Emotionen und politische Meinungsbildung

Joachim von Gottberg im Gespräch mit Sabine Döring

Meist gehen wir davon aus, dass es in der Politik um den Austausch und den Wettbewerb von Argumenten geht. Bei Wahlkämpfen wollen die Politiker kompetent erscheinen und dem Wähler suggerieren, für ihn die optimalen Lebensbedingungen umzusetzen. Aber schon dann, wenn man sich die Botschaften auf Wahlplakaten ansieht, findet man Sprüche, die auf Sympathie oder Emotionen setzen und von rationalen Argumenten weit entfernt sind. Dr. Sabine Döring, Professorin mit dem Schwerpunkt „Praktische Philosophie“ an der Universität Tübingen, beschäftigt sich mit der Frage, welche Rolle die Emotionen im politischen Diskurs spielen. tv diskurs sprach mit ihr.

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 3/2019 (Ausgabe 89), S. 37-43

Vollständiger Beitrag als:

Emotionen sind ja nicht prinzipiell etwas Unvernünftiges, sondern eher die Speicherung von Erfahrungen, die wir im Laufe der Evolution und unseres Lebens gemacht haben. Wenn wir z.B. Angst spüren, reagieren wir sehr schnell und instinktiv. Würden wir in aller Ruhe darüber nachdenken, ob der Bär, der auf uns zukommt, gefährlich ist, wären wir wahrscheinlich schon tot.

Es gibt sicherlich Tiere oder Situationen, auf die wir spontan mit Furcht reagieren, und das ist angeboren. Aber es gibt hier auch eine kulturelle Überformung. Während z.B. die Angst vor Spinnen eine phylogenetische Grundlage hat, d.h. sich im Laufe der Evolution des Menschen herausgebildet hat, setzt Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes oder davor, von einem Auto überfahren zu werden, ein bestimmtes innerhalb einer Gemeinschaft und Kultur erworbenes Wissen voraus. Diese Gemeinschaft und Kultur legen auch fest, ob emotionale Reaktionen angemessen sind: Heiterkeitsausbrüche auf Beerdigungen sind beispielsweise nicht angemessen. Emotionen bleiben also nicht, wie sie sind, sondern sie werden innerhalb einer Gesellschaft und Kultur verändert, weiterentwickelt und ausdifferenziert, und zugleich legen die Gesellschaft und Kultur Angemessenheitsbedingungen für Emotionen fest.

Empathie ist doch wohl nur bedingt erlernbar, sie gehört mehr zu unserer individuellen Grundausstattung …

Der Begriff „Empathie“ bezeichnet zunächst einmal die Fähigkeit und Bereitschaft, die Gedanken, Gefühle, Motive etc. einer anderen Person zu erfassen, zu verstehen und nachzuempfinden. Ein deutsches Wort dafür ist „Einfühlungsvermögen“. „Einfühlung“ wiederum ist zu unterscheiden von „Mitgefühl“. In der aktuellen politischen Debatte, z.B. im Zusammenhang der Migrationspolitik, wird das oft vermischt. Vorschläge, Moral und Ethik auf Empathie zu gründen, meinen typischerweise, dass moralische Urteile durch Mitgefühl oder auch durch Mitleid bestimmt sein sollten. Es stellt sich aber die Frage, ob es so etwas wie ein universelles Mitgefühl überhaupt geben kann oder ob dieses Gefühl nicht stets die eigene Familie, die Freunde und noch die eigene soziale Gemeinschaft vorzieht. Zudem ist nicht ausgemacht, dass Mitgefühl stets vorliegt, wenn es vonnöten ist, und dass es stets zu moralisch richtigem Handeln führt: Mitgefühl könnte etwa auch dazu bewegen, den Freund bei einem Rachefeldzug zu unterstützen. Diese Probleme hat insbesondere Kant klar gesehen.

Aber die spontane Reaktion, die Angela Merkel 2015 zeigte, war sicherlich nicht zuletzt auf Mitgefühl gegründet, und damals waren ja die meisten Medien und wahrscheinlich auch viele Menschen davon erfasst. Aber dieses Mitgefühl ist nicht bei jedem gleich vorhanden. Ich hatte an der Universität eine Studentin, die sich der Identitären Bewegung zurechnete. Sie hat sich für drei Wochen vom Unterricht entschuldigt, weil sie ans Mittelmeer wollte, um die Rettungskräfte daran zu hindern, Flüchtlinge aus Seenot zu retten.

Dieses Beispiel zeigt genau die Grenzen des Mitgefühls. Möglicherweise empfindet die Studentin Mitgefühl, aber dieses beschränkt sich auf die eigene Gruppe, die sie schützen zu müssen glaubt. Allerdings besteht ein beträchtlicher Unterschied dazwischen, eine politische Position zu kritisieren und aktiv dazu beizutragen, dass Menschen sterben.

Die Studentin hat durchaus Emotionen, die allerdings eine völlig andere Zielrichtung und den Schutz der eigenen Gemeinschaft im Visier haben?

Ja, genau, und an dieser Stelle kommen wir mit Emotionen allein nicht mehr weiter. Die Sichtweise bzw. das Weltbild der Studentin ist, dass die Flüchtlinge herkommen und „unsere“ Existenz bedrohen. Ich sage „Weltbild“, weil Emotionen nicht isoliert stehen, sondern immer in ein komplexes Netz anderer Emotionen, Überzeugungen, Wünsche etc. eingebettet sind. Wenn ich beispielsweise traurig oder wütend bin, dass ich den Zug zur Konferenz verpasst habe, dann muss mir an dem Besuch der Konferenz etwas liegen, weil es mir wichtig ist, eine gute Wissenschaftlerin zu sein etc. Emotionen sind Bewertungen, nicht kalte Werturteile, aber sie bewerten die Welt als in bestimmter Weise seiend, z.B. als traurig, ärgerlich, empörend, bewundernswert oder bemitleidenswert. Dabei sind sie integriert in ein ganzes System anderer Bewertungen. Als Bewertungen sind sie zwar als angemessen oder unangemessen kritisierbar, aber ihr Zusammenhang und Zusammenhalt mit anderen Bewertungen macht das kompliziert: Ihre Studentin wird vermutlich eine Reihe von Argumenten vortragen können, die ihr Handeln scheinbar plausibel begründen. Deshalb ist es wichtig, dass man nicht nur in der eigenen Filterblase verbleibt. Am Ende muss dabei notwendig der Diskurs über universelle menschliche Werte stehen. Emotionen können uns dabei helfen: Vielleicht kommt es dazu, dass Ihre Studentin irgendwann einen Migranten ertrinken sieht und Mitgefühl mit ihm erlebt. Sie kann das zu unterdrücken versuchen, aber die rationale Reaktion bestünde darin, das eigene Wertesystem im Lichte dieser widerstreitenden Emotion kritisch zu überprüfen. Das ist meines Erachtens die entscheidende Rolle der Emotionen: Sie können uns neue Werte oder Werte neu erschließen, sind dabei aber nicht gegen Kritik immun. Mitgefühl kann auch fehlgehen und muss vernünftiger Überlegung standhalten.

Die Medien sind ja zweifellos stark an der Meinungsbildung und damit auch an der Ethikbildung beteiligt. Während wir bis zur Erfindung der sozialen Netzwerke immer noch die Journalisten als Gatekeeper hatten, sodass extreme rechte oder linke Meinungen in den Medien nicht vorkamen, werden solche Haltungen im digitalen Zeitalter ganz offen mit unglaublicher Selbstgewissheit und Aggression gegenüber dem Andersdenkenden verbreitet.

Ein Hauptproblem dabei ist, dass als „moralisch“ oder „ethisch richtig“ etikettierte Meinungen sich jedwede Kritik verbieten und dadurch den Gegner immer nur noch mehr aufpeitschen. Ein gutes Beispiel ist das Rezo-Video. Inhaltlich hat er insbesondere in der Frage der Klimapolitik recht. Dennoch muss man etwa fragen dürfen, warum das Video gerade zum Zeitpunkt der Europawahl veröffentlicht wurde. Das bedeutet, man muss strategische, über den reinen Inhalt hinausgehende Fragen stellen dürfen, ohne deshalb gleich in die „rechte Ecke“ gestellt zu werden. Mir fiel z.B. auf, dass das Video unglaublich professionell gemacht war. Das lässt an der insinuierten „Graswurzel-Machart“ Zweifel aufkommen, der gemäß ein – immerhin knapp 27-jähriger – „Jugendlicher“, der bisher nicht durch politische und wissenschaftlich fundierte Analysen aufgefallen ist, hier ganz allein seiner Kritik an den Altparteien Luft macht. Im Impressum steht entsprechend TUBE ONE, das zur Gruppe des Werbekonzerns Ströer gehört, der sich laut Medienberichten nicht dazu äußern wollte, wer das Video finanziell, fachlich, redaktionell und anderweitig unterstützt hat. Damit will ich bestimmt nicht sagen, dass, wie von einigen Verschwörungstheoretikern vermutet, Die Grünen oder sonst irgendein politischer Akteur das Video in Auftrag gegeben und bezahlt haben. Aber wenn es Schule machen sollte, dass Meinungsmacher mit einer reichweitenstarken Community – sogenannte Influencer –, die sonst für Marketing- und Kommunikationszwecke eingesetzt werden, in die Politik eingreifen, dann sollten für alles, was auf YouTube so veröffentlicht wird, genauso wie im Journalismus medienrechtliche Grundsätze zur Anwendung kommen.

Weder durch hasserfüllte Sprache noch durch Forderungen allein lassen sich die Probleme bewältigen. Natürlich würde sich jeder für die Verbesserung des Klimas einsetzen, aber das ist ja nicht zum Nulltarif machbar.

Was wir in letzter Zeit immer wieder erleben, ist, dass viele Menschen überzeugt für Klimaschutz eintreten, sich aber dennoch selbst nicht klimafreundlich verhalten, teilweise sogar ganz im Gegenteil. Die Rechtfertigung lautet dann typischerweise, dass wir durch freiwillige Einschränkungen unseres Handelns die Klimaziele nicht erreichen werden und dass stattdessen der Staat eingreifen müsse. Selbstverständlich sollte der Staat entsprechende Rahmenbedingungen schaffen. Aber dennoch erwarte ich von uns, die wir in der Tradition der Aufklärung stehen, dass wir uns unseres eigenen Verstandes bedienen und moralisch richtiges Verhalten auch ohne explizite Verbote umsetzen. Es ist doch nicht zu viel verlangt, sich z.B. zu fragen: Wo ist mein CO2-Ausstoß am höchsten, wo kann ich ihn verringern? – Das erwarte ich von Menschen, die mit Plakaten auf die Straße gehen, um gegen die aktuelle Politik zu demonstrieren. Gerade Die Grünen selbst müssen hier mit gutem Beispiel vorangehen.

Alles andere macht sie fragwürdig. Wenn es einen Weg gäbe, der niemanden beeinträchtigt, würden die Politiker das sicherlich morgen umsetzen …

Oftmals wird ja die Forderung, Maßnahmen gegen Klimawandel zu ergreifen, unmittelbar mit Forderungen nach einem anderen Wirtschaftssystem verknüpft. Ziel müsse eine Gesellschaft sein, die weniger auf Wachstum ausgerichtet ist. Mir ist nicht immer ganz klar, inwieweit hier konkrete und realistische Forderungen oder eher ein allgemeines Gefühl von Unzufriedenheit ihren Ausdruck finden. Wir leben aber in einer Gesellschaft mit einem sehr hohen Erwartungsanspruch und einer großen Angst, dass es uns eines Tages schlechter gehen könnte. Aber das gehört zum marktwirtschaftlichen System dazu, und andere Länder trifft es z.T. viel stärker. In der Solarindustrie sind in wenigen Jahren über 80.000 Arbeitsplätze verloren gegangen, weil die EU-Förderung aufgehört hat, und das ging relativ geräuschlos. Wenn die Kohleförderung eingestellt wird, ist das ein Viertel davon, und trotzdem ist das seit Jahrzehnten ein Politikum.

Nun hat die Kohleförderung eine viel längere Tradition, sie war für den Aufbau der Industrialisierung eine wichtige Voraussetzung. Es geht auch um Wertschätzung.

Wertschätzung oder das „Gefühl“, für das, was man tut, geachtet bzw. respektiert zu werden, verbunden mit Möglichkeiten der Partizipation – hier steckt meines Erachtens ein Hauptproblem. Im März 2019 hatte ich dazu gemeinsam mit einem Kollegen aus Barcelona eine Tagung mit dem Titel „Crying for respect, seduced by populism? Nationalism as a challenge to the European Project“ veranstaltet, deren Ausgangsfrage genau hieß: Was heißt es eigentlich, „abgehängt“ zu sein? Offensichtlich ist, dass dieses „Gefühl“ nicht rein ökonomisch erklärt werden kann: Es stehen nämlich keineswegs alle, die sich „abgehängt fühlen“, unter ökonomischem Druck, schon gar nicht im internationalen Vergleich. Wir leben in einem Hochlohnland, und die Migrationsbewegung und die Globalisierung führen uns deutlich vor Augen, dass Solidarität heute anders aussieht, als wir das in einem gewerkschaftlich organisierten Nachkriegsdeutschland noch realisieren konnten.

Ist es nicht so, dass Menschen mit einem stabilen Wertesystem weniger leicht irgendwelchen Heilsversprechungen oder Ideologien auf den Leim gehen?

Das ist sicherlich richtig. Entscheidend ist dabei zudem, dass es sich um universelle menschliche Werte oder jedenfalls mit solchen kompatible Werte handelt. Auf unserer Tagung habe ich mich mit der Frage befasst, ob Nationalstolz unter bestimmten Bedingungen angemessen sein kann. Manche würden das vermutlich spontan verneinen. Aber wenn dieser Stolz z.B. dem Grundgesetz gilt oder wir stolz darauf sind, eine offene, einwandererfreundliche Gesellschaft zu sein, dann kann diese Emotion eine Gesellschaft sogar stärken. Das bestätigt eine kürzlich von d|part und dem Open Society European Policy Institute als Teil des Projekts „Voices on Values“ durchgeführte Studie.

Kommen wir auf das Thema „Gerechtigkeit“. Das ist ein großes Wort, unter dem man aber etwas völlig anderes verstehen kann.

Bezogen auf Emotionen ist Empörung die Emotion, die die Eigenschaft der Ungerechtigkeit zuschreiben kann. Selbstverständlich können dabei unterschiedliche Gerechtigkeitsbegriffe und ‑vorstellungen zugrunde liegen. Eine Person mag sich darüber empören, dass jemandem, der faulenzt, sehr viel gegeben wird. Eine andere mag sich darüber empören, dass jemand aus einer sozial niedrigen Schicht trotz seiner Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit nicht aufsteigen kann, weil ihm die Chancen dazu verweigert werden. Wie bereits gesagt, können Emotionen auf diese Weise auf faktisch bestehende Ungerechtigkeiten hinweisen. Aber ob sie das tun, muss durch rationale Reflexion herausgefunden werden.

Aber kann ich mich z.B. darüber empören, dass ich sterben muss?

Empörung im eigentlichen Wortsinne richtet sich auf Handlungen, die als schlecht in einem zu spezifizierenden Sinne empfunden werden. Auch über Beleidigungen kann man sich etwa empören.

Die grundsätzliche Frage ist ja, wie die Politik mit Emotionen umgeht. Kann man Emotionen aus der Politik ausschließen?

Das anzunehmen, wäre naiv. Es wird ja tatsächlich manchmal behauptet, der gegenwärtige politische Diskurs sei deshalb irrational, weil er durch Emotionen bestimmt werde. Im Hintergrund steht hier die Annahme, dass, wer sich durch Emotionen leiten lasse, für faktenbasierte rationale Argumente nicht mehr zugänglich sei. Allerdings durchdringen erstens Emotionen nicht erst seit heute den politischen Diskurs: Sie tun dies, seit es organisiertes menschliches Zusammenleben gibt. Zweitens erwarten wir von Politikern sogar Leidenschaft. Was wäre Politik ohne beherztes Engagement für die Sache, getragen von dem Gefühl, dass es bisweilen schlicht um alles geht? Drittens fragt sich, wie, wenn nicht emotional, überhaupt die Motivation zu erklären wäre, für seine politischen Überzeugungen öffentlich einzustehen, selbst dann noch, wenn dies nicht Erfolg und Anerkennung, sondern Schmähung oder gar Hass einbringt. Emotionen sind demnach in der Politik nicht nur unvermeidbar; sie sind sogar unverzichtbar. Da sie sich, wie ausgeführt, auf ihre Angemessenheit hin überprüfen lassen, ist das prima facie auch gar kein Problem. Kompliziert wird es einerseits dadurch, dass sie immer schon eingebettet sind in das Bewertungssystem einer Gesellschaft und Kultur, sodass es keinen „bystander point of view“ gibt. Das bedeutet, dass jede Bewertung immer schon vor dem Hintergrund eines spezifischen Wertesystems erfolgt – das sich aber die Frage gefallen lassen muss, ob es mit universellen menschlichen Werten vereinbar ist. Speziell in der Politik besteht andererseits ein Problem darin, dass es hier eben nicht nur um Angemessenheit und Wahrheit geht, sondern auch darum, den anderen auf die eigene Seite zu bringen; und im Fall politischer Parteien darum, die eigene Partei zu wählen. Dazu werden oftmals gezielt Emotionen evoziert, z.B. Angst vor Migration, gesellschaftlichem Abstieg oder Klimawandel. Ein konstruktiver Streit setzt dementsprechend voraus, den Zweck strategisch evozierter Emotionen zu identifizieren und kritisch zu prüfen, ob dieser Zweck hier möglicherweise den Blick auf die Tatsachen verstellt. Das Problem sind dabei nicht die Emotionen selbst, sondern ihre strategische Nutzung.

Dr. Sabine Döring ist Professorin mit dem Schwerpunkt „Praktische Philosophie“ an der Universität Tübingen.

Professor Joachim von Gottberg ist Chefredakteur der tv diskurs.