Digital Streetwork

Christina Heinen im Gespräch mit Melanie Eckert

Kinder und Jugendliche leiden seit der Pandemie noch stärker als zuvor unter psychischen Notlagen und Erkrankungen. Oft sind familiäre Konflikte, Probleme mit Peers und in der Schule oder Einsamkeit die Ursachen. Die Versorgung mit Hilfsangeboten und Psychotherapieplätzen ist bei Weitem nicht ausreichend, vor allem aber wissen viele Kinder und Jugendliche gar nicht, wo sie Hilfe finden können. Das Beratungsangebot Krisenchat will das ändern und eine Brücke sein zwischen Hilfesuchenden und Versorgungsangeboten. Krisenchat ist da präsent, wo die Jugendlichen sind, auf Plattformen wie TikTok, Instagram und YouTube. mediendiskurs sprach mit einer der Gründer*innen, der Psychologin Melanie Eckert, darüber, wie die Beratung per Chat funktioniert und was Hilfe suchende Kinder und Jugendliche beschäftigt.

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 3/2024 (Ausgabe 109), S. 32-37

Vollständiger Beitrag als:

Wann und warum haben Sie Krisenchat gegründet?

Wir haben uns zu Beginn der Coronapandemie gegründet. Drei meiner Mitgründer – sie hatten die Ursprungsidee – waren damals erst 18 Jahre alt. Sie hatten in einem Schulprojekt eine App gegen Mobbing programmiert, über die Hilfesuchende durch Messengerdienste mit Schulsozialarbeiter*innen verbunden werden sollten. Die Schulschließungen haben den Launch der App verhindert. Gleichzeitig zeichnete sich aber schon ab – auch aufgrund erster Studienergebnisse aus China –, dass der Hilfebedarf bei Kindern und Jugendlichen enorm zunehmen würde. Deshalb haben wir uns entschlossen, das Angebot für alle Kinder und Jugendlichen zugänglich zu machen. Durch Krisenchat können Kinder und Jugendliche zu jeder Tages-und Nachtzeit in Kontakt mit professioneller Hilfe kommen. Psycholog*innen und Sozialpädagog*innen beraten zu Krisen jeglicher Art. Das kann Liebeskummer sein, es können aber auch suizidale Gedanken sein. Uns war wichtig, dass Kinder und Jugendliche in dieser schwierigen Zeit der Pandemie nicht alleingelassen werden. Es gibt viele tolle Angebote! Aber bevor es uns gab, gab es kein Angebot, das per Chat und per Messenger berät.
 


Durch Krisenchat können Kinder und Jugendliche zu jeder Tages-und Nachtzeit in Kontakt mit professioneller Hilfe kommen.“



Warum funktioniert der Chat für die Jugendlichen besser als eine Beratung am Telefon?

Zu chatten, ist der Kommunikationsweg Nummer eins bei den Jugendlichen. Telefoniert wird fast gar nicht mehr, dadurch wurde es verlernt. Von vielen Jugendlichen wird es inzwischen als hohe Hürde empfunden, telefonieren zu müssen, es ist teilweise angst- und schambehaftet, sie wissen gar nicht mehr genau, wie sie das machen sollen, was sie da sagen und antworten sollen. Der Chat hingegen bringt eine größere Distanz mit sich, da fühlen sich viele Kinder und Jugendliche sicherer in der Kommunikation. Ein anderer Vorteil des Chats besteht darin, dass er zeitversetzt funktioniert, sodass unsere Berater*innen zwei bis drei Chats gleichzeitig beraten können. Es gibt bei Weitem nicht genug Angebote für Kinder und Jugendliche mit psychosozialen Problemen, weder im psychotherapeutischen noch im Beratungsbereich. Auf diese Art können wir mehr Hilfesuchende unterstützen.

Wie baut man per Chat Vertrauen auf?

Das haben wir uns am Anfang auch gefragt: Wie schaffen wir es, die Kinder und Jugendlichen einzuladen, sich zu öffnen, eine Beziehung aufzubauen? Es war ja ein vollkommen neues Beratungsformat. Mit sehr viel Unterstützung von erfahrenen Psychotherapeut*innen und Berater*innen haben wir Methoden entwickelt und es geschafft, Techniken aus der Gesprächstherapie in Textform zu transferieren: Wir haben festgestellt, dass man sich in der Eins-zu-eins-Beratung, wenn man face to face Kontakt hat, sehr stark über Körpersprache rückversichert, indem man z. B. nickt, Augenkontakt hält etc. Diese nonverbalen Signale haben wir in sprachliche Momente transferiert, indem man beispielsweise schreibt: „Ich höre dich“, „Ich verstehe dich“ oder sich noch einmal rückversichert: „Ich habe das so und so verstanden, magst du mir noch einmal sagen, ob es das war, was du gemeint hast?“ Das klingt erst einmal komisch, aber mit diesen Techniken, die vielfach aus der Systemischen Therapie stammen, schaffen wir es, einen schriftlichen Gesprächsfluss hinzubekommen, der Vertrauen stiftet, weil wir das Nicken und den Blickkontakt ersetzen und versprachlichen können. Ganz wichtig ist es, sich auf die Hilfesuchenden einzustellen: Wie alt ist die Person, wie schreibt sie uns? Wir passen uns insbesondere in sprachlicher Hinsicht stark an, damit die Beratung niedrigschwellig ist und wir nicht jemanden durch eine zu schwierige Sprache verschrecken. Das Gleiche machen wir auch in unseren Social-Media-Beiträgen; unsere Content-Gesichter auf Instagram, TikTok oder YouTube sind sehr jung, um Barrieren abzubauen.

Welche Art von Content bieten Sie an?

Viel Psychoedukation: Wie geht man mit Stress um, was ist überhaupt Angst, was kann hinter einer Angst stehen? Schuldruck, suizidale Gedanken, familiäre Konflikte. Wir versuchen, diese Themen sehr lebensnah zu verarbeiten, in verschiedenen Formaten, die an die jeweilige Plattform angepasst sind – von sekundenkurzen Clips bis hin zu 20-minütigen YouTube-Videos. So versuchen wir, für jeden das Passende zu bieten. Wir mischen diese eher schweren auch mit leichteren Themen, mit dem neuen Song eines beliebten Rappers etc., damit die Kinder und Jugendlichen uns weiter folgen. Niemand möchte sich immer nur mit Psychoedukation beschäftigen.

Kann man von jeder dieser Plattformen aus sofort in einen Krisenchat gelangen?

Wir machen auf den Plattformen selbst keine Beratung, das wäre unter Datenschutzgesichtspunkten gar nicht möglich. Aber wir verlinken auf unsere Webseite, auf der ein Chat mit einem Klick begonnen werden kann. Der Chat selbst findet dann auf WhatsApp oder per SMS statt. Viele, die uns auf Social Media folgen, möchten oder brauchen das aber gar nicht. Das ist das Schöne an dieser niedrigschwelligen Prävention, dass man manche Beratung und Krisenintervention im Vorhinein überflüssig machen kann, weil Kinder und Jugendliche in ihrer Selbstwirksamkeit gestärkt werden, sich mit für sie relevanten Themen beschäftigen und Unterstützung finden, bevor es zu einem krisenhaften Zustand kommt.
 


Mit welchen Problemen wenden sich die Jugendlichen an Sie?

Das ist unterschiedlich. Wir sagen ganz bewusst, dass wir für alle Krisen da sind. Das kann auch mal Liebeskummer sein – damit einen guten Umgang zu finden, ist ja auch ein wichtiger Entwicklungsschritt. Wir wollen Kinder und Jugendliche darin bestärken, sich überhaupt zu öffnen und über Emotionen, Gefühle, schwierige Lebenssituationen zu sprechen. Zu wissen, dass man sich mitteilen kann, dass es möglich ist, darüber zu sprechen, ist ein ganz wichtiger Faktor für Resilienz, auch später im Erwachsenenalter. Jedes Kind, jeder Jugendliche, der sich an uns wendet, hat einen ganz wichtigen Schritt damit schon getan. Weil die Niedrigschwelligkeit des Chattens es ermöglicht, sich auch mit ganz schweren Themen an uns zu wenden, haben wir in 20 % der Chats suizidale Gedanken als Thema.

Oh. Das ist viel.

Ja. In jedem fünften Chat geht es um dieses Thema: „Ich möchte nicht mehr leben“ oder „Ich denke so oft daran, wäre es nicht besser, wenn ich nicht mehr da wäre?“ Selbstverletzendes Verhalten ist auch ein großes Thema im Jugendalter: Wenn der Druck zu groß wird und man nicht mehr weiß, wie man mit Emotionen umgehen soll, wird selbstverletzendes Verhalten als Ventil genutzt. Mit dem Wunsch, damit aufzuhören und mit dem Druck anders umzugehen, wenden sich viele Kinder und Jugendliche an uns. Familiäre Konflikte, depressive Symptome, das sind die Hauptgründe. Häufig geht es auch um Identität – z. B. Geschlechtsidentität, Gender-Themen – und um Kindeswohlgefährdung. Die Anonymität und leichte Zugänglichkeit des Chats, der 24/7 viel unauffälliger als ein Telefonanruf auch von zu Hause aus erreichbar ist, holt viele Kinder und Jugendliche aus dem Dunkelfeld der Kindeswohlgefährdungsfälle. Sie würden ansonsten im Versorgungssystem gar nicht auftauchen. Wenn Kinder und Jugendliche zu Hause andauernder psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt sind, ist der Weg raus aus dem Dunkelfeld, beginnend damit, zum ersten Mal darüber zu sprechen, bis hin zu einer realen Hilfe – einer Schulsozialarbeiterin oder sogar dem Jugendamt –, oft sehr schwierig und langwierig. Das lässt sich nicht in einer einzigen Chatberatung lösen, da ist eine kleinschrittige, längerfristige Begleitung notwendig. Das macht unser Fachteam.
 


Wir versuchen, die Selbstwirksamkeit zu stärken, gemeinsam zu überlegen, was man gegen die Einsamkeit tun kann und was möglicherweise der Grund für sie ist.“



Sie bieten ja selbst keine Therapie an, sondern sind eine Schnittstelle, um Kinder und Jugendliche dabei zu unterstützen, in der realen Welt Hilfe zu finden. Gibt es wie bei einer Therapiestunde eine zeitliche Begrenzung für den Chat?

Wir sind eine Krisenintervention, unsere Ressourcen sind leider sehr begrenzt. Deshalb sollte ein Beratungsgespräch per Chat nicht länger als 60 Minuten dauern und nicht öfter als vier Mal im Monat stattfinden. Wir wollen die Kinder und Jugendlichen nicht im Chat gefangen halten, sondern sie dabei unterstützen, den Schritt raus in eine reale Hilfe zu machen oder sich ihren Bezugspersonen anzuvertrauen. Die Fälle von Kindeswohlgefährdung sind anders gelagert. Da orientieren wir uns daran, was benötigt wird, und waren auch schon mal zehn Stunden im Chat mit einem Kind, bis eine reale Hilfe vor Ort war. Aber das ist zum Glück nicht die Regel, sondern betrifft akute Gefahrensituationen. Ansonsten suchen wir langfristig nach einem Weg für die betroffenen Kinder und Jugendlichen, dass sie sich öffnen und jemandem anvertrauen können.

Arbeiten Sie in akuten Fällen auch mit der Polizei zusammen?

Ja, insbesondere wenn es um Suizidalität geht, bei Kindeswohlgefährdung kann die Polizei oft nicht viel tun, weil längerfristige Lösungen gefunden werden müssen. Zur Suizidalität haben wir gemeinsam mit der Polizei Leitfäden entwickelt und enorm viel voneinander gelernt. Zusammen haben wir so gute Deeskalationsmechanismen entwickelt, dass es immer seltener geworden ist, dass wir die Polizei miteinbeziehen müssen. Wenn wir es dann doch einmal machen müssen, weiß die Polizei auch genau, was schon geschehen ist und was die nächsten Schritte sind.

Wenden sich gleichermaßen Mädchen und Jungen an Sie?

Da gibt es, wie bei allen psychosozialen Hilfsangeboten, ein deutliches Missverhältnis, ca. 80 % unserer Nutzer*innen definieren sich als weiblich. 16 bis 17 % sind männlich gelesene Personen, ungefähr 4 % identifizieren sich selbst als divers. Wir versuchen, Jungen und junge Männer besser zu erreichen und überhaupt erst einmal durch eine zielgruppenspezifische Ansprache in einen Austausch mit ihnen zu treten. Zusammen mit der Techniker Krankenkasse (TK) haben wir ein großes Projekt gestartet, das heißt nicht mehr Krisenchat, sondern noch niedrigschwelliger: „Was’ los mit dir?“ Ein Fachteam mit vielen männlichen Kollegen ist mit diesem Projekt auf Gaming-Plattformen, bei Twitch, Reddit und Discord unterwegs, sie haben auch einen eigenen Instagram-Account. Die Ansprache funktioniert bei Jungen und jungen Männern einfach anders. Mit diesem Projekt schauen wir, wie wir diese Zielgruppe erreichen und stärken können. Vielleicht ist Chat einfach nicht ihr Medium, möglicherweise geht es mehr darum, ganze Communitys anzusprechen und sie langfristig darin zu stärken, sich auch zu öffnen und über ihre Innenwelt zu sprechen. Jungen haben ja nicht weniger psychische und soziale Probleme als Mädchen.

Wie alt sind die Kinder und Jugendlichen, die sich an Sie wenden?

Das jüngste Kind war 6 Jahre alt, wir beraten bis 25. Das Durchschnittsalter der Hilfesuchenden ist 14, es variiert auch ein bisschen je nach Thema. Das mittlere Jugendalter, 14 bis 16 Jahre, ist unsere primäre Zielgruppe.

Spielt Einsamkeit in den Chats eine große Rolle?

Zunehmend, ja. Gerade für diese Kinder und Jugendlichen ist es schon entlastend, überhaupt mit jemandem zu sprechen, mit einem anderen Menschen in einen Dialog zu treten. Wir versuchen, die Selbstwirksamkeit zu stärken, gemeinsam zu überlegen, was man gegen die Einsamkeit tun kann und was möglicherweise der Grund für sie ist. Oft haben die Betroffenen soziale Ängste, oder familiäre Konflikte werden als so belastend erlebt, dass die Kinder und Jugendlichen deshalb wenig nach draußen gehen. Mobbing ist häufig ein Grund für Einsamkeit. Die wenigsten Kinder und Jugendlichen müssten allein sein, meist gibt es einen anderen Grund, der hinter der Einsamkeit steht, z. B. mangelndes Zugehörigkeitsgefühl.
 


Soziale Medien sind Fluch und Segen zugleich.“



Was Sie bislang beschrieben haben, ist ja eine sehr verbindende digitale Streetwork, die ohne die sozialen Medien gar nicht möglich wäre. Sehen Sie in den sozialen Medien eher eine Chance, Einsamkeit zu überwinden, oder machen diese Medien doch in erster Linie einsam?

Beides. Soziale Medien sind Fluch und Segen zugleich. Ich halte es für wichtig, dass wir mit unseren Inhalten in den sozialen Medien positive andere Akzente setzen, auf TikTok z. B., wo die Algorithmen für ein hohes Suchtpotenzial sorgen. Gefahren gibt es natürlich auch: Gerade junge Mädchen vergleichen sich sehr viel, auf Instagram beispielsweise, mit Blick auf unrealistische, optimierte Körperbilder oder geschönte Darstellungen eines glücklichen und erfolgreichen Lebens. Da findet definitiv eine Verzerrung der Realität statt, die Druck erzeugt und vielen – gerade Kindern und Jugendlichen in sensiblen Entwicklungsphasen oder akuten Krisen – nicht guttut. Auch Einsamkeitsgefühle können sich verstärken, wenn man sich immer ansieht, wie toll und schön das Leben der anderen auf Instagram aussieht. Das kann ein Gefühl der Entfremdung von dem Rest der Peers oder der Gesellschaft hervorrufen oder verstärken. Nicht wenige fühlen sich dadurch sehr ausgeschlossen, auch wenn sie eigentlich ganz viel in Kontakt sind mit anderen Menschen, viele Follower und Freunde haben. Das sagt nichts darüber aus, wie es sich innerlich anfühlt. Andererseits kann es gerade für Kinder und Jugendliche im ländlichen Raum, die sich einer bestimmten marginalisierten Gruppe oder Geschlechtsidentität zugehörig fühlen und keine Peers in ihrer unmittelbaren Umgebung finden, sehr verbindend sein, über Social Media und das Internet Menschen kennenzulernen, denen es ähnlich geht. Im digitalen Raum können intensive Freundschaften entstehen.

Wie finanziert sich der Krisenchat?

Wir sind eine gemeinnützige GmbH, das heißt, wir sind auf Spenden angewiesen. Außerdem arbeiten wir mit Krankenkassen, Stiftungen, aktuell auch dem Familienministerium zusammen. Die Nachfrage ist enorm, 30 bis 40 % der Hilfesuchenden müssen wir vertrösten, weil wir ihnen keine Beratung anbieten können – obwohl wir mit über 500 Ehrenamtlichen, die alle Fachkräfte sind, und einem Team von 120 Personen schon daran arbeiten.

Melanie Eckert ist Psychologin und eine der Gründer*innen von Krisenchat, einem Beratungsangebot für Kinder und Jugendliche.

Christina Heinen ist Hauptamtliche Prüferin in den Prüfausschüssen der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).