Digitale Transformation

Jan-Felix Schrape

Bielefeld 2021: transcript
Rezensent/-in: Lothar Mikos

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 4/2022 (Ausgabe 102), S. 84-85

Vollständiger Beitrag als:

Digitale Transformation

Digitalisierung ist in aller Munde, da immer mehr Lebensbereiche von digitalen Informationstechniken bestimmt werden. Apologeten und Apokalyptiker sind dann nicht fern, die die positiven oder eben die negativen Folgen dieser Entwicklung hervorheben. Der Stuttgarter Soziologe Jan-Felix Schrape dagegen wählt einen nüchternen Blick, da sich seiner Meinung nach viele Konsequenzen der Digitalisierung noch gar nicht abschätzen lassen, denn die Veränderungen zeigen sich „in aller Regel nicht als radikaler Bruch in kurzer Frist“, sondern sie finden allmählich statt (S. 41). Er arbeitet sechs gesellschaftliche Entwicklungen heraus, die als Rahmenbedingungen für die digitale Transformation gelten können: 1) die Synchronisation des Zeitempfindens mit der Erfindung mechanischer Uhren, 2) die Ausweitung der Kultur- und Wirtschaftsräume durch Medien und Mobilität, 3) die Säkularisierung und Rationalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse, 4) die Verstetigung und Verselbstständigung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, 5) die Technisierung und Informatisierung sozioökonomischer Zusammenhänge sowie 6) die allgemeine Wohlstandsexpansion im 20. Jahrhundert, die u. a. ermöglichte, dass technische Geräte in unseren Alltag Einzug hielten (vgl. S. 50 f.). Daran zeigt sich, dass Entwicklung und Anwendung von Technik immer mit gesellschaftlichen und sozialen Prozessen verbunden sind. Schrape spricht daher von der „Koevolution von Technik und Gesellschaft“ (S. 41 ff.).

Die Digitalisierung als soziotechnischen Transformationsprozess zeichnet er dann historisch von der Erfindung des Computers bis zu den heutigen Plattformunternehmen nach. So lassen sich fünf Phasen unterscheiden: von der aufscheinenden Informationsgesellschaft als Idee ab den 1950er-Jahren über die Computerisierung der Lebenswelt seit den 1980er-Jahren, die gesellschaftliche Aneignung des Internets in den 1990er-Jahren, den Aufstieg der Plattformunternehmen und das sogenannte Web 2.0 in den 2000er-Jahren bis hin zur sozialen Vergegenwärtigung der Digitalisierung seit etwa 2010 (vgl. S. 81).

Allerdings ist die Entwicklung ambivalent, denn auf der einen Seite führt die Digitalisierung zu einer Erweiterung der Möglichkeiten individueller Erfahrungen, auf der anderen Seite kommt es aber wiederum zu technischen Einschränkungen, z. B. durch Algorithmen, sowie zu einer Anbieterkonzentration (vgl. S. 79). Diese Ambivalenzen zeigen sich auch in den Bereichen „Markt“, „Arbeit“, „Organisation“, „Kooperation“ und „Kollektivität“, die sich zwischen Dezentralisierung und Zentralisierung, Flexibilisierung und Standardisierung, Horizontalisierung und Reformalisierung, Öffnung und Schließung sowie Erweiterung und Kontrolle bewegen (vgl. S. 87 ff.). Die Digitalisierung passt sich hier der generellen Technisierung an, denn „die gesellschaftliche Entwicklung fußt freilich seit jeher auf der sozialen Indienstnahme technischer Strukturen, deren Leistungen konstitutiv für unsere moderne Lebenswelt geworden sind“ (S. 145).

Im Medienbereich zeigt sich deutlich, wie die Digitalisierung die gesellschaftliche Kommunikation verändert hat. Diesen Entwicklungen widmet Schrape ein eigenes Kapitel. Darin setzt er sich ausführlich mit den von ihm kristallisierten fünf Kerndynamiken der öffentlichen Kommunikation auseinander: 1) die Plattformisierung der Medienstrukturen, 2) die Individualisierung der Medienrepertoires, 3) die Pluralisierung der Öffentlichkeitsarenen, 4) das veränderte Verhältnis sozialer und technischer Strukturierungen in der Aushandlung öffentlicher Sichtbarkeit und 5) die Dynamisierung gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktionen (vgl. S. 149 ff.). Gerade in den Unterhaltungsmedien tritt den Nutzer*innen eine Fülle an Angeboten gegenüber, die zu Orientierungslosigkeit führen können. Daher „werden auch auf abonnementbasierten Unterhaltungsplattformen algorithmisch gestützte Kuratierungs- und Strukturierungsleistungen notwendig, die dem subjektiven Gefühl eines content overflows entgegenwirken können und eine erste allgemeine Orientierungsbasis bieten“ (S. 159, H. i. O.). Die Plattformbetreiber haben die Macht der Kuratierung, denn sie definieren ihre Algorithmen. Es gibt in der gesellschaftlichen Kommunikation nicht mehr die eine Öffentlichkeit, die durch Massenmedien hergestellt wird, sondern Schrape spricht von verschiedenen Öffentlichkeitsarenen, die allerdings miteinander verbunden sind: Neben der klassischen massenmedialen Arena nennt er die Werbe- und Organisationsarena, die Influencerarena, die Expertenarena, die massenmedial hergestellte Diskussionsarena, die allgemeine Diskussionsarena sowie die persönliche Arena. Die digitale Kommunikation lässt die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit durchlässiger werden, auch wenn die Gesellschaft sich in ihren Diskussionen immer noch auf diese vermeintlichen Gegensätze bezieht.

Zusammenfassend stellt Schrape fest: „Die digitale Transformation der Kommunikations- und Öffentlichkeitsstrukturen mündet insofern keineswegs in einer radikalen Erosion aller langfristig stabilisierten Prozesszusammenhänge. Sie geht aber zugleich weit über einen bloßen Wandel etablierter Produktions-, Verbreitungs- und Rezeptionsmuster hinaus“ (S. 198). Die Digitalisierung wird als „integraler Bestandteil sozialen Wandels“ gesehen (S. 201). Dabei kommt vor allem den „facettenreichen sozialen Aneignungs- und Aushandlungsprozessen, die wiederum in vielfältige gesellschaftliche Rahmenbedingungen eingelassen sind“, eine bedeutende Rolle zu (S. 206). Schrape gelingt es, die Aspekte der digitalen Transformation ausführlich zu strukturieren und zu diskutieren. Zahlreiche Beispiele veranschaulichen seine Ausführungen. Auch wenn seine Überlegungen auf die Entwicklungen in der westlichen Welt beschränkt bleiben, wie er selbst kritisch anmerkt, zeigt das Buch doch, von welchen Ambivalenzen die digitale Transformation gekennzeichnet ist. Damit bietet es genügend Argumente, um sowohl den Apologeten als auch den Apokalyptikern der Digitalisierung entgegenzutreten. In einer Empörungsgesellschaft sind Bücher wie dieses, das aktuelle Phänomene nüchtern beschreibt und analysiert, für Diskussionen in den verschiedenen Öffentlichkeitsarenen unverzichtbar.

Prof. i. R. Dr. Lothar Mikos