„Einsamkeit hat eine politische Dimension.“

Christina Heinen im Gespräch mit Maike Luhmann

Einsamkeit rückt zunehmend in den Fokus der Politik. Die Pandemie hat deutlich gemacht, dass Einsamkeit zwar ein subjektives Leiden, aber ebenso ein gesellschaftliches Problem ist: weil sie so viele, auch und gerade junge Menschen betrifft, physisch und psychisch krank machen und mit dem Zugehörigkeitsgefühl auch die Demokratiefähigkeit schwächen kann. Dr. Maike Luhmann, Professorin an der Ruhr-Universität Bochum, forscht seit vielen Jahren zu Einsamkeit. mediendiskurs sprach mit ihr über Einsamkeit als individuelle Erfahrung und als politische Herausforderung.

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 3/2024 (Ausgabe 109), S. 23-27

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Was ist Einsamkeit, welche unterschiedlichen Arten gibt es?

Einsamkeit ist ein subjektives, schmerzhaftes Gefühl, das dann eintritt, wenn die sozialen Beziehungen, die man sich wünscht und die man braucht, nicht vorhanden sind. Wie viel Kontakt und Beziehungen Menschen brauchen, ist individuell sehr unterschiedlich. Einsamkeitsgefühle und ‑erfahrungen lassen sich verschiedenen Kategorien zuordnen. Am häufigsten wird in der Forschung zwischen emotionaler und sozialer Einsamkeit unterschieden. Wenn man emotionale Einsamkeit empfindet, fehlen intime, enge Beziehungen zu vertrauten Menschen. Bei sozialer Einsamkeit geht es eher darum, dass man die Anzahl der Freunde und die Größe des sozialen Netzwerkes als nicht ausreichend empfindet.

Bedeutet soziale Einsamkeit, dass man sich nicht zugehörig fühlt?

Ja, wobei noch die Zugehörigkeit zu einer konkreten Gruppe von Menschen gemeint ist. Manchmal wird noch eine dritte Form von Einsamkeit unterschieden, die sogenannte kollektive Einsamkeit. Darunter versteht man das Fehlen der Zugehörigkeit zu einer größeren, abstrakteren Gemeinschaft. Da geht es dann nicht mehr um Menschen, die man persönlich kennen muss, sondern um ein Eingebundensein, in eine Gemeinde, in eine kulturelle bzw. Sprachgemeinschaft oder in die Gesellschaft. Das ist nicht der einzige, aber ein Grund dafür, dass Menschen mit Migrationsbiografie ein besonders hohes Risiko für Einsamkeit haben.
 


Einsamkeit kann krank machen.“



Wie entscheidend ist die zeitliche Dauer der Einsamkeit?

Sehr entscheidend. Sich kurzfristig einmal einsam zu fühlen, ist zwar schmerzhaft, aber eigentlich etwas Gutes, ein psychisches Warnsignal, das einen dazu bringt, Kontakt zu suchen. Je länger die Einsamkeit andauert, desto größer ist die Gefahr einer Negativspirale. Man beginnt, sein soziales Umfeld negativer wahrzunehmen, begegnet anderen Menschen nicht mehr so unbefangen, wird misstrauisch. Man hat eher das Gefühl, andere Menschen wollen einem vielleicht etwas Böses oder mögen einen nicht. Das kann zu sozialem Rückzug und Feindseligkeit im Kontakt mit anderen Menschen führen, was wiederum die Einsamkeit verstärkt. Länger andauernde, chronische Einsamkeit geht mit gravierenden Folgen für die psychische und die körperliche Gesundheit einher. Einsamkeit kann krank machen.

Welche Bevölkerungsgruppen sind am stärksten von Einsamkeit betroffen?

Die Hochaltrigen waren schon immer eine Risikogruppe für Einsamkeit und soziale Isolation – aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen, die sich negativ auf die Möglichkeiten, das Haus zu verlassen, und auf das Sozialleben auswirken, und weil Lebenspartner und Freunde wegsterben. In jüngster Zeit ist aber eine zweite Hochrisikogruppe in den Fokus gerückt: Jugendliche und junge Erwachsene empfinden sich vielfach als sehr einsam, das haben Studien gezeigt. Warum das so ist, haben wir noch nicht ganz verstanden. Möglicherweise spielt der Wandel von Kommunikationswegen und Umgangsformen durch Smartphones und soziale Medien eine Rolle. Ältere Menschen konnten vorher andere Formen des Umgangs und des sozialen Kontakts zumindest kennenlernen, bevor die Smartphones alles übernommen und durchdrungen haben. In jedem Fall scheint die Qualität sozialer Beziehungen entscheidender für das Einsamkeitserleben zu sein als die Quantität. Letztlich kommt es aber darauf an, wie und zu welchen Zwecken soziale Medien genutzt werden, sie können Ursache für Einsamkeitserleben sein, aber auch eine Lösung, um mit anderen in Kontakt zu kommen und Isolation zu überwinden. Wenn soziale Medien Kontakte im realen Leben vollständig ersetzen, halte ich das für ein großes Risiko. Andererseits können soziale Medien auch ein Fenster in eine neue Welt, eine neue Community sein, gerade für Menschen, die einer marginalisierten Gruppe angehören. Und sie helfen, mit Freunden und Familie den Kontakt zu halten. Studien zeigen einen leichten Zusammenhang zwischen der intensiven Nutzung sozialer Medien und dem Erleben von Einsamkeit. Allerdings ist nicht geklärt, ob soziale Medien Einsamkeitsgefühle fördern oder ob sich einsame Menschen stärker als andere sozialen Medien zuwenden. Einsamkeitserleben im Zusammenhang mit sozialen Medien hängt stark von der Art der Nutzung – aktiv oder passiv – und von der jeweiligen Plattform mit ihrer Eigendynamik ab. Instagram mit seinem Fokus auf sozialen Vergleich ist möglicherweise problematischer als WhatsApp. Auch dass Einsamkeit als Stigma empfunden wird, hat sich durch die sozialen Medien sicherlich noch verstärkt.
 


Waren Jugendliche schon immer so einsam oder hat sich das durch die Pandemie kurzfristig und eventuell auch langfristig verschlimmert?

Beides trifft zu. Die Jugend ist eine besonders vulnerable Phase im Leben. Man ist auf Identitätssuche, man probiert sich aus, gerade auch im Sozialen: in Freundschaften, in sexueller Hinsicht, in Liebesbeziehungen. Das Leben ist in dieser Phase so stark im Fluss, dass Jugendliche sich da gelegentlich oder auch mal länger andauernd einsam fühlen, das ist ein ganz normaler Teil der Entwicklung. Trotzdem hat das Einsamkeitserleben bei Jugendlichen während und auch nach der Pandemie bis heute deutlich zugenommen. Das hängt, neben den medialen Entwicklungen, vermutlich auch mit dem Krisenmodus zusammen, in dem sich die gesamte Gesellschaft befindet.

Was ist aus Ihrer Sicht die politische Dimension von Einsamkeit?

Die Politik hat Einsamkeit schon vor einigen Jahren als Thema entdeckt. Ein Meilenstein war 2018 die Ernennung einer Einsamkeitsministerin in Großbritannien; daraufhin wurde Einsamkeit auch in Deutschland als wichtiges Anliegen in den Koalitionsvertrag mit aufgenommen. Die Pandemie hat das Einsamkeitserleben bei vielen Menschen befeuert, dadurch wurde die Dringlichkeit, sich damit zu befassen, noch einmal unterstrichen. Inzwischen wird auf allen politischen Ebenen nach Lösungen gesucht: In den Kommunen, den Ländern, auf Bundesebene – die Regierung hat vor Kurzem eine Strategie gegen Einsamkeit vorgestellt –, sogar auf EU-Ebene wird über Einsamkeit gesprochen. Meiner Meinung nach zu Recht, Einsamkeit hat eine politische Dimension. Es sind sehr viele Menschen betroffen, die Kosten für die Gesundheit und für die Gesellschaft sind immens. Und die Politik hat Einflussmöglichkeiten: Sie kann die Rahmenbedingungen verändern und Risikofaktoren minimieren, z. B. Armut und Arbeitslosigkeit bekämpfen. Politik kann dafür sorgen, dass es in Städten und auf dem Land Begegnungsräume gibt, Angebote für die Prävention und Bekämpfung von Einsamkeit ausgebaut werden, sie kann Forschung fördern, zu Entstigmatisierung beitragen. Die aktuelle Strategie der Bundesregierung gegen Einsamkeit ist breit angelegt und spricht viele verschiedene gesellschaftliche Bereiche an.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen Einsamkeit und extremen politischen Einstellungen?

Die Studie Extrem einsam? liefert einen ersten Hinweis auf einen leichten Zusammenhang, allerdings ist es eine reine Querschnittstudie, sie erklärt nicht, was Ursache und was Wirkung ist. Waren die Befragten erst einsam und haben sich dann extremen politischen Ansichten zugewandt – oder sind sie aufgrund ihrer extremen politischen Ansichten einsam geworden? Wir glauben, dass Einsamkeit dazu führen kann, dass Menschen sich von politisch extremen Positionen angesprochen fühlen und sich diesen zuwenden, aber nachweisen lässt sich das aufgrund des Forschungsdesigns durch diese Studie noch nicht. Es gibt international Längsschnittstudien, die Entwicklungen über einen längeren Verlauf untersuchen. Diese zeigen, dass einsame Menschen weniger Vertrauen in Politik haben, sich weniger politisch engagieren, eher dazu neigen, an Verschwörungstheorien zu glauben.
 


Waren die Befragten erst einsam und haben sich dann extremen politischen Ansichten zugewandt – oder sind sie aufgrund ihrer extremen politischen Ansichten einsam geworden?“



Gibt es Erklärungen für diesen Zusammenhang?

Mangelndes Zugehörigkeitsgefühl und der Eindruck, die Gesellschaft will mich nicht, spielen eine Rolle. Man sucht Anschluss und findet ihn bei denen, die auch nicht so richtig dazugehören, weil sie so extrem sind in ihren Positionen. Oder man sucht einfach nur Anschluss und findet ihn zufällig nicht im Sportverein, sondern bei extremen politischen Gruppierungen. In der rechten Szene ist das eine Strategie, auf die zuzugehen, die ein bisschen verloren sind. Online kann man diese Menschen gut abgreifen. Es ist ein schwacher Zusammenhang, aber für einige Menschen trifft er zu. Außerdem erzählen die extremen politischen Gruppierungen meist recht einfache Geschichten, in denen man selbst das Opfer ist. Das trifft sowohl auf rechte als auch auf linke Gruppierungen zu. Es geht immer um größere Mächte, um das System, man selbst kann nichts für seine Misere. Das kann für jemanden, der mit seiner Einsamkeit hadert – warum mag mich keiner, warum finde ich keinen Anschluss? –, ein willkommenes, entlastendes Erklärungsmodell sein. Es liegt nicht an mir, es liegt daran, wie die Welt funktioniert. Das ist einfacher psychisch zu verarbeiten als andere Erklärungen. Das alles kann eine Rolle spielen dafür, dass einsame Menschen schneller in extreme Gruppierungen hineingeraten.

Was könnte sich ändern, wenn Einsamkeit nicht mehr so ein Stigma wäre?

Für die betroffenen Menschen wäre es leichter, über ihre Einsamkeit zu sprechen. Mit ihrem nahen Umfeld, vielleicht auch online. Sich selbst einzugestehen, dass man einsam ist, wäre vielleicht nicht mehr so eine Hürde. Einsamkeit greift unser Selbstbild als soziale Wesen an, den Kern unseres Menschseins. Wenn wir es nicht schaffen, Anschluss zu finden, stellt uns das als Menschen infrage, auf eine existenzielle Weise. Dieses empfundene Selbststigma sollte geringer werden, wenn deutlich wird, dass Einsamkeit eine normale Erfahrung ist, die jeder im Leben mal macht. Man muss etwas dagegen tun, man kann aber auch etwas tun. Wir müssen darüber sprechen, uns gegenseitig helfen. Dann können wir aus diesen gesellschaftlichen Problemen viel besser herauskommen, als wenn wir weiter darüber schweigen.
 


Es ist immer leichter, an Bestehendes anzuknüpfen, als neue Freundschaften zu schließen.“



Wie lässt sich Einsamkeit überwinden?

Indem man auf andere Menschen zugeht, Angebote wahrnimmt, die es einem ermöglichen, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, Anschluss zu finden, in Vereinen z. B. Nicht gleich zu viel erwarten: Dass sich neue Freundschaften entwickeln, braucht natürlich Zeit. Aber wenn man kann, sollte man schon selbst den ersten Schritt gehen. Für Menschen, die das nicht können – aus Angst oder weil sie ans Haus gefesselt sind –, gibt es Onlinedatenbanken, eine im Kompetenznetz Einsamkeit (KNE) und für Nordrhein-Westfalen eine aus der Stabsstelle Einsamkeit, in denen jeweils mehrere Hundert Angebote gelistet sind, auch für digitale Teilhabe.

Genauso wichtig ist Prävention, also die sozialen Kontakte, die wir haben, zu pflegen. Es ist immer leichter, an Bestehendes anzuknüpfen, als neue Freundschaften zu schließen. Und man darf die kleinen Begegnungen im Alltag nicht unterschätzen: Der Postbote, die Kassiererin, mit der man ein paar freundliche Worte wechselt – diese kleinen Verbindungen, im Englischen nennt man sie „weak ties“, die braucht man auch.
 

Weiterführende Literatur:

Bertelsmann Stiftung: Wie einsam sind junge Erwachsene im Jahr 2024?. In: bertelsmann-stiftung.de, 17.06.2024. Abrufbar unter: www.bertelsmann-stiftung.de (letzter Zugriff: 20.06.2024)

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Strategie der Bundesregierung gegen Einsamkeit. Berlin, Dezember 2023. Abrufbar unter: www.bmfsfj.de (letzter Zugriff: 20.06.2024)

Kompetenznetz Einsamkeit (KNE): Gemeinsam. Strategie gegen Einsamkeit. In: kompetenznetz-einsamkeit.de. Abrufbar unter: kompetenznetz-einsamkeit.de (letzter Zugriff: 20.06.2024)

Landesregierung Nordrhein-Westfalen: Initiativen und Angebote gegen Einsamkeit. In: www.land.nrw. Abrufbar unter: www.land.nrw (letzter Zugriff: 20.06.2024)

Neu, C./Küpper, B./Luhmann, M./Deutsch, M./Fröhlich, P.: Extrem einsam? Die demokratische Relevanz von Einsamkeitserfahrungen unter Jugendlichen in Deutschland. Berlin 2023. Abrufbar unter: www.progressives-zentrum.org (letzter Zugriff: 14.06.2024)

Dr. Maike Luhmann ist Professorin an der Ruhr-Universität Bochum und forscht seit vielen Jahren zu Einsamkeit.

Christina Heinen ist Hauptamtliche Prüferin in den Prüfausschüssen der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).