Drei Perspektiven auf Repräsentation und Diversität

ECREA Television Section Conference 2023

Tinett Marie Kähler

Tinett Kähler ist seit 2019 als Freiberuflerin mit den Schwerpunkten Grafikdesign und Fotografie tätig. Nach dem Bachelor in Digitaler Medienkultur an der Filmuniversität Babelsberg, schließt sie an derselben Universität ein Masterstudium in Medienwissenschaften an, um theoretisches und praktisches Wissen über Medien, Ästhetik und Kommunikation zu verbinden.

Als Master-Studentin im ersten Jahr der Medienwissenschaft an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF durfte ich an der Television Section Conference der European Communication Research and Education Association (ECREA) in Potsdam teilnehmen. Diese fand vom 25. bis 27. Oktober zum Thema Redefining Televisuality: Programmes, Practices, Methods statt. Die Konferenz lud Forschende der Medienwissenschaft ein, sich kritisch mit dem Konzept der „Televisualität“ nach John T. Caldwell auseinanderzusetzen. Aufgrund der einflussreichen Rolle, die Medien in Gesellschaften spielen, darf eine Diskussion über Repräsentation und Diversität nicht vernachlässigt werden. Als Mitglied des Programmkomitees unseres internationalen Studierendenfilmfestivals Sehsüchte im kommenden Jahr 2024, ist es mir ein besonderes Anliegen, das Bewusstsein für die Repräsentation von Minderheiten und Randgruppen zu schärfen.

Online seit 29.12.2023: https://mediendiskurs.online/beitrag/drei-perspektiven-auf-repraesentation-und-diversitaet-beitrag-772/

 

 

Repräsentation und Diversität in Serien

Das Panel Representation & Diversity bot den beteiligten Redner*innen die Gelegenheit, ihre individuellen Themenschwerpunkte und Forschungsergebnisse aus unterschiedlichen Teilen der Welt darzulegen. Die erste Rednerin, Traci B. Abbott von der Bentley University, USA, stellte ihr Forschungsprojekt mit dem Titel Gen Z Sexual & Gender Fluidity in U.S. Scripted Television vor, das US-Fernsehsendungen mit plurisexuellen und nicht-binären Gen-Z-Charakteren untersucht. Abbott kritisiert, dass die fehlende Diversität auf dem Bildschirm immer noch in einem Mangel an Vielfalt bei den Macher*innen der Produktionen wurzele. Sie zeigt auf, dass Showrunner*innen, Regisseur*innen, Autor*innen oder Produzent*innen insbesondere fiktiver Serien überwiegend weiße, heterosexuelle Cis-Männer sind. Weiterhin handle es sich bei dem ohnehin kleinen Prozentsatz der in der Fernsehbranche tätigen LGTBQ-Personen mehrheitlich entweder um binäre trans* Personen, also trans* Männer und trans* Frauen, oder männliche Monosexuelle. Monosexualität beschreibt – im Gegensatz zur Plurisexualität – eine sexuelle Orientierung, bei der man sich ausschließlich zu einem Geschlecht hingezogen fühlt. Der Begriff kann sich also sowohl auf rein homo- als auch rein heterosexuell empfindende Menschen beziehen.

Abbotts Einschätzung wirft die Frage auf, ob Filmemacher*innen in der Lage sind, authentische Geschichten über Beziehungen zwischen Teenagern, das Erwachsenwerden oder die Komplexität von Teenager-Sexualitäten und Geschlecht im Allgemeinen zu erzählen. Schließlich werden die meisten von ihnen nie entsprechende Erfahrungen gesammelt haben.

Anhand kommerziell erfolgreicher Beispiele wie Euphoria (seit 2019), Genera+ion (2021) oder Gossip Girl (2007-2012) argumentierte Abbott außerdem, dass bestimmte explizite Sexszenen auf ein jugendliches Publikum „schockierend“ oder sogar „abstoßend“ wirken könnten. Der Trend zur Hypersexualisierung in Spielfilmen und Serien könne sich demnach negativ auf Jugendliche auswirken. Die Wissenschaftlerin betont, dass ihrer Vermutung nicht Prüderie zugrunde liegt, sondern viel mehr der Befürchtung, dass Jugendliche abgeschreckt werden, ihre eigene Sexualität zu erkunden. Ein weiteres Problem sei, dass Jugendliche nicht genügend alternative Beziehungsmodelle zur traditionellen Paarbeziehung gezeigt bekämen und dass Sex häufig im Zusammenhang mit Drogenkonsum erzählt würde.
 

euphoria | promise season 1 | official teaser | HBO (euphoria, 11.04.2019)



In der Diskussion nach dem Panel sprach Abbott eine weitere Beobachtung in diesem Zusammenhang an: Während in der Vergangenheit (und auch gegenwärtig) mehrheitlich sexualisierte und freizügige Darstellungen von Frauen in Filmen und Serien gezeigt werden, sind zunehmend sexualisierte Darstellungen von Männlichkeit zu sehen. Kann dies wirklich als Reaktion der Industrie auf feministische Forderungen und gegen den Male Gaze gesehen werden?
 

Die Selbstinszenierung von Netflix als Vorreiter der Diversität

Der nächste Panelgast, Tim Raats von der Vrije Universität Brüssel, stellte sein Forschungsprojekt vor, das er gemeinsam mit Axelle Asmar und Leo van Audenhove verfolgt: Globalizing difference(s): Netflix's teen series and the global localization of diversity. Sie stellen fest, dass sich die Akteure für SVoD-Angebote (neu) formen: Netflix und die Transnationalisierung der TV-Produktion führen zu einer Veränderung der Vergabe-Strategien (in puncto Format, Umfang, Budgets, Koproduktionen, Rechte und Einbehaltung). Dies spiegelt sich zunächst vor allem in einer Veränderung der Produktionspraktiken wider, schließlich aber auch in der Erzählpraktik.

Raats und seine Kolleg*innen zeigen, wie Netflix sich als „driver“, als Treiber, für die Integration unterrepräsentierter Gemeinschaften inszeniert. Die Marketingstrategien des Unternehmens drehen sich der Forscher*innengruppe zufolge um vier Schlüsselnarrative: Erstens bezeichne sich Netflix als „the driver for change“; das Unternehmen sehe sich als Absicherung einer Repräsentationsindustrie angesichts des demografischen Wandels. Des Weiteren sei Netflix, „the future of new talents“: Netflix adressiert bei der Personalanwerbung primär junge und diverse Talente. Drittes sehe sich Netflix als „the key local investor“; demnach trage das Unternehmen zur Entfaltung lokaler Talente und Branchen bei und unterstütze regionale Industrien. Letztlich bezeichne sich Netflix als „the window to the world“: mit der Förderung marginalisierter Talente, Genres und Branchen vergrößere der Streamingdienst die globale Reichweite dieser Gruppen. Raats ergänzt:

Diese Narrative sind mehr als nur Branding. Es sind strategische Maßnahmen, um sich einen erstrangigen Zugang zu (jungen) Talenten und lokalen Industrien zu sichern.“

Er fügt hinzu, dass ihre Forschungsarbeit allerdings keine Beweise dafür liefern kann, dass dies tatsächlich die Geschäftsstrategie von Netflix ist.
 

Queer Televisuality aus Australien

Damien O'Meara von der Swinburne University of Technology bot eine einzigartige Perspektive auf queere Televisualität in Australien. Der Doktorand präsentierte seine Ergebnisse zum Thema Queer televisuality: a holistic approach to analysing onscreen LGBTQ+ representations in scripted television. Auf der Grundlage von John T. Caldwells Arbeit zu Televisualität untersucht Damien O'Meara queere Televisualität in Australien aus drei unterschiedlichen Perspektiven: erstens, als ein Produkt der Branche, zweitens, als eine Funktion des Publikums und drittens als ein Produkt der Wirtschaftskrise. Seine Arbeit stützt sich auf 18 Interviews mit Fachleuten aus der Film- und Fernsehbranche. Darüber hinaus gab O'Meara Einblick in die Geschichte des australischen Fernsehens. Bis 2005 war das australische Fernsehen als solches recht limitiert, da es nur fünf Kanäle gegeben habe. Queere Televisualität hat sich laut O'Meara erst in den 2000er- und 2010er-Jahren entwickelt. Australien sei ein kleiner Markt, Produktionen seien auf staatliche Unterstützung angewiesen, um vielfältigere Filme und Serien zu produzieren. Ein Zitat aus den Interviews verdeutlicht, wie die Finanzierungspolitik Queerness auf dem Bildschirm in Australien beeinflusst:

Ich glaube, dass es einen großen Einfluss hatte, dass Filmförderanstalten Diversität zu einem Teil der Finanzierungsmatrix machten. War ein Stoff oder Konzept nicht divers genug, bekam man kein Geld. Ich glaube, das hat auch die kommerzielle Seite des Geschäfts beeinflusst. CBS Viacom, jetzt Paramount, gibt kein grünes Licht, wenn ihnen nicht genügend Vielfalt vorgelegt wird. Und das nicht nur bei Skript und Besetzung, sondern auch bei der Crew.“ (David Hannam, Autor und ausführender Produzent)

O’Meara konstatierte zwar eine positive Tendenz, wies aber auch darauf hin, dass die Darstellung bisexueller Männer, wie in The Newsreader (seit 2021), immer noch sehr selten ist; trotz zunehmend komplexerer Erzählungen. Er sehe die Verbesserungen und Bemühungen um mehr Vielfalt im australischen Fernsehen, doch erkennt auch viele Herausforderungen.
 

The Newsreader | Official Trailer (ABC TV & iview, 31.07.2019)



Abschließende Gedanken

Die Konferenz bot vielfältige Einblicke in die sich ständig weiterentwickelnde Welt des Fernsehens und regte an, über Anforderungen nachzudenken, die wir bezüglich Repräsentation und Diversität an Serien und Filme stellen sollten. Inspiration für neue Forschungsideen wurde geweckt und eine Plattform für den Austausch internationaler Medienforschender geboten. Die ECREA-Konferenz eröffnete weiterhin die Möglichkeit, eine andere Perspektive auf aktuelle Medienthemen zu erhalten und auch die eigene Rezeption zu reflektieren – und lässt mich mit Vorfreude auf das nächste Mal zurück.
 

Anmerkung: Dieser Beitrag ist zuerst bei CST online erschienen.


Literatur

Asmar, A., Raats, T./Van Audenhove, L.: Streaming difference(s): Netflix and the branding of diversity. Critical Studies in Television: The International Journal of Television Studies, 18(1), 2023, S. 24–40. https://doi.org/10.1177/17496020221129516

Abbott, T. B.: The History of Trans Representation in American Television and Film Genres. Springer International Publishing. 2022. https://doi.org/10.1007/978-3-030-97793-1

O’Meara, D.: The queer television celebrity interview: uncovering the role of the queer national celebrity in Australian television production. In: J McIntyre & A Moore (eds), The Routledge Companion to Gender and Celebrity (im Druck)