Einsamkeit und Digitalisierung

Gibt es eine digitale Einsamkeit?

Anne Deremetz

Dr. Anne Deremetz ist Soziologin, sie lebt und arbeitet in Köln. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Inklusions- und Teilhabeforschung, der Einsamkeits- und Normalitätsforschung sowie in den Methoden der Feldforschung.

Das Thema „Einsamkeit“ ist seit der Covid-19-Pandemie ins Zentrum gesellschaftlicher und medialer Debatten gerückt. Einsamkeit ist allerdings nicht nur eine individuelle Erfahrung, sondern auch Folge gesellschaftlicher Prozesse und damit ein gesamtgesellschaftliches und strukturelles Problem. Was Einsamkeit mit dem gegenwärtigen Zeitgeist zu tun hat und welche Rolle die Digitalisierung bei der Zunahme und Bekämpfung von Einsamkeit spielt, ist Thema dieses Artikels.

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 3/2024 (Ausgabe 109), S. 16-22

Vollständiger Beitrag als:

Einsamkeit im digitalen Zeitalter

Einsamkeit – das war bis vor Kurzem noch eine subjektive, in den meisten sozialen Kreisen negativ bewertete Empfindung Einzelner und wurde eher auf psychische Ursachen zurückgeführt (Lauth/Viebahn 1987; Arlt u. a. 2022). Seit der Covid‑19-Pandemie wird allerdings immer deutlicher, dass Einsamkeit kein Randphänomen einzelner Menschen mit sozialen Schwierigkeiten ist, sondern ein soziales Problem darstellt.
 


Seit der Covid‑19-Pandemie wird allerdings immer deutlicher, dass Einsamkeit kein Randphänomen einzelner Menschen mit sozialen Schwierigkeiten ist, sondern ein soziales Problem darstellt.“



Immer mehr zeigen sich die strukturellen Ursachen und gesamtgesellschaftlichen Folgen von Einsamkeit: Von chronischer Einsamkeit Betroffene haben ein erhöhtes Risiko, zu erkranken (Deutscher Bundestag 2021, S. 9), dazu zählen insbesondere ein erhöhtes Risiko für Depressionen, vorzeitige Demenzerkrankungen sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die insgesamt mit einer geringeren Lebenserwartung einhergehen (Bücker 2022; Cacioppo/Cacioppo 2018; Hawkley/Capitanio 2015; Holt-Lunstad u. a. 2015). Einsamkeit kann das Stresslevel erhöhen und somit auch zu Schlafmangel, verstärkter Gereiztheit, Gefühlen von Ausgrenzung und zu sozialem Rückzug führen (Landtag NRW 2022, S. 23). Infolgedessen können viele Personen ihr Einsamkeitsempfinden nicht mehr selbst überwinden und sind gleichzeitig weniger initiativ hinsichtlich der Inanspruchnahme externer Unterstützungsangebote (Deutscher Bundestag 2021, S. 10).

Seit der Pandemie haben das Einsamkeitsempfinden und dadurch auch die gesellschaftliche Relevanz deutlich zugenommen (BiB 2024). Dies wird zum einen durch den demografischen Wandel und damit einhergehend durch die zunehmend alternde Gesellschaft und zum anderen durch den Anstieg der Zahl der Einpersonenhaushalte verstärkt. Entgegen der Annahme sind es aber nicht die älteren Alleinstehenden, die am meisten von Einsamkeit betroffen sind (bzw. die von Einsamkeitsgefühlen berichten), sondern junge und mittlere Erwachsene zwischen 19 und 29 Jahren (FReDA 2024).

Nun lässt sich aus den Daten nicht automatisch schließen, dass höhere Altersgruppen weniger von Einsamkeit betroffen sind. Die Daten könnten auch bedeuten, dass nur schleppend das Tabu fällt, über Einsamkeit zu sprechen und höhere Alterskohorten deshalb weniger von Einsamkeitsgefühlen berichten. Woran liegt es aber, dass in einer vernetzten Gesellschaft Einsamkeitsgefühle derart zunehmen? Hierzu einige mögliche Erklärungen.
 

Einsamkeit als Folge von Individualisierungsprozessen

Mit Individualisierung meint man in der Soziologie zunächst ein Herauslösen aus gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Strukturen, Zwängen und Verpflichtungen, in die man hineingeboren wurde und die man selbst nicht bewusst gewählt hat. Die Individualisierung verspricht zunächst mehr Freiheitsgrade und mehr Möglichkeiten, das eigene Leben selbstbestimmt(er) zu gestalten. Die Herauslösung aus bestehenden Strukturen bedeutet allerdings auch, dass wir uns aus vorhandenen und gewachsenen Beziehungen lösen und in manchen Fällen auch – zwangsweise – herausfallen. Soziale Beziehungen können infolgedessen flexibler, loser und instabiler werden. Gleichzeitig nimmt die Bedeutung von verbindlichen und stabilen Beziehungen zu – gerade wenn sie als selten und daher kostbar erlebt werden. Eine Folge kann sein, dass wir nicht mehr eingebunden sind und es vielleicht auch verlernen, wie man sich gesellschaftlich einbindet. Mit der Individualisierung gehen damit auch Desintegrationsprozesse, soziale Isolation und Einsamkeitsgefühle einher.
 

Einsamkeit als Symptom des Zeitgeistes und Reaktion auf Perspektivlosigkeit

Der gesellschaftliche Umgang mit Einsamkeit ist immer auch im zeitgeistlichen Kontext zu betrachten. Einsamkeit ist auch ein Symptom unserer Zeit, denn in einer vernetzten, ständig erreichbaren, online und offline sozial interagierenden und kommunizierenden Gesellschaft ist Einsamkeit die manifest gewordene soziale Abweichung. Wer im Zeitalter von Social Media immer noch keine sozialen Interaktionen hat, der hat Einsamkeit selbst gewählt und muss auch die Folgen selbst – und allein – tragen.
 


Wer im Zeitalter von Social Media immer noch keine sozialen Interaktionen hat, der hat Einsamkeit selbst gewählt und muss auch die Folgen selbst – und allein – tragen.“



Eine weitere Erklärung versteht Einsamkeit als Reaktion auf die Perspektivlosigkeit unserer Zeit: Wenn menschliche Zukunft durch Klimawandel, Kriege und Katastrophen bedroht erscheint, bietet der Rückzug ins Private eine gewisse Handlungssicherheit und einen Raum, in dem man sein eigenes Leben noch unter selbstbestimmter Kontrolle hat, in dem man selbst etwas an der Situation ändern kann. Dies zeigt sich in Trends wie dem Cocooning oder Social Cocooning, also dem freiwilligen Rückzug aus dem öffentlichen Leben als Antwort auf eine „beunruhigend gewordene Welt“ (Hussendörfer 2022). Seit der Covid‑19-Pandemie scheint der soziale Rückzug nichts Neues, ja eher Mainstream zu sein; im Begriff „Cocooning“ findet er seinen stilistischen und ästhetischen Ausdruck. Was hier allerdings beachtet werden muss: Cocooning basiert auf einem freiwilligen Rückzug ins Private, meist in den Kreis der Familie oder innerhalb einer Partnerschaft, in dem man also zusammen mit seinen Lieben „hyggelig“ das Leben fernab von Unsicherheit und Ohnmacht genießt.

In diesem Punkt unterscheidet es sich völlig vom Hikikomori-Syndrom, das sich ausgehend von Japan auch in anderen Industriestaaten finden lässt – Tendenz steigend. Hikikomori beschreibt den mehr oder weniger bewussten völligen sozialen Rückzug bzw. eine selbst verfügte soziale Isolation. Nach der offiziellen Definition gilt in Japan eine Person als Hikikomori, die sich länger als sechs Monate von der Welt zurückzieht (Thurau 2021). Am meisten betroffen ist die Altersgruppe zwischen 40 und 60 Jahren, aber auch Jugendliche sind zunehmend tangiert. Der Anteil an Männern ist dabei weitaus höher, wenngleich zu weiblichen Hikikomori nur marginal Studien existieren (vgl. Multhaupt 2023).

Es gibt einige Erklärungsversuche für Hikikomori, die aktuell wissenschaftlich diskutiert werden: Wie bei Einsamkeit besteht auch bei Hikikomori oft ein Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen und wie bei Einsamkeit können psychische Erkrankungen sowohl Folge als auch Symptom von Hikikomori sein. Hikikomori kann auch als Folge sozialer Ängste verstanden werden: Schwierigkeiten im sozialen Umgang können unter Umständen zu Mobbing oder sozialer Ausgrenzung führen. Hikikomori wäre dann eine Reaktion auf die sozialen Schwierigkeiten – nämlich die Vermeidung sozialer Kontakte. Hier zeigt sich auch der Unterschied zu den sogenannten NEET (Not in Education, Employment or Training) (Japanwelt-Blog 2019), die sich aktiv der gesellschaftlichen Produktivität verschließen bzw. die damit einhergehenden Rollen ablehnen.

Eine andere Erklärung für Hikikomori findet sich insbesondere im individuellen Umgang mit gesellschaftlichen Normen und Erwartungen: Der soziale Rückzug dient in diesem Kontext als Strategie zur Vermeidung gesellschaftlicher Anforderungen. Hikikomori – das ist die passive Resignation gegen den Leistungsdruck. Dass Hikikomori seinen Ursprung in Japan hat, wird meist damit erklärt, dass Lebensläufe hier sehr linear verlaufen bzw. gesellschaftliche Strukturen und Rollen sehr starr erscheinen (Multhaupt 2023). Hikikomori erscheint dabei als ein passiver Lösungsweg, öffentliches Scheitern zu vermeiden, wenn der eigene Lebenslauf von dieser Norm abweicht. Hikikomori ist damit kein Protest, sondern eher ein „leises Verschwinden“ – wohl wissend, dass man am System scheitern wird bzw. durch Hikikomori anerkennt, gescheitert zu sein (Thurau 2021).
 


Die Ambivalenz des Digitalen – gibt es eine digitale Einsamkeit?

Hikikomori wäre ohne die Digitalisierung nicht in diesem Ausmaß möglich. Durch die Digitalisierung braucht man die analoge Sozialität nicht mehr, um zu überleben. Im Digitalen finden wir sogar neue Formen sozialen Miteinanders. Gleichzeitig verlagert sich immer mehr auch bisher analog gelebte soziale Praxis in das Web 2.0 (Deremetz 2021; 2022). Man kann komplett im Digitalen verweilen und überleben. An diesen Aspekt knüpfen z. B. auch Maßnahmen zur Therapie von Hikikomori und Einsamkeit an.

Im Umgang mit Einsamkeit nimmt die Digitalisierung daher einen ambivalenten Stellenwert ein – man kann sie zugleich als Ursache und Lösung verstehen, der Einsamkeit zu begegnen: Zum einen bietet das Web 2.0 Möglichkeiten, bisherige Einsamkeitserfahrungen abzumildern. Wir können uns mit unzähligen Menschen auf der ganzen Welt vernetzen (Winter 2010, S. 86 f.), können Bestätigung erfahren, uns über Hobbys und Themen finden und verbinden. Menschen, die sich im Analogen womöglich einsam fühlten, weil ihnen der soziale Kontakt zu Gleichgesinnten fehlte, können durch das Digitale ihre Einsamkeit überwinden. Vor allem Minderheiten profitieren von digitalen Support- und Empowerment-Netzwerken (Fiske 2004, S. 1; Fast 2013, S. 213).

Ein beruflicher Wechsel ist durch Homeoffice und Telearbeit nicht mehr zwingend mit einem Wohnortwechsel verbunden. Unser bisher mühsam aufgebautes und gepflegtes soziales Netzwerk kann uns dadurch erhalten bleiben, die Folgen sozialer Entwurzelung können somit präventiv vermieden werden. Bei zwingendem Standortwechsel bietet das Digitale unzählige Möglichkeiten, sich ein neues soziales Netzwerk aufzubauen, sei es über soziale Medien (Rövekamp 2019), sei es über Apps wie Spontacts. Eine wesentliche Voraussetzung ist allerdings, dass man sozial im Training und dazu fähig ist, mit „fremden“ Menschen Ad-hoc-Verbindungen einzugehen.
 


In gewissen Aspekten ist das Digitale sogar inklusiver als die analoge Sozialität: Man braucht zunächst nur einen Internetzugang und die erforderliche Hardware-Ausstattung.“



In gewissen Aspekten ist das Digitale sogar inklusiver als die analoge Sozialität: Man braucht zunächst nur einen Internetzugang und die erforderliche Hardware-Ausstattung. Für mobilitätseingeschränkte Menschen bringt das Web 2.0 sogar neue Möglichkeiten sozialer Vernetzung – ganz ohne die mühsamen analogen Alltagsbarrieren und ‑hürden. Das Web 2.0 macht es möglich, sich mit fremden Menschen zu verbinden und Kontakt, Nähe und Intimität auch über große Distanzen hinweg herzustellen und aufrechtzuerhalten (Wilding 2006, S. 126 f.). Dieser Umstand wird auch zur Bekämpfung von Hikikomori und Einsamkeit genutzt, indem Angebote über Digital Streetwork Betroffene erreichen können – in Deutschland z. B. über „Zukunftswelten“ oder „Digital Streetwork Bayern (DSW)“.1 Betroffene werden über das Digitale erreicht; langsam wird eine Verbindung aufgebaut, die dabei helfen soll, wieder den Schritt ins Analoge bzw. Soziale zu wagen. Bestimmte Personengruppen profitieren also vom Digitalen und können dadurch eine bereits bestehende Einsamkeit abmildern bzw. bietet die Digitalisierung für sie eine Chance gegen Vereinsamung.

Für andere Personengruppen werden Einsamkeitsempfindungen und soziale Desintegrationsprozesse durch das Digitale sogar verstärkt. Viele können nicht am Digitalen partizipieren. Diese Nichtpartizipation ist vor allem durch die Digital Divide (Zillien/Haufs-Brusberg 2014) begründet, die die Gesellschaft in zwei Lager einteilt: diejenigen, die die Voraussetzungen für eine soziale Teilnahme und Teilhabe im Digitalen erfüllen, und diejenigen, die davon ausgeschlossen sind. Die digitale Spaltung benachteiligt insbesondere ökonomisch schlechtergestellte Personengruppen sowie solche, die als Digital Immigrants im Gegensatz zu den Digital Natives bezeichnet werden können. Dazu gehören noch vermehrt Personen höherer Altersgruppen. Je mehr sich soziale Praxis in das Digitale verlagert, desto mehr Menschen werden sozial exkludiert, wovon Einsamkeit eine Folge darstellt.
 


Je mehr sich soziale Praxis in das Digitale verlagert, desto mehr Menschen werden sozial exkludiert, wovon Einsamkeit eine Folge darstellt.“



Gleichzeitig wächst die Gruppe der Heranwachsenden, die erst durch das Web 2.0 Einsamkeitsgefühle entwickeln. Vor allem männliche Jugendliche, die schon im Analogen eher einzelgängerisch unterwegs sind bzw. soziale Schwierigkeiten aufweisen, sind von dieser Form der Einsamkeit betroffen. Die im Analogen erlebte Einsamkeit kann sich im Digitalen nochmals verstärken. Damit einher gehen Tendenzen zu politischem Extremismus, wie die Studie Extrem einsam? zeigt (Neu u. a. 2023).

Weiter können digitale Netzwerke anders als analoge bisher noch keine physische und materielle Unterstützung leisten, keine Streicheleinheiten, keine Geborgenheit geben. Mit der Digitalisierung zeigen sich damit auch neue Formen von Einsamkeit, z. B. die haptische Einsamkeit (Deremetz 2021; 2022).

Ein weiterer Grund für eine zunehmende Vereinsamung im Netz ist in der erhöhten Nutzung von Social Media zu sehen: Insbesondere der soziale Vergleich im Netz kann Einsamkeitseffekte verstärken. Im Digitalen steigen der Performance- und der soziale Druck enorm. Einzelne Parameter wie Followerzahl und Likes messen die Popularität und Beliebtheit im Vergleich zu anderen. Erst durch den Vergleich mit anderen fällt einem auf, dass man weniger Freunde, weniger Likes hat. Erst durch den sozialen Vergleich kann es zu Einsamkeitsgefühlen kommen.

An dieser Stelle schließt sich der Kreis zu Individualisierung und Digitalisierung. Die Anforderungen an das Individuum sind immens gestiegen. Die Verantwortung für Erfolg und Scheitern liegt immer mehr auf unseren individuellen Schultern – und das Netz vergisst nichts. Da wird ein Versprecher zum Shitstorm und kann über Existenzen entscheiden und im sozialen Tod enden. Auch deshalb vermeiden immer mehr Menschen den sozialen Kontakt zu anderen: aus der Angst heraus, von ihren Mitmenschen (negativ) bewertet zu werden. Gleichzeitig verlernen wir durch die ständige digitale Praxis das analoge soziale Training und erleben infolgedessen eine fehlende Verbundenheit im Analogen bzw. eine zunehmende soziale Unsicherheit.
 


Viele Wege führen aus der Einsamkeit

Maßnahmen zur Bekämpfung und Linderung von Einsamkeit setzen an unterschiedlichen Aspekten an. Sie reichen von Digital Detox – also dem temporären bis mittelfristigen Verzicht auf das Digitale – über Kuschelpartys und Gewichtsdecken bis hin zum Wiedererlernen analoger sozialer Fähigkeiten. Ein Vorteil des Digitalen besteht darin, dass auch hier Sozialität wiedererlernt werden kann. Der erste Zugang und soziale Austausch im Digitalen helfen, Kontakt aufzunehmen und vorsichtig wieder aufzubauen. Therapien und medizinische Betreuung „zu sozial isolierten Hilfebedürftigen“ können online erfolgen, was die „Behandlung ihrer sozialen Ängste“ erleichtern kann (Multhaupt 2023). Weitere Studien über Einsamkeit schaffen mehr Wissen, was wiederum hilft, Einsamkeit umfassend begegnen zu können.

Seit der Covid‑19-Pandemie scheinen die bisherigen Regeln sozialen Miteinanders allerdings unübersichtlich geworden zu sein. Immer mehr Menschen sind unsicher, wie man sich offline sozial verhält und welche Regeln wie, wo und wann gelten. Vielleicht haben sich seither auch neue Regeln formiert und ist es Zeit, diese neuen Regeln einzuüben, zu trainieren und zu etablieren.
 

Gibt es eine digitale Einsamkeit?

Kann man also von einer digitalen Einsamkeit sprechen? Das Digitale birgt das Potenzial, Einsamkeit hervorzubringen und Einsamkeit zu lindern. Es gibt Einsamkeitsformen, die durch das Digitale erst hervorgebracht werden, und wieder andere Formen können durch das Digitale abgemildert oder gelöst werden. Eine digitale Einsamkeit würde bedeuten, dass man im Digitalen einsam ist, also online kein sozialer Austausch, kein Zugehörigkeitsgefühl zu anderen stattfindet. Das Einsamkeitsgefühl manifestiert sich womöglich im digitalen Raum, seine Konsequenzen und manifesten Ausprägungen sind allerdings eher im Analogen zu spüren. Und dennoch muss betont werden: Einsamkeit bleibt ein schmerzliches Gefühl – sowohl im digitalen als auch im analogen Raum.

Einsamkeit – das soll am Ende des Artikels noch einmal betont werden –, das ist nicht nur eine individuelle Gefühlslage, sondern ein gesellschaftliches Symptom. Es geht einher mit einem höheren Risiko schwerer Erkrankungen und längerer Krankheitsverläufe, einem verringerten sozialen Engagement und einer Tendenz zu politischem Extremismus – mit hohen Kosten für die Gesellschaft. Einsamkeit ist Symptom und Folge gesellschaftlicher Prozesse und stellt eine Reaktion auf zu großen sozialen Druck dar. Daher muss sich eine Gesellschaft fragen und fragen lassen, warum immer mehr Menschen das Bedürfnis empfinden bzw. sich gezwungen sehen, sich einfach auszuklinken, und sich nicht mehr als Teil einer Gemeinschaft verstehen können oder wollen. Eine Gesellschaft, in der immer weniger Menschen mitgestalten können oder wollen, wird weit mehr Probleme bekommen als Wege finden, Einsamkeit zu bekämpfen. Eine Gesellschaft, an der immer weniger Menschen teilnehmen und teilhaben, kann auf Dauer keine Gesellschaft mehr sein.
 

Anmerkung:

1 Weitere Informationen zu den genannten Digital-Streetwork-Angeboten in Deutschland sind abrufbar unter: www.zukunftswelten.net (letzter Zugriff: 14.06.2024).

Literatur:

Arlt, L. u. a.: Einsam in Gesellschaft. Zwischen Tabu und sozialer Herausforderung. Bielefeld 2022

Bücker, S.: Die gesundheitlichen, psychologischen und gesellschaftlichen Folgen von Einsamkeit. In: KNE Expertise, 10/2022, S. 8–12

Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB): Einsamkeit im jungen und mittleren Erwachsenenalter hat zugenommen – besonders unter jungen Menschen. Pressemitteilung, 29.05.2024. Abrufbar unter: www.bib.bund.de (letzter Zugriff: 14.06.2024)

Cacioppo, J. T./Cacioppo, S.: The growing problem of loneliness. In: The Lancet, 10.119/2018/391, S. 426

Deremetz, A.: Einsamkeit ‚trotz‘ oder ‚durch‘ Digitalisierung? Eine soziologische Betrachtung. Eberhard Karls Universität Tübingen, 12.07.2021. Abrufbar unter: uni-tuebingen. de (letzter Zugriff: 14.06.2024)

Deremetz, A.: Einsamkeitsforschung und Digitalisierung. Gibt es eine digitale Einsamkeit?. In: K. Block u. a. (Hrsg.): 10 Minuten Soziologie. Digitalisierung. Bielefeld 2022, S. 59–74

Deutscher Bundestag, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Einsamkeit – Erkennen, evaluieren und entschlossen entgegentreten. Schriftliche Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung am 19.04.2021. Ausschussdrucksache 19(13)135b. Verfasst von Maike Luhmann. Bochum 2021

Fast, V.: Neue Medien und Öffentlichkeit. Wie digitale soziale Netzwerke das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit beeinflussen. Hamburg 2013

Fiske, J.: Reading the Popular. London 2004

FReDA: Einsamkeit im jüngeren und mittleren Erwachsenenalter angestiegen. Wer ist betroffen und wie hat sich das Einsamkeitsempfinden entwickelt?. In: www.freda-panel.de, Mai 2024. Abrufbar unter: www.bib.bund.de (letzter Zugriff: 14.06.2024)

Hawkley, L. C./Capitanio, J. P.: Perceived social isolation, evolutionary fitness and health outcomes: a life-span approach. In: Philosophical Transactions of the Royal Society B, Biological Sciences, 1.669/2015/370

Holt-Lunstad, J. u. a.: Loneliness and Social Isolation as Risk Factors for Mortality: A Meta-Analytic Review. In: Perspectives on Psychological Science, 2/2015/10, S. 227–237

Hussendörfer, E.: Cocooning-Effekt: Psychologe sagt, wann Rückzug gesund ist – und wann er krank macht. In: Focus online, 10.05.2022. Abrufbar unter: www.focus.de (letzter Zugriff: 14.06.2024)

Japanwelt-Blog: Hikikomori – warum immer mehr Japaner in sozialer Isolation leben. In: www.japanwelt.de, 15.08.2019. Abrufbar unter: www.japanwelt.de (letzter Zugriff: 14.06.2024)

Landtag Nordrhein-Westfalen (NRW): Abschlussbericht der Enquetekommission zum Thema „Einsamkeit“ – Bekämpfung sozialer Isolation in Nordrhein-Westfalen und der daraus resultierenden physischen und psychischen Folgen auf die Gesundheit. Düsseldorf 2022. Abrufbar unter: www.landtag. nrw.de (letzter Zugriff: 14.06.2024)

Lauth, G. W./Viebahn, P.: Soziale Isolierung. Ursachen und Interventionsmöglichkeiten. Weinheim 1987

Multhaupt, P.: Hikikomori: Wieso sich Menschen freiwillig isolieren. In: Utopia, 23.01.2023. Abrufbar unter: utopia.de (letzter Zugriff: 14.06.2024)

Neu, C./Küpper, B./Luhmann, M./Deutsch, M./Fröhlich, P.: Extrem einsam? Die demokratische Relevanz von Einsamkeitserfahrungen unter Jugendlichen in Deutschland. Berlin 2023. Abrufbar unter: www.progressives-zentrum.org (letzter Zugriff: 14.06.2024)

Rövekamp, M.: Einsamkeit im Digitalen: Vernetzt – und doch allein. In: Tagesspiegel, 24.06.2019. Abrufbar unter: www.tagesspiegel.de (letzter Zugriff: 14.06.2024)

Thurau, M.: Das leise Verschwinden. Hikikomori – die Kaste der Eingeschlossenen. In: Einsichten, 2/2021. Abrufbar unter: lmu-epaper.de (letzter Zugriff: 14.06.2024)

Wilding, R.: ‚Virtual‘ Intimacies? Families Communicating Across Transnational Contexts. In: Global Networks, 2/2006/6, S. 125–142

Winter, R.: Widerstand im Netz. Zur Herausbildung einer transnationalen Öffentlichkeit durch netzbasierte Kommunikation. Bielefeld 2010

Zillien, N./Haufs-Brusberg, M.: Wissenskluft und Digital Divide. Baden-Baden 2014