Diversität im internationalen Vergleich: von Ghana bis Tokio
Im Gespräch bei der TV-Konferenz „INPUT 2022 Barcelona“
Nur Schwarze dürfen Schwarze übersetzen. Was ist mit Schauspieler:innen of Color, die weiße historische Figuren spielen? Wie sieht es aus mit nonbinären Personen, Vertretern der LGBTQ+-Community oder Menschen mit Einschränkungen? Frauen?
Das Thema „Diversity“ bewegt schon seit einigen Jahren die Gemüter und beschäftigt zunehmend Personaler und Medienschaffende. Was ursprünglich eine Forderung der Frauenbewegung nach „Geschlechtergerechtigkeit“ war, hat in den komplexen Strukturen der modernen europäischen Gesellschaft eine andere Dimension angenommen. Eine wachsende Vielfalt von Lebensstilen, sozialen Milieus, ethnischen Gruppierungen und Religionen sowie das in der hiesigen Öffentlichkeit vermehrte Sichtbarwerden diverser Geschlechteridentitäten prägen den Diskurs und die Entwicklungen.
„Diversität“, so heißt es bei Wikipedia, „bezeichnet ein Konzept der Soziologie und Sozialpsychologie zur Unterscheidung und Anerkennung von Gruppen- und individuellen Merkmalen […]. Diversität von Personen […] wird klassischerweise auf folgenden Ebenen betrachtet: Alter, ethnische Herkunft und Nationalität, Geschlecht und Geschlechtsidentität, körperliche und geistige Fähigkeiten (früher verengt auf das Merkmal ‚Behinderung‘), Religion und Weltanschauung, sexuelle Orientierung und Identität sowie soziale Herkunft (so die Charta der Vielfalt)“ (Wikipedia 2022, H. i. O.).
Die Anerkennung diverser Gruppen beinhaltet in medialen Zusammenhängen auch deren Abbildung: die Vielfalt sichtbar zu machen, die Menschlichkeit der „anderen“ in der Gemeinschaft zu zeigen, damit etwas Empathie entstehen kann. Gerade Fernsehsendern und Medienmacher:innen, die mit ihren Bildern die Gesellschaften prägen, fällt dabei eine besondere Rolle zu. Wo genau befindet sich die Debatte, wie weit ist die Umsetzung der Diversitätskonzepte in Fernsehanstalten in den verschiedensten Ecken der Welt gediehen?
Bei der diesjährigen TV-Konferenz „INPUT“ in Barcelona nutzte ich die Gelegenheit, um mit Kolleg:innen aus aller Welt ins Gespräch zu kommen.
Weit vorn: die ehemalige Kolonialmacht Niederlande
„In den Niederlanden ist es ein gesellschaftlich und politisch heißes Thema“, erzählt Sherida Zorg, Projektmanagerin „Diversity & Inclusion“ bei NPO. „Wir wissen, dass der Einfluss der Medien auf die Gesellschaft groß ist. Medien können die Gesellschaft zusammenbringen, aber auch zu Polarisierung und Ausgrenzung beitragen, da sie maßgeblich das Selbst- und Fremdbild in unserer Gesellschaft prägen. Als öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt haben wir die Verantwortung, damit sorgfältig und ehrlich umzugehen. Das fängt damit an, dass wir uns bewusst sind, welchen Einfluss wir haben und wie wir unseren Einfluss nutzen. NPO muss daher für ein inklusives Medienangebot sorgen, in dem alle Menschen in unserer Gesellschaft gleichberechtigt einbezogen, angesprochen und vertreten werden. Nachdem wir 2020 einen Aktionsplan gestartet und unsere Programminhalte geprüft hatten, wurde beschlossen, sich zunächst auf die Themen ‚Gender‘, ‚bikultureller Hintergrund‘ und ‚Menschen mit Beeinträchtigungen‘ zu fokussieren, damit konkrete Schritte erarbeitet werden können.“ Aber es werde auch an der Diversität des Personals gearbeitet – im Hinblick auf Migrationshintergrund, Menschen mit Beeinträchtigungen und Gender. Der Realitätscheck: 2021 wurde bei einer Sichtbarkeitsstudie die Vielfalt der in prominenten Positionen Beschäftigten bei drei Fernsehsendern und einem Radiosender untersucht und festgestellt, dass 12,1 % im Fernsehen und 4,5 % im Radio einen bikulturellen Hintergrund haben, 40,6 % der Beschäftigten im Fernsehen und 32,1 % im Hörfunk Frauen sind und 0,7 % Menschen mit einer Behinderung.
About us, not without us: USA
In den USA sei die Struktur, die Repräsentation hinter der Kamera bei den Programmentscheidern und ‑machern in Bezug auf Vielfalt und Inklusion wirklich mangelhaft, sagt Xavier Blake, Content and Engagement Manager bei dem TV-Sender WMHT in Troy, New York. „Was den Inhalt und die Geschichten angeht, so ist die Repräsentation gut. ‚Nichts über uns ohne uns‘ ist das Zitat, das ich jetzt oft höre. Ich glaube, die Fernsehsender haben erkannt, dass es unmöglich ist, Geschichten über Randgruppen zu erzählen, ohne diese Gruppen vorher mit einzubeziehen. Wir haben keine spezifischen Quoten, die wir abhaken müssen, aber jeder schaut sich die Repräsentation genauer an und denkt darüber nach, wie sie vielfältiger gestaltet werden könnte und wie sie den Zuschauern, die wir bedienen, ähnlicher wird. Niemand sagt, dass wir auf jeden Fall eine Frau, eine Person of Color oder eine Person aus der LGBTQ-Community brauchen, nur weil keine vorhanden ist. Wir versuchen deutlich zu machen, dass Vielfalt nicht nur ein Mehrwert ist, sondern ein Bestandteil von allem sein sollte, was wir tun, weil sie die Inhalte, Ideen und Innovationskraft deutlich nach vorne bringt.“
‚Nichts über uns ohne uns‘ ist das Zitat, das ich jetzt oft höre. Es ist unmöglich, Geschichten über Randgruppen zu erzählen, ohne diese Gruppen vorher mit einzubeziehen.
Divers und indigen: Kanada
Der kanadische Sender CBC hingegen hat schon 2017 ein Programm aufgelegt, um Diversität unter Führungskräften zu fördern: das Developing-Diverse Emerging Leaders Program (DEL), so die in den Vereinigten Arabischen Emiraten aufgewachsene Tarannum Kamlani, Senior Producer, CBC Radio. Sie hat das Programm selbst durchlaufen. „DEL wurde ins Leben gerufen als Reaktion auf die Erkenntnis, dass diverse Arbeitnehmer:innen zwar in den unteren Rängen des Unternehmens vorhanden sind, die Führungspositionen (leitende Produzent:innen und darüber) jedoch immer noch weitgehend von Weißen besetzt waren. Mitarbeiter:innen mit Führungspotenzial soll dabei geholfen werden, systembedingte Hindernisse für ihren Aufstieg zu überwinden. Das Training ist darauf ausgelegt, nicht nur Führungsqualitäten zu vermitteln, sondern auch dabei zu helfen, sich selbst als Führungspersönlichkeit zu sehen. Vorbilder gab es ja keine.“ Der öffentlich-rechtliche Sender CBC bedient ein großes und mit zahlreichen indigenen Bevölkerungsgruppen in 20 Regionen ein sehr diverses Sendegebiet. Die Abteilung „Gleichberechtigung und Inklusion“ hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Vielfalt widerzuspiegeln. Seit 2021 wird die Diversität des Programms sogar gemessen. Das sogenannte „Content Tracking“ solle nicht Kriterien abhaken, sondern die grundsätzliche Frage stellen: Wie muss unser Journalismus aussehen, um sein Zielpublikum noch besser zu erreichen?
Für eine „Gesellschaft, in der wir zusammenleben können“: Japan
Von solchen Feinheiten ist man in Japan noch weit entfernt. „Es gibt keine spezifischen Vorgaben, wie vielfältig das Programm sein muss“, erläutern Akiko Murai und Mayuko Hori, die beiden Senior-Producerinnen vom japanischen Sender NHK. „Die NHK-Richtlinien legen fest, dass wir das Verständnis für Menschen mit unterschiedlichen sozialen Bedürfnissen durch unsere Inhalte vertiefen sollen und dass unser Publikum durch Sendungen über die Herausforderungen einer ‚Gesellschaft, in der wir zusammenleben können‘, zu informieren und zum Nachdenken anzuregen sei. Es gibt ein Team innerhalb der Produktionsabteilung, das sich mit diesen Themen auseinandersetzt. Dessen Budget wurde in den letzten Jahren aufgestockt. Außerdem gibt es seit den Olympischen Spielen 1964 in Tokio wöchentliche Radiosendungen für Sehbehinderte, in die regelmäßig Beiträge von Behindertenorganisationen einfließen. Vielfalt und Inklusion wurden in den letzten Jahren recht aktiv gefördert, was zu einem regen Austausch führte. Obwohl wir im internationalen Vergleich zurückliegen, haben wir beide den Eindruck, dass bei NHK inzwischen das Gefühl vorherrscht, dass ‚etwas getan‘ werden muss.“
Laut dem Global Gender Gap Report 2022 des Weltwirtschaftsforums liegt Japan auf Platz 116 von 146 Ländern und hinkt damit bei der Förderung der Gleichstellung der Geschlechter hinterher – trotz eines Frauenfördergesetzes von 2015. Doch es tut sich etwas. Die Japanese Broadcasting Corporation NHK legte 2021 in einem Aktionsplan fest, dass bis 2025 im Management 15 % und bis 2030 25 % Frauen sein sollen. In Barcelona stellte der Sender mit Our Rainy Days ein Fernsehspiel vor, in dem die Probleme zweier menstruierender Frauen bei einem Fotoshooting im Vordergrund stehen und eine Transperson einem überforderten Assistenten im Laden hilft, die richtige Binde zu kaufen. Szenen, die ihresgleichen auch hierzulande suchen. Vielleicht ist NHK schon viel weiter, als man angesichts der Zahlen denken würde.
Gender Equality bei den Eidgenossen
Auch die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) setzt sich dafür ein, den Frauenanteil in Führungspositionen laufend zu erhöhen. Hier liegt die Frauenquote aktuell schon bei 30 %, Tendenz steigend. Zudem wird in der Initiative 50:50 angestrebt, so viele Frauen wie Männer als Expert:innen ins Programm zu holen, um die gesellschaftliche Realität widerzuspiegeln. Ein nationales Diversity Board schaffe Verbindlichkeit in der Umsetzung von Diversitätszielen, u. a. durch das Verankern von Diversität in der Unternehmens- und Angebotsstrategie, erzählt Din-Badara Ndiaye, seit Mai 2022 Spezialistin für Diversität und Inklusion bei der SRG. „Seit Januar 2022 gibt es zusätzlich regionale Fachstellen für Diversität und Inklusion, wobei das Diversitätsprinzip zunächst vor allem auf Gendergerechtigkeit, LGBTQ+ und Ethnizität fokussiert ist. Im Diskurs sind Diskriminierung im Alter, Diskriminierung aufgrund von Elternschaft, Religion und der politischen Einstellung.“
Das Diversity Board ist Teil der Gender Equality Steering Group der in Genf ansässigen European Broadcasting Union (EBU), die sich mit der Förderung von Diversität und Geschlechtergerechtigkeit von öffentlich-rechtlichen Medienhäusern in Europa befasst. 2021 befand eine Studie, dass Frauen in den Medien immer noch unterrepräsentiert sind, vor allem on air in den Nachrichten. Im mittleren Management ist bei einem Frauenanteil von 45 % die Lücke fast geschlossen, und selbst in den Intendanzen sind Frauen mit 29 % deutlich besser aufgestellt als in den kommerziellen Medien, wo nur 8 bis 10 % der Topjobs von Frauen besetzt sind. Die 1 bis 2 % europäischer Trans- und Genderminoritäten sind allerdings durchgängig unterrepräsentiert.
Woke – oder nicht? Dänemark
In Dänemark beschäftigt man sich nicht vornehmlich mit Trans- oder Genderminoritäten, sondern vor allem mit der Repräsentation von Frauen im Mediengeschäft. Auch hier gibt es, laut einer Studie der Universität Roskilde, eine entscheidende Lücke zwischen männlichen und weiblichen Quellen im Nachrichtengeschäft, während in fiktionalen Formaten die Quote so gut ist wie noch nie. Diversität sei aber ein großes Thema unter seinen Studierenden, meint Nikolaj Christensen von der Danish School of Media and Journalism. „Aus meiner Sicht gibt es dafür zwei Gründe. Der eine ist, dass man es für wichtig erachtet, alle Menschen einzubeziehen und sie so zu respektieren, wie sie sind. Aber es scheint auch eine Angst zu geben, etwas falsch zu machen und dafür verurteilt zu werden. Daher achten alle sehr genau darauf, was richtig oder falsch ist und welche Worte in welchem Zusammenhang verwendet werden können.“ Die Abbildung der gesellschaftlichen Vielfalt im Sinne von Ethnien, Kultur, Andersartigkeit, Sexualität oder Beeinträchtigungen sei bei den dänischen Fernsehsendern DR oder TV 2 in die bestehenden Sendungen zu integrieren. Es würden – im Gegensatz zum norwegischen Fernsehen NRK – keine speziellen Formate für diverse Zielgruppen produziert, um die Repräsentation zu sichern, sondern es werde auf eine diverse Besetzung des allgemeinen Programms geachtet.
Vielfalt in Ghana
In dem westafrikanischen Land Ghana und seinen Medien fächert sich der Begriff „Diversität“ noch einmal ganz anders auf. Es gehe zunächst einmal darum, die Nachwirkungen und Privilegien der Kolonialstrukturen abzuschütteln, die Zweiteilung des Landes und seiner über 100 ethnischen Gruppen in den ärmeren Norden und die sogenannte Goldküste im Süden, erklärt Jim Fara Awindor, Dekan des African University College of Communications in Accra. Es gebe zahlreiche Stereotype und Vorurteile, die noch aus dieser Zeit stammten. Wo man aber in den Medien Ghanas schon recht weit sei, sei bei der religiösen Diversität. Muslimische und christliche Perspektiven würden gleichberechtigt diskutiert, auch wenn die Muslime in der Minderheit seien und bisweilen auch religiöser Extremismus um sich greife.
Im Fernsehen werden Frauen immer sichtbarer, es gibt inzwischen mehr weibliche News-Anchor als männliche.
„Frauen sind in den paternalistischen afrikanischen Gesellschaften traditionell unterrepräsentiert, aber das ändert sich langsam. Während im Film keinerlei weibliche Narrative stattfinden, ist das im Fernsehen anders. Dort werden Frauen immer sichtbarer, es gibt inzwischen mehr weibliche News-Anchor als männliche. Das ändert etwas. Eine ausgesprochene Repräsentationsstrategie gibt es aber nicht: Menschen mit Beeinträchtigungen, Dicke, Kleinwüchsige u. a. haben ihre Programme hier im ghanaischen Fernsehen. Es gibt auch einen Schönheitswettbewerb Ghana’s Most Beautiful, in dem Körper- oder Kleidergröße keine Rolle spielen. Was wir zu wenig haben, sind Kinderprogramme.“ Die Diskussion von LGBTQ+-Themen im Fernsehen sei in Ghana und den meisten afrikanischen Ländern tabu. Seit 2021 liegt dem ghanaischen Parlament ein Gesetzentwurf vor, der die Identifikation als LGBTQ+ komplett verbieten will. Jetzt könne man im Fernsehen aber wenigstens über das Thema diskutieren – allerdings nur strikt im Zusammenhang mit dem Entwurf, so Awindor.