträge, die gemacht wurden, um die Ausbreitung von Atomwaffen zu begrenzen, werden international nicht mehr eingehalten. Ich sehe das mit großer Sorge, es gibt zu wenig Bewusstsein aufseiten der Medien, welche Risiken in dieser Konfliktdynamik stecken.

Brauchen wir einen aufgeklärten Patriotismus, der nicht politisch missbraucht werden kann, beispielsweise für ausländerfeindliche Maßnahmen oder den Ruf nach dem starken Mann?

Als Österreicher oder Deutsche sollten wir stolz sein auf unsere kulturell diversen Gesellschaften und selbstkritische Formen der Geschichtsbetrachtung – und dies auch genauso sagen. Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust darf nicht als nationale Nestbeschmutzung gelten, sondern ist normaler Bestandteil eines reflektierenden Patriotismus. Das gilt auch für das Bewusstsein kultureller Vielfalt, das am Anfang der Nationalstaatsbildung stand: „Politische Einheit in der Vielfalt!“ war der Schlachtruf der Paulskirchen-Versammlung, die letztlich 1871 zur deutschen Staatsgründung führte. Die von jedem fühlbare Verbundenheit mit Land und Leuten ist die Basis des Patriotismus. Sie ist sehr wohl mit kritischem Geist, Diversitätstoleranz und Weltoffenheit vereinbar, in gewisser Weise sogar darauf angewiesen. Das lässt sich kommunikationspolitisch kultivieren, es geschieht allerdings noch viel zu wenig. Das Problem ist die nationalistische Verengung, die in Superioritätsdenken, „völkischen“ Einheitsphantasien und Abschottungsbestrebungen zum Ausdruck kommt. Hier brauchen wir klare Kante. Der neu gewählte französische Präsident Emmanuel Macron hat das trefflich direkt nach seiner Wahl formuliert: „Ich bin der Präsident der Patrioten gegen die Nationalisten!“ Macron ist Franzose im Herzen und im Verstand, gleichzeitig aber auch ein überzeugter Europäer. Damit hat er erfolgreich gegen Rechtsextremismus und nationalistische Einigelung gepunktet und die Radikalisierungsprozesse an den Rändern der französischen Gesellschaft zumindest vorübergehend eingehegt.

Anmerkungen:

1) Vgl. Grimm, J.: Der Robespierre-Affekt. Nichtimitative Wege filmischer Aggressionsvermittlung. In: tv diskurs, Ausgabe 5, 2/1998, S. 18-29

2) Vgl. Grimm, J./Grill, C.: Wert der Erinnerung. Wirkungen einer Holocaust-Dokumentation in Deutschland, Österreich und Israel. Interview. In: tv diskurs, Ausgabe 61, 3/2012, S. 76-81

Dr. Jürgen Grimm ist Professor am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien.

Prof. Joachim von Gottberg ist Geschäftsführer der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) und Chefredakteur der Fachzeitschrft tv diskurs.