Erfahrungen Heranwachsender mit digitaler sexueller Gewalt

Daniel Hajok

Dr. Daniel Hajok ist Kommunikations- und Medienwissenschaftler, Honorarprofessor an der Universität Erfurt sowie Gründungsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Kindheit, Jugend und neue Medien (AKJM).

Längst steht auch die sexuelle Entwicklung Heranwachsender unter digitalen Vorzeichen. Denn so, wie das Soziale in das Netz gewandert ist, wird auch das Sexuelle zunehmend dort verhandelt. Die Rede ist längst nicht mehr nur von verfrühten Zugängen zu Internetpornografie und einem einvernehmlichen individualisierten erotischen (Bild-)Austausch. Es ist leider auch eine Zunahme digitaler sexueller Gewalterfahrungen junger Menschen zu konstatieren. Ein Überblick.

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 4/2022 (Ausgabe 102), S. 52-55

Vollständiger Beitrag als:

Zunehmend sexualisierter Austausch im Netz?

Mit digitalen Medien hat sich vor allem der kommunikative Austausch junger Menschen bekanntlich gewandelt. Auch wenn er immer seltener Face to Face erfolgt, ist das Soziale damit nicht verschwunden, sondern immer mehr ins Netz „gewandert“, zu den Messengerdiensten und Social-Media-Angeboten, die Jugendliche und bereits Kinder heute zu Artikulation und Selbstthematisierung, Austausch und Einholen von Feedback etablieren (Hajok 2021). Aktuell haben mit 6, 7 Jahren die meisten via Smartphone Zugang zur digitalen Welt. Mit 9 Jahren ist das Gros mit eigenem Gerät auf den Onlinediensten unterwegs. WhatsApp ist quasi zu Beginn als wichtigste App gesetzt. Mit 10, 11 Jahren nutzt jedes vierte Kind bereits TikTok, jedes sechste Snapchat und jedes elfte Instagram – an der Schwelle zum Jugendalter sind die meisten hier aktiv (Rohleder 2022).
 


Mit der Verhandlung des Sozialen im Netz haben auch sexualitätsbezogene Selbstdarstellungen und sexualisierte Austauschformen zunehmen de Bedeutung erlangt. Sie waren schon zu Beginn nicht unbedingt gezielte Grenzverletzung, sondern vielmehr Ausdruck einer Zeit, in der sich quasi in jede Interaktion ein Medium „schiebt“ und so auch ein sexualisierter Austausch zu einer „normalen“ Facette mediatisierter Alltagspraxis wird (Hoffmann/Reißmann 2014). Das Problem daran: Wie alles andere im Netz unterliegt auch dieser Austausch den spezifischen Bedingungen von Persistenz, Skalier- und Duplizierbarkeit. Einmal öffentlich gemacht, „vergisst“ das Netz die Dinge nun einmal nicht, macht sie jederzeit auffindbar, kopierbar und in andere Kontexte übertragbar, was mit spezifischen Risiken für die Identitätsbildung und sexuelle Entwicklung Heranwachsender verbunden ist (Hajok 2021).

Im Hinblick auf die intendierten, also beabsichtigten und selbst initiierten sexualitätsbezogenen Ausdrucksformen im Netz haben zwei Phänomene in den letzten Jahren eine besondere Bedeutung erlangt: Zum einen ist es bei Heranwachsen den der individualisierte Austausch von eigenem, selbst erstelltem erotischem (Bild‑)Material. Hier geht es um das sogenannte Sexting, das individualisiert und einvernehmlich unter Jugendlichen kein verbotenes, von der sexuellen Mündigkeit „gedecktes“, aber eben auch ein riskantes Austauschhandeln ist. Zum anderen sind es die freizügigen Selbstdarstellungen, mit denen Heranwachsende im Fall der sogenannten Posendarstellungen im Netz zuweilen selbst die Grenzen des Erlaubten überschreiten.
 


Das Netz „vergisst“ die Dinge nicht, sondern macht sie jederzeit auffindbar, kopierbar und in andere Kontexte übertragbar.



Von solchen intendierten Austauschformen abzugrenzen sind die verschiedenen Formen einer ungewollten, von Dritten initiierten sexuellen Kommunikation und Kontaktaufnahme. Auf sie wird der Beitrag nachfolgend fokussieren. Auch hier sind zwei Phänomene zu unterscheiden: zum einen die unerwünschten sexuellen Kontaktaufnahmen und Grenzverletzungen, die immer häufiger beim mediatisierten Austausch unter den Heranwachsenden selbst zu beobachten sind. Zum anderen das strafbewehrte Grooming, auch Cyber- bzw. Onlinegrooming genannt, bei dem (in engerer Sichtweise) Erwachsene gezielt sexuelle Kommunikation mit Minderjährigen (zumeist Kindern) führen, mit sexuellen Darstellungen auf sie einwirken oder solche von ihnen erlangen wollen (ebd.).

Beide Phänomene digitaler sexueller Gewalt beinhalten ganz unterschiedliche Formen nicht körperlicher sexueller Gewalt, mit denen die jungen Menschen auf ihren beliebten Onlinediensten immer häufiger konfrontiert werden. Hierunter gefasst werden in empirischen Studien vor allem die Erfahrungen Heranwachsender mit auf die eigene Person bezogenen sexuellen Kommentaren, Witzen, Beleidigungen und Belästigungen, die Konfrontation mit exhibitionistischen Handlungen und pornografischem Material durch Dritte sowie die Formen von Onlineviktimisierungen, etwa wenn die Heranwachsenden in ihren Social-Media-Welten sexuell angemacht und belästigt werden oder gegen ihren Willen intime Fotos und Filme (von ihnen) im Netz landen (Hofherr 2018; Maschke/Stecher 2018; Erkens u. a. 2021).
 

Sexuelle Grenzverletzungen unter Heranwachsenden

Trotz diverser Abgrenzungsprobleme aufgrund nach wie vor verbreiteter anonymer sexualisierter Kontaktaufnahmen im Netz steht mittlerweile außer Frage, dass beim mediatisierten Austausch Heranwachsender auch sexuelle Grenzverletzungen untereinander eine zunehmende Relevanz gewonnen haben und im Verlauf des Jugendalters weiter zunehmen. Auch zeigen die einschlägigen Studien, dass analog zu den Erfahrungen mit körperlicher sexueller Gewalt in den realweltlichen Settings Mädchen und junge Frauen auch von den Formen nicht körperlicher Gewalt deutlich häufiger betroffen sind als die männlichen Gleichaltrigen (zusammenfassend Hajok 2021).

Bei einer Ende 2016 in Hessen durchgeführten Befragung von Neunt- und Zehntklässler*innen etwa berichteten 55 % der Mädchen und 40 % der Jungen von entsprechenden Erfahrungen. Allein die sexuelle Anmache und Belästigung bei Facebook, Instagram, Snapchat etc. betraf hier bereits jede dritte Schülerin und jeden elften Schüler. Zudem wurde deutlich, dass wie bei den Formen körperlicher sexueller Gewalt auch bei den nicht körperlichen Formen in aller Regel männliche Personen die „Ausübenden“ sind und es sich in den wenigsten Fällen um fremde, sondern meist um Personen aus dem direkten Umfeld der Heranwachsenden (Mitschüler, Freunde, Bekannte, Ex-Partner etc.) handelt (Maschke/Stecher 2018).
 


Allein die sexuelle Anmache und Belästigung bei Facebook, Instagram, Snapchat etc. betraf hier bereits jede dritte Schülerin und jeden elften Schüler.



In der letzten Erhebung der bekannten BZgA-Studienreihe zur Jugendsexualität berichteten im Jahr 2019 fast jede vierte weibliche und jeder elfte männliche Heranwachsende im Alter zwischen 14 und 17 Jahren davon, selbst schon einmal bei Facebook, Instagram, Snapchat und Co. „sexuell angemacht oder belästigt“ worden zu sein (Erkens u. a. 2021). Im selben Jahr hatte nach den für die Gruppe der 12- bis 17-Jährigen repräsentativen Daten der letzten EU Kids Online-Befragung gut ein Drittel der Mädchen und knapp ein Viertel der Jungen die Erfahrung gemacht, online von jemandem nach sexuellen Dingen (Bilder/Videos vom Aussehen des Körpers, eigene sexuelle Erfahrungen etc.) gefragt worden zu sein, obwohl sie diese Fragen nicht beantworten wollten (Hasebrink u. a. 2019).  

Die Digital Na(t)ives-Wiederholungsbefragung von Schüler*innen der Klassenstufen 5 bis 10 im Emsland bestätigt nicht nur, dass die sexuellen Grenzverletzungen mit dem Alter zunehmen und vor allem an die weiblichen Heranwachsenden adressiert werden, sondern seit der ersten Erhebungswelle im Jahr 2015 weiter zugenommen haben. Wenn etwa die gezielten Anfragen nach Nacktbildern in den meisten Fällen von Unbekannten stammen bzw. von Personen, die die Heranwachsenden nicht real, sondern nur aus dem Netz „kennen“ (Hajok u. a. 2019), dann wird hier ein Präventionsbedarf offenkundig. Denn bereits Kinder agieren in dieser Hinsicht unbefangen und machen gar nicht so selten negative Erfahrungen mit unangenehmen Bekanntschaften im Netz (mpfs 2021).
 


Digitale sexuelle Gewalt in sehr vielen Fällen von Erwachsenen initiiert und überschreitet regelmäßig die Grenze zum strafbewehrten Grooming.



Abseits der gezielten Frage nach Nacktbildern speziell oder den (vermeintlich harmlosen) Fragen nach dem Aussehen oder der getragenen Bekleidung berichteten die Schüler*innen im Emsland auch von einer ungewollten Konfrontation mit explizitem Bild- oder Videomaterial. Dass dahinter in sehr vielen Fällen andere Heranwachsende, in den meisten Fällen aber Erwachsene stehen (Hajok u. a. 2019), verweist auf zwei wesentliche Aspekte: Zum einen spielt digitale sexuelle Gewalt unter Heranwachsenden eine nicht unerhebliche Rolle. Die (meist männlichen) Ausübenden sind nicht zuletzt im Kreis von Mitschülern, Freunden, Bekannten und Ex-Partnern zu suchen (Maschke/Stecher 2018). Zum anderen sind die Formen digitaler sexueller Gewalt in sehr vielen Fällen von Erwachsenen initiiert und überschreiten regelmäßig die Grenze zum strafbewehrten Grooming.
 

Digitale sexuelle Gewalt gegenüber Heranwachsenden

So, wie in den letzten Jahren die (polizeilich erfasste) körperliche sexuelle Gewalt gegen Minderjährige angestiegen ist, waren im Jahr 2021 auch bei der Verbreitung entsprechender Darstellungen im Netz und den Formen der nach § 176 Strafgesetzbuch strafbewehrten Grooming-Attacken neue Höchststände zu beklagen (Nolden 2022). Die erfassten Tatverdächtigen sind zu über 90 % männlich und mehrheitlich im (jungen) Erwachsenenalter. Nicht zuletzt aufgrund einer schlechten Vorsorge der Diensteanbieter sind gerade die beliebten Social-Media-Angebote, die bereits bei Kindern auf Interesse treffen, ein „Drehkreuz zur Vernetzung Pädosexueller“ und die wichtigste Stelle zur (ersten) Kontaktaufnahme, um die Kommunikation dann in die privaten Chats bei WhatsApp, Snapchat und Co. zu verlagern (Jugendschutz.net 2019).

Fakt ist: Grooming ist nach wie vor ein zentrales Problem in der digitalen Welt, das noch immer nicht die notwendige gesellschaftliche Aufmerksamkeit erfährt. Auch hierzulande werden immer mehr Heranwachsende damit konfrontiert und entsprechende Erfahrungen mit den vorverlagerten Zugängen zu Messengerdiensten und Social-Media-Angeboten immer früher gemacht (Hajok 2021). Im Zentrum stehen hier die anonymen Onlinesettings, bei denen sich unbekannte Dritte, deren Identität und Alter unklar sind, Zugang zu Minderjährigen verschaffen. Ein Viertel der Erfahrungen Minderjähriger mit nicht körperlicher sexueller Gewalt wird diesem Täterkreis zugeschrieben. Im Weiteren sind es Familienangehörige und andere erwachsene Personen, die den Heranwachsenden bekannt sind (Maschke/Stecher 2018).
 


Grooming ist ein zentrales Problem in der digitalen Welt, das noch immer nicht die notwendige gesellschaftliche Aufmerksamkeit erfährt.



Was die konkreten Erfahrungen Heranwachsender mit (von Erwachsenen initiierten) Grooming-Attacken betrifft, wurde erst kürzlich ein erschreckendes Bild gezeichnet. Ende des Jahres 2021 befragt, gab jede*r elfte 8- bis 9‑Jährige an, im Netz schon einen Erwachsenen kennengelernt zu haben, der sich mit ihr/ihm verabreden wollte. Jede*r Zwölfte in diesem Alter wurde demnach online bereits von einem Erwachsenen aufgefordert, sich vor der Webcam- oder Smartphone-Kamera auszuziehen. Und auch mit den anderen hier abgefragten Grooming-Formen (versprochene Geschenke für das Versenden von Fotos/Videos, Verabredung zu „Fotoshooting“, Zusendung von Nacktbildern, angedrohte Veröffentlichung von Bildmaterial) hatten vergleichsweise viele der befragten 8- bis 9-Jährigen bereits ihre Erfahrungen gemacht (LfM 2021).

Im Weiteren bestätigt sich in der Studie, dass diese (von Erwachsenen initiierten) sexuellen Gewalterfahrungen mit dem Alter der Heranwachsenden zunehmen (mit 10 bis 20 % Betroffenen an der Schwelle zum Jugendalter) und in erster Linie beim kommunikativen Austausch in den beliebten Diensten gemacht werden. Der Reihe nach: Instagram, WhatsApp, Snapchat und TikTok. Keineswegs selten machen die Heranwachsenden aber auch in ihren beliebten Spielwelten (FIFA 22, Minecraft, GTA 5 Online etc.) und den dort implementierten Chatfunktionen Erfahrungen mit Grooming (ebd.).

Letztlich zeigt sich auch bei den (von Erwachsenen initiierten) Grooming-Attacken sehr deutlich, dass die Gefahr für junge Menschen, mit digitaler sexueller Gewalt konfrontiert zu werden, gerade für diejenigen überaus „real“ ist, die (noch) nicht hinreichend von den Gefahren auf den beliebten Onlinediensten wissen und in ihrem Lebensumfeld (noch) keine angemessene Begleitung ihres Medienumgangs erfahren haben. Gefragt sind mehr denn je die präventivbefähigenden Zugänge, d. h.: über die Risiken eines sexualisierten Austauschs im Netz aufzuklären, grenzverletzendes Verhalten unter Heranwachsenden zu thematisieren, von „typischen“ Täterstrategien bei Grooming zu wissen, Selbstschutzmechanismen und Bewältigungsstrategien zu stärken und nicht zuletzt die gut gemachten Hilfs- und Unterstützungsangebote zu kennen.
 

Literatur:

Erkens, C./Scharmanski, S./Heßling, A.: Sexualisierte Gewalt in der Erfahrung Jugendlicher: Ergebnisse einer repräsentativen Befragung. In: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 11/2021/64, S. 1.382–1.390

Hajok, D.: Sexualisiertes Austauschhandeln Heranwachsender und sexuelle Gewalt im Netz. In: Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder und Jugend schutz (BAJ) (Hrsg.): Sexualisierte Gewalt in digitalen Medien. Berlin 2021, S. 36–53

Hajok, D./Siebert, P./Engling, U.: Digital Na(t)ives. Ergebnisse der Wiederholungsbefragung und Konsequenzen für den präventiven Jugendmedienschutz. In: JMSReport, 1/2019/42, S. 2–5

Hasebrink, U./Lampert, C./Thiel, K.: Online-Erfahrungen von 9- bis 17-Jährigen. Ergebnisse der EU Kids Online-Befragung in Deutschland 2019. Hamburg 2019

Hoffmann, D./Reißmann, W.: Jugend und Sexualität. Überlegungen zur Sozialisation in Onund Offlinewelten. In: deutsche jugend, 12/2014/62, S. 513–520

Hofherr, S.: Sexuelle Gewalterfahrungen von Schülerinnen und Schülern und sexuelle Gewalt als Thema in der Schule. In: BZgAForum, 2/2018, S. 34–37

Jugendschutz.net: Sexualisierte Gewalt online. Kinder und Jugendliche besser vor Übergriffen und Missbrauch schützen. Mainz 2019

LfM (Landesanstalt für Medien NRW): Kinder und Jugendliche als Opfer von Cybergrooming. Zentrale Ergebnisse der 1. Befragungswelle 2021. Hamburg 2021. Abrufbar unter: https://www.medienanstalt-nrw.de (letzter Zugriff: 22.09.2022)

Maschke, S./Stecher, L.: Sexuelle Gewalt: Erfahrungen Jugendlicher heute. Weinheim/Basel 2018

mpfs (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest): KIMStudie 2020. Kindheit, Internet, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang
6- bis 13-Jähriger in Deutschland
. Stuttgart 2021

Nolden, D.: Darstellungen sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen. In: JMSReport, 3/2022/45, S.  9–10

Rohleder, B.: Kinder& Jugendstudie 2022. Berlin 2022. Abrufbar unter: https://www.bitkom.org